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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Lichsfelder Arbeiter.

In jedem neuen Jahre, "sobald die ersten Lerchen schwirren," rüstet sich
die unverheiratete weibliche Einwohnerschaft der Dörfer des Eichsfeldes "in die
Welt zu gehen," wie man dort sagt. Schon gleich nach Weihnachten suchen
Verwalter und Agenten der größern Güter, der Zuckerfabriken Sachsens, Han¬
novers, Westfalens die Mädchen in ihren Dörfern auf, um durch festen Kontrakt
für die bevorstehende Bestcllungs- und Erntezeit, für die "Nübenkampagne"
-- wie man jetzt so geschmackvoll sagt -- sich Arbeitskräfte zu sichern. Da
entsteht dann gewissermaßen ein Wettbewerb um die tüchtigsten und stärksten
Mädchen. Der gewöhnliche Weg ist der, daß der Anwerber die Wanderlustigen
durch den Polizeidiener in das Wirtshaus des Ortes entbietet. Dort heißt
es nun, die Mädchen zu überreden, sich für ihn und keinen andern zu ver¬
pflichten: zuerst wird die Hohe des Arbeitslohnes vereinbart, durchschnittlich
eine Mark sür den Arbeitstag. Außer diesem Gcldlvhne beanspruchen aber die
Arbeiterinnen noch mancherlei andres. So begegnete es einem Verwalter eines
größer" Gutes der Paderborner Gegend, daß die Mädchen sich nur verpflichten
wollten gegen die in den Kontrakt aufzunehmende Zusicherung, daß sie nicht
etwa auf Strohsäcken, sondern auf Sprungfedermatratzen schlafen würden, ein
Ansinnen, dem leider nicht Folge gegeben werden konnte. Auch "Zucker in den
Kaffee" ist keine seltne Forderung. Es wird wenigstens probirt. Hie und da
gelingt es auch einmal, etwas außergewöhnliches durchzusetzen. Zugestanden
wird in der Regel neben dein genannten Geldlohn: morgens eine Mehlsuppe
oder Kaffee, mittags warmes Essen mit Fleisch, desgleichen abends, jedoch ge¬
wöhnlich ohne Fleisch, außerdem für den Kopf täglich 1 bis I ^/z Liter Milch.
'Brot und Butter und etwaige andre Bedürfnisse haben die Arbeiterinnen aus
eignen Mitteln zu beschaffen. Die Schlafräume, die den Leuten zugewiesen
werden, lassen leider oft viel zu wünschen übrig; zehn bis fünfzehn Mädchen
werden bisweilen in feuchten, kellerartigen Räumen zusammengepfercht. Doch
gewährt Selbsthilfe meistens erfolgreichste und schnellste Remedur. Die EichS-
feldcr scheuen derartige Güter und Zuckerfabriken und siud nicht leicht zu be¬
wegen, im nächsten Jahre dorthin zurückzukehren, wenn sie nicht schon mitten
in der "Kampagne" oder Erntezeit auf- und davonlaufen. So ist es nicht
selten, daß ein Gut, oftmals eine ganze Gegend, von den Eichsfelderu gleichsam
in Verruf erklärt wird, weil dort die Behandlung und die Beaufsichtigung
strenger und dabei das Essen nicht so gut ist wie anderswo. In den Winter-
monaten, in denen die Arbeiterinnen wieder in ihren Eichsfelder Dörfern weilen,
bietet sich genug Zeit und Gelegenheit, sich untereinander und von Dorf zu
Dorf zu verständigen, gute und schlechte Erfahrungen, die während des Sommers
auf diesem und jenem Gute gemacht worden sind, einander mitzuteilen, sodaß
im Frühjahr jedes Mädchen weiß, wo es gut und wo es schlecht ankommen wird.

Seit die Znckeriudustrie zu Anfang unsers Jahrzehnts einen so gewaltigen
Aufschwung genommen hat, ist die Nachfrage nach geschulten, mit der BeHand-


Lichsfelder Arbeiter.

In jedem neuen Jahre, „sobald die ersten Lerchen schwirren," rüstet sich
die unverheiratete weibliche Einwohnerschaft der Dörfer des Eichsfeldes „in die
Welt zu gehen," wie man dort sagt. Schon gleich nach Weihnachten suchen
Verwalter und Agenten der größern Güter, der Zuckerfabriken Sachsens, Han¬
novers, Westfalens die Mädchen in ihren Dörfern auf, um durch festen Kontrakt
für die bevorstehende Bestcllungs- und Erntezeit, für die „Nübenkampagne"
— wie man jetzt so geschmackvoll sagt — sich Arbeitskräfte zu sichern. Da
entsteht dann gewissermaßen ein Wettbewerb um die tüchtigsten und stärksten
Mädchen. Der gewöhnliche Weg ist der, daß der Anwerber die Wanderlustigen
durch den Polizeidiener in das Wirtshaus des Ortes entbietet. Dort heißt
es nun, die Mädchen zu überreden, sich für ihn und keinen andern zu ver¬
pflichten: zuerst wird die Hohe des Arbeitslohnes vereinbart, durchschnittlich
eine Mark sür den Arbeitstag. Außer diesem Gcldlvhne beanspruchen aber die
Arbeiterinnen noch mancherlei andres. So begegnete es einem Verwalter eines
größer» Gutes der Paderborner Gegend, daß die Mädchen sich nur verpflichten
wollten gegen die in den Kontrakt aufzunehmende Zusicherung, daß sie nicht
etwa auf Strohsäcken, sondern auf Sprungfedermatratzen schlafen würden, ein
Ansinnen, dem leider nicht Folge gegeben werden konnte. Auch „Zucker in den
Kaffee" ist keine seltne Forderung. Es wird wenigstens probirt. Hie und da
gelingt es auch einmal, etwas außergewöhnliches durchzusetzen. Zugestanden
wird in der Regel neben dein genannten Geldlohn: morgens eine Mehlsuppe
oder Kaffee, mittags warmes Essen mit Fleisch, desgleichen abends, jedoch ge¬
wöhnlich ohne Fleisch, außerdem für den Kopf täglich 1 bis I ^/z Liter Milch.
'Brot und Butter und etwaige andre Bedürfnisse haben die Arbeiterinnen aus
eignen Mitteln zu beschaffen. Die Schlafräume, die den Leuten zugewiesen
werden, lassen leider oft viel zu wünschen übrig; zehn bis fünfzehn Mädchen
werden bisweilen in feuchten, kellerartigen Räumen zusammengepfercht. Doch
gewährt Selbsthilfe meistens erfolgreichste und schnellste Remedur. Die EichS-
feldcr scheuen derartige Güter und Zuckerfabriken und siud nicht leicht zu be¬
wegen, im nächsten Jahre dorthin zurückzukehren, wenn sie nicht schon mitten
in der „Kampagne" oder Erntezeit auf- und davonlaufen. So ist es nicht
selten, daß ein Gut, oftmals eine ganze Gegend, von den Eichsfelderu gleichsam
in Verruf erklärt wird, weil dort die Behandlung und die Beaufsichtigung
strenger und dabei das Essen nicht so gut ist wie anderswo. In den Winter-
monaten, in denen die Arbeiterinnen wieder in ihren Eichsfelder Dörfern weilen,
bietet sich genug Zeit und Gelegenheit, sich untereinander und von Dorf zu
Dorf zu verständigen, gute und schlechte Erfahrungen, die während des Sommers
auf diesem und jenem Gute gemacht worden sind, einander mitzuteilen, sodaß
im Frühjahr jedes Mädchen weiß, wo es gut und wo es schlecht ankommen wird.

Seit die Znckeriudustrie zu Anfang unsers Jahrzehnts einen so gewaltigen
Aufschwung genommen hat, ist die Nachfrage nach geschulten, mit der BeHand-


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[0268] Lichsfelder Arbeiter. In jedem neuen Jahre, „sobald die ersten Lerchen schwirren," rüstet sich die unverheiratete weibliche Einwohnerschaft der Dörfer des Eichsfeldes „in die Welt zu gehen," wie man dort sagt. Schon gleich nach Weihnachten suchen Verwalter und Agenten der größern Güter, der Zuckerfabriken Sachsens, Han¬ novers, Westfalens die Mädchen in ihren Dörfern auf, um durch festen Kontrakt für die bevorstehende Bestcllungs- und Erntezeit, für die „Nübenkampagne" — wie man jetzt so geschmackvoll sagt — sich Arbeitskräfte zu sichern. Da entsteht dann gewissermaßen ein Wettbewerb um die tüchtigsten und stärksten Mädchen. Der gewöhnliche Weg ist der, daß der Anwerber die Wanderlustigen durch den Polizeidiener in das Wirtshaus des Ortes entbietet. Dort heißt es nun, die Mädchen zu überreden, sich für ihn und keinen andern zu ver¬ pflichten: zuerst wird die Hohe des Arbeitslohnes vereinbart, durchschnittlich eine Mark sür den Arbeitstag. Außer diesem Gcldlvhne beanspruchen aber die Arbeiterinnen noch mancherlei andres. So begegnete es einem Verwalter eines größer» Gutes der Paderborner Gegend, daß die Mädchen sich nur verpflichten wollten gegen die in den Kontrakt aufzunehmende Zusicherung, daß sie nicht etwa auf Strohsäcken, sondern auf Sprungfedermatratzen schlafen würden, ein Ansinnen, dem leider nicht Folge gegeben werden konnte. Auch „Zucker in den Kaffee" ist keine seltne Forderung. Es wird wenigstens probirt. Hie und da gelingt es auch einmal, etwas außergewöhnliches durchzusetzen. Zugestanden wird in der Regel neben dein genannten Geldlohn: morgens eine Mehlsuppe oder Kaffee, mittags warmes Essen mit Fleisch, desgleichen abends, jedoch ge¬ wöhnlich ohne Fleisch, außerdem für den Kopf täglich 1 bis I ^/z Liter Milch. 'Brot und Butter und etwaige andre Bedürfnisse haben die Arbeiterinnen aus eignen Mitteln zu beschaffen. Die Schlafräume, die den Leuten zugewiesen werden, lassen leider oft viel zu wünschen übrig; zehn bis fünfzehn Mädchen werden bisweilen in feuchten, kellerartigen Räumen zusammengepfercht. Doch gewährt Selbsthilfe meistens erfolgreichste und schnellste Remedur. Die EichS- feldcr scheuen derartige Güter und Zuckerfabriken und siud nicht leicht zu be¬ wegen, im nächsten Jahre dorthin zurückzukehren, wenn sie nicht schon mitten in der „Kampagne" oder Erntezeit auf- und davonlaufen. So ist es nicht selten, daß ein Gut, oftmals eine ganze Gegend, von den Eichsfelderu gleichsam in Verruf erklärt wird, weil dort die Behandlung und die Beaufsichtigung strenger und dabei das Essen nicht so gut ist wie anderswo. In den Winter- monaten, in denen die Arbeiterinnen wieder in ihren Eichsfelder Dörfern weilen, bietet sich genug Zeit und Gelegenheit, sich untereinander und von Dorf zu Dorf zu verständigen, gute und schlechte Erfahrungen, die während des Sommers auf diesem und jenem Gute gemacht worden sind, einander mitzuteilen, sodaß im Frühjahr jedes Mädchen weiß, wo es gut und wo es schlecht ankommen wird. Seit die Znckeriudustrie zu Anfang unsers Jahrzehnts einen so gewaltigen Aufschwung genommen hat, ist die Nachfrage nach geschulten, mit der BeHand-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/268>, abgerufen am 01.09.2024.