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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Das Wachstum Berlins und der Maurorstroik.

nur auf ihn, gehen nun die Wohnungen des Hinterhauses, und man kann sich
denken, was das für Aufenthaltsorte, für "Heimstätten" ungezählter Familien
sind. Hie und da finden sich in einem Häuserblock Wohl noch Gärten, in welche
man wenigstens vom dritten und vierten Stock aus den Blick gewinnt; aber
sie sind selten geworden und schmelzen mit jedem Jahre mehr zusammen. Auch
die kleinen Häuser, die in einigen selbst ältern Straßen vor Jahren anzutreffen
waren und die auch nach innen zu die trostlose Einförmigkeit doch einigermaßen
unterbrachen, werden immer vereinzelter. Draußen, im Westen, giebt es einige
Straßen, die mit villenartigen Gebäuden durchsetzt sind, einige Straßen gegen
das Innere zu tragen nach Anlage und Einrichtung einen vornehmeren, wohn¬
licheren Charakter, in der neuen Kaiserstraße wird für ähnliches gesorgt werden;
aber wie unbedeutend ist das im Vergleich mit den Häuserwüsten, die sich in
manchen Stadtteilen von einer Straße her über eine ganze Reihe von Straßen
hinweg ohne Unterbrechung ausdehnen! Daß da die Gesundheitsergebnisse keine
glänzenden sein können, läßt sich denken. Alljährlich im Sommer giebt es eine
Periode, während deren in Berlin mehr Menschen sterben als geboren werden;
notorisch sind es namentlich die Säuglinge, überhaupt kleinen Kinder, welche
das Hauptkontingent zu diesem Todestribut stellen. Es geschieht dies alljährlich
während der heißesten Jahreszeit, sodaß der Zusammenhang der Wohnungs¬
zustände mit dieser furchtbar gesteigerten Sterblichkeit unverkennbar ist. Wie
mag die Luft in den geschilderten Höfen während der Tropenhitze, die wir
dieses Jahr hatten, gewesen sein! In einer Jnliwoche dieses Jahres sind
898 Kinder geboren worden, 946 Todesfälle vorgekommen; sonst beträgt der
Überschuß der Gebornen durchschnittlich 250, in dieser Woche sind also drei¬
hundert Menschen an Berlin gestorben! Ist das nicht grauenhaft?

Da kam denn endlich der Entwurf einer neuen Bauordnung; von allem
neu zu bedauerten Terrain, auch wenn dasselbe schon bebaut gewesen war,
sollten jetzt nicht mehr als zwei Drittteile überbaut, der Rest zu Höfen oder
ähnlichen Zwecken verwendet werden. Aber das Interesse derer, die am liebsten
garnicht in der Ausnutzung des Terrains behindert sein möchten oder doch
jedenfalls den jetzigen Zustand gern noch auf einige Zeit verlängert hätten,
erwies sich mächtig genug, um der neuen Bauordnung wenn auch nicht ein
"Zurück!", so doch ein "Langsam, langsam!'" zuzurufen. Einen Sommer hat
man jetzt glücklich mit Deliberiren zugebracht, und vielleicht wäre es ohne den
Maurerstreik gelungen, noch einen zweiten heranrücken und vorübergehen zu
lassen. Jetzt aber, wo sich die drängende Wucht des Bedürfnisses nicht mehr
eindämmen lassen wird, hat auch dieser Punkt seine Gewalt verloren, und wir
glauben hoffen zu dürfen, daß die Regierung eine neue Periode der Bauwut
und der wilden Bauspekulation einfach nicht dulden wird, ohne daß die ärgsten
Mißbräuche, die ärgsten Sünden gegen das künftige Berlin unmöglich ge¬
macht sind. Das Publikum außerhalb Berlins ist so urteilslos, daß es sich


Das Wachstum Berlins und der Maurorstroik.

nur auf ihn, gehen nun die Wohnungen des Hinterhauses, und man kann sich
denken, was das für Aufenthaltsorte, für „Heimstätten" ungezählter Familien
sind. Hie und da finden sich in einem Häuserblock Wohl noch Gärten, in welche
man wenigstens vom dritten und vierten Stock aus den Blick gewinnt; aber
sie sind selten geworden und schmelzen mit jedem Jahre mehr zusammen. Auch
die kleinen Häuser, die in einigen selbst ältern Straßen vor Jahren anzutreffen
waren und die auch nach innen zu die trostlose Einförmigkeit doch einigermaßen
unterbrachen, werden immer vereinzelter. Draußen, im Westen, giebt es einige
Straßen, die mit villenartigen Gebäuden durchsetzt sind, einige Straßen gegen
das Innere zu tragen nach Anlage und Einrichtung einen vornehmeren, wohn¬
licheren Charakter, in der neuen Kaiserstraße wird für ähnliches gesorgt werden;
aber wie unbedeutend ist das im Vergleich mit den Häuserwüsten, die sich in
manchen Stadtteilen von einer Straße her über eine ganze Reihe von Straßen
hinweg ohne Unterbrechung ausdehnen! Daß da die Gesundheitsergebnisse keine
glänzenden sein können, läßt sich denken. Alljährlich im Sommer giebt es eine
Periode, während deren in Berlin mehr Menschen sterben als geboren werden;
notorisch sind es namentlich die Säuglinge, überhaupt kleinen Kinder, welche
das Hauptkontingent zu diesem Todestribut stellen. Es geschieht dies alljährlich
während der heißesten Jahreszeit, sodaß der Zusammenhang der Wohnungs¬
zustände mit dieser furchtbar gesteigerten Sterblichkeit unverkennbar ist. Wie
mag die Luft in den geschilderten Höfen während der Tropenhitze, die wir
dieses Jahr hatten, gewesen sein! In einer Jnliwoche dieses Jahres sind
898 Kinder geboren worden, 946 Todesfälle vorgekommen; sonst beträgt der
Überschuß der Gebornen durchschnittlich 250, in dieser Woche sind also drei¬
hundert Menschen an Berlin gestorben! Ist das nicht grauenhaft?

Da kam denn endlich der Entwurf einer neuen Bauordnung; von allem
neu zu bedauerten Terrain, auch wenn dasselbe schon bebaut gewesen war,
sollten jetzt nicht mehr als zwei Drittteile überbaut, der Rest zu Höfen oder
ähnlichen Zwecken verwendet werden. Aber das Interesse derer, die am liebsten
garnicht in der Ausnutzung des Terrains behindert sein möchten oder doch
jedenfalls den jetzigen Zustand gern noch auf einige Zeit verlängert hätten,
erwies sich mächtig genug, um der neuen Bauordnung wenn auch nicht ein
„Zurück!", so doch ein „Langsam, langsam!'" zuzurufen. Einen Sommer hat
man jetzt glücklich mit Deliberiren zugebracht, und vielleicht wäre es ohne den
Maurerstreik gelungen, noch einen zweiten heranrücken und vorübergehen zu
lassen. Jetzt aber, wo sich die drängende Wucht des Bedürfnisses nicht mehr
eindämmen lassen wird, hat auch dieser Punkt seine Gewalt verloren, und wir
glauben hoffen zu dürfen, daß die Regierung eine neue Periode der Bauwut
und der wilden Bauspekulation einfach nicht dulden wird, ohne daß die ärgsten
Mißbräuche, die ärgsten Sünden gegen das künftige Berlin unmöglich ge¬
macht sind. Das Publikum außerhalb Berlins ist so urteilslos, daß es sich


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[0219] Das Wachstum Berlins und der Maurorstroik. nur auf ihn, gehen nun die Wohnungen des Hinterhauses, und man kann sich denken, was das für Aufenthaltsorte, für „Heimstätten" ungezählter Familien sind. Hie und da finden sich in einem Häuserblock Wohl noch Gärten, in welche man wenigstens vom dritten und vierten Stock aus den Blick gewinnt; aber sie sind selten geworden und schmelzen mit jedem Jahre mehr zusammen. Auch die kleinen Häuser, die in einigen selbst ältern Straßen vor Jahren anzutreffen waren und die auch nach innen zu die trostlose Einförmigkeit doch einigermaßen unterbrachen, werden immer vereinzelter. Draußen, im Westen, giebt es einige Straßen, die mit villenartigen Gebäuden durchsetzt sind, einige Straßen gegen das Innere zu tragen nach Anlage und Einrichtung einen vornehmeren, wohn¬ licheren Charakter, in der neuen Kaiserstraße wird für ähnliches gesorgt werden; aber wie unbedeutend ist das im Vergleich mit den Häuserwüsten, die sich in manchen Stadtteilen von einer Straße her über eine ganze Reihe von Straßen hinweg ohne Unterbrechung ausdehnen! Daß da die Gesundheitsergebnisse keine glänzenden sein können, läßt sich denken. Alljährlich im Sommer giebt es eine Periode, während deren in Berlin mehr Menschen sterben als geboren werden; notorisch sind es namentlich die Säuglinge, überhaupt kleinen Kinder, welche das Hauptkontingent zu diesem Todestribut stellen. Es geschieht dies alljährlich während der heißesten Jahreszeit, sodaß der Zusammenhang der Wohnungs¬ zustände mit dieser furchtbar gesteigerten Sterblichkeit unverkennbar ist. Wie mag die Luft in den geschilderten Höfen während der Tropenhitze, die wir dieses Jahr hatten, gewesen sein! In einer Jnliwoche dieses Jahres sind 898 Kinder geboren worden, 946 Todesfälle vorgekommen; sonst beträgt der Überschuß der Gebornen durchschnittlich 250, in dieser Woche sind also drei¬ hundert Menschen an Berlin gestorben! Ist das nicht grauenhaft? Da kam denn endlich der Entwurf einer neuen Bauordnung; von allem neu zu bedauerten Terrain, auch wenn dasselbe schon bebaut gewesen war, sollten jetzt nicht mehr als zwei Drittteile überbaut, der Rest zu Höfen oder ähnlichen Zwecken verwendet werden. Aber das Interesse derer, die am liebsten garnicht in der Ausnutzung des Terrains behindert sein möchten oder doch jedenfalls den jetzigen Zustand gern noch auf einige Zeit verlängert hätten, erwies sich mächtig genug, um der neuen Bauordnung wenn auch nicht ein „Zurück!", so doch ein „Langsam, langsam!'" zuzurufen. Einen Sommer hat man jetzt glücklich mit Deliberiren zugebracht, und vielleicht wäre es ohne den Maurerstreik gelungen, noch einen zweiten heranrücken und vorübergehen zu lassen. Jetzt aber, wo sich die drängende Wucht des Bedürfnisses nicht mehr eindämmen lassen wird, hat auch dieser Punkt seine Gewalt verloren, und wir glauben hoffen zu dürfen, daß die Regierung eine neue Periode der Bauwut und der wilden Bauspekulation einfach nicht dulden wird, ohne daß die ärgsten Mißbräuche, die ärgsten Sünden gegen das künftige Berlin unmöglich ge¬ macht sind. Das Publikum außerhalb Berlins ist so urteilslos, daß es sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/219>, abgerufen am 21.11.2024.