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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Das Wachstum Berlins und der Mcmrerstreik.

einreden läßt, der ganze gegenwärtige Aufschwung der Bauthätigkeit in Berlin
komme nur davon her, daß angesichts der drohenden neuen Bauordnung die
Leute schnell noch soviel wie möglich hätten fertig bauen wollen! Kann man
Ursache und Wirkung toller verwechseln?

Sind nun die Berliner rettungslos dem Schicksale verfallen, Mietsklaven
der Hausbesitzer zu sein und von allem mühsam erarbeiteten Einkommen wie
zu Anfang der siebziger Jahre ein Drittel für die Wohnung opfern zu müssen?
und ist die Mietkaserne die unerläßliche Form für alles, was noch als neues
Berlin entstehen kann? Leider: ja! sofern der Berliner nicht einen guten Teil
seiner Natur ändert. Denn der Durchschnittsberliner ist ein wahrer Fanatiker
seiner elenden Mietsetage, die es ihm ermöglicht, jeden Tag ein paarmal über
die benachbarten Trottoirs zu flaniren und einen flüchtigen Blick ans die
Ladenauslagen zu werfen, die ihn da von allen Seiten umgeben, und von wo
aus er immer mit leichter Mühe einen Pferdebahnwagen findet, der ihn zu irgend
einem sich als "Vergnügen" oder "Unterhaltung" betitelten Gewühl bringt. Daß
der Mensch das krampfhafte Jagen nach dieser Klasse angeblicher Vergnügungen
entbehren oder doch auf bestimmte Tage beschränken könnte -- der Gedanke ist
ihm furchtbar. Darum, weil der vermeintlich so fortschrittliche Berliner in dieser
Sache wie in allen Angelegenheiten feines sozialen Lebens mit so unerschütter¬
licher, konservativer Treue an seiner ärmlichen Mietsetage hängt, ist es nirgendwo
so schwer wie in Berlin, dem Gedanken des Einfamilienhauses Eingang zu ver¬
schaffen. Gegen eine "Sommerwohnung" zwar hat der Berliner, sogar der An¬
gehörige der untern Mittelklassen, nichts einzuwenden, er hat im Gegenteil eine
starke Neigung dazu, im Sommer sür einen Spottpreis in einem benachbarten
Orte zu wohnen und sich hier hinsichtlich der von ihm benutzten Räume noch
mehr einzuschränken, wie er dies ohnehin gewöhnt ist; aber ständig außerhalb
der geliebten Trottoirs zu wohnen -- dazu entschließt er sich nur äußerst
schwer. Es sind zwar verschiedne Anläufe unternommen worden, um den Ber¬
linern den Besitz eiues Einfamilienhauses mit Garten in einem der bequem zu
erreichenden Berliner Vororte zu ermöglichen; die Gründung von Lichterfelde,
dann die von Westend u. ni. stellen solche Anläufe dar, und man kann auch
nicht sagen, daß die Gelegenheit unbenutzt geblieben oder die ganze Sache fehl¬
geschlagen wäre. Aber die Eigenart des Berliners und der Berliner Verhältnisse
stellte tausend Hemmnisse in den Weg. Zuerst begriff man nicht, warum man,
wenn man denn doch ein Haus baue, denn nicht gleich eins wenigstens für
zwei, womöglich für vier Familien bauen sollte; dafür, daß man sich mit jeder
Abweichung von dem Prinzip des Einfamilienhauses in bauliche und geschäftliche
Schwierigkeiten einläßt, denen nur wenige gewachsen waren, hatte man lange kein
Verständnis. Dann kamen der Krach und die ihm folgende maßlose Ängstlichkeit;
um nur um des Himmels Willen keine Wohnung leerstehcn zu haben, vermietete
man zu wahren Schundpreisen und gewöhnte dadurch an die billigen Sommerwoh-


Das Wachstum Berlins und der Mcmrerstreik.

einreden läßt, der ganze gegenwärtige Aufschwung der Bauthätigkeit in Berlin
komme nur davon her, daß angesichts der drohenden neuen Bauordnung die
Leute schnell noch soviel wie möglich hätten fertig bauen wollen! Kann man
Ursache und Wirkung toller verwechseln?

Sind nun die Berliner rettungslos dem Schicksale verfallen, Mietsklaven
der Hausbesitzer zu sein und von allem mühsam erarbeiteten Einkommen wie
zu Anfang der siebziger Jahre ein Drittel für die Wohnung opfern zu müssen?
und ist die Mietkaserne die unerläßliche Form für alles, was noch als neues
Berlin entstehen kann? Leider: ja! sofern der Berliner nicht einen guten Teil
seiner Natur ändert. Denn der Durchschnittsberliner ist ein wahrer Fanatiker
seiner elenden Mietsetage, die es ihm ermöglicht, jeden Tag ein paarmal über
die benachbarten Trottoirs zu flaniren und einen flüchtigen Blick ans die
Ladenauslagen zu werfen, die ihn da von allen Seiten umgeben, und von wo
aus er immer mit leichter Mühe einen Pferdebahnwagen findet, der ihn zu irgend
einem sich als „Vergnügen" oder „Unterhaltung" betitelten Gewühl bringt. Daß
der Mensch das krampfhafte Jagen nach dieser Klasse angeblicher Vergnügungen
entbehren oder doch auf bestimmte Tage beschränken könnte — der Gedanke ist
ihm furchtbar. Darum, weil der vermeintlich so fortschrittliche Berliner in dieser
Sache wie in allen Angelegenheiten feines sozialen Lebens mit so unerschütter¬
licher, konservativer Treue an seiner ärmlichen Mietsetage hängt, ist es nirgendwo
so schwer wie in Berlin, dem Gedanken des Einfamilienhauses Eingang zu ver¬
schaffen. Gegen eine „Sommerwohnung" zwar hat der Berliner, sogar der An¬
gehörige der untern Mittelklassen, nichts einzuwenden, er hat im Gegenteil eine
starke Neigung dazu, im Sommer sür einen Spottpreis in einem benachbarten
Orte zu wohnen und sich hier hinsichtlich der von ihm benutzten Räume noch
mehr einzuschränken, wie er dies ohnehin gewöhnt ist; aber ständig außerhalb
der geliebten Trottoirs zu wohnen — dazu entschließt er sich nur äußerst
schwer. Es sind zwar verschiedne Anläufe unternommen worden, um den Ber¬
linern den Besitz eiues Einfamilienhauses mit Garten in einem der bequem zu
erreichenden Berliner Vororte zu ermöglichen; die Gründung von Lichterfelde,
dann die von Westend u. ni. stellen solche Anläufe dar, und man kann auch
nicht sagen, daß die Gelegenheit unbenutzt geblieben oder die ganze Sache fehl¬
geschlagen wäre. Aber die Eigenart des Berliners und der Berliner Verhältnisse
stellte tausend Hemmnisse in den Weg. Zuerst begriff man nicht, warum man,
wenn man denn doch ein Haus baue, denn nicht gleich eins wenigstens für
zwei, womöglich für vier Familien bauen sollte; dafür, daß man sich mit jeder
Abweichung von dem Prinzip des Einfamilienhauses in bauliche und geschäftliche
Schwierigkeiten einläßt, denen nur wenige gewachsen waren, hatte man lange kein
Verständnis. Dann kamen der Krach und die ihm folgende maßlose Ängstlichkeit;
um nur um des Himmels Willen keine Wohnung leerstehcn zu haben, vermietete
man zu wahren Schundpreisen und gewöhnte dadurch an die billigen Sommerwoh-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/220>, abgerufen am 01.09.2024.