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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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gesprochen und gestritten wird, würde 50 000 Seelen zuführen, Schöneberg
ist schon so gut wie zusammengewachsen mit Berlin, Die "Provinz Berlin,"
das heißt der ganze in: täglichen Verkehr auf Berlin angewiesene und hinsicht¬
lich der unendlichen Masse seiner Interessen von Berlin garnicht zu trennende
Bezirk, zählt heute schon uicht viel weniger als zwei Millionen Einwohner!

Nun läßt sich allerdings hierauf erwiedern, daß für die Millionenstadt auch
einmal der Punkt ^Minnen werde, wo ihr Wachstum sich nicht mehr in gleicher,
sondern in stetig schwächer werdender Proportion vollzieht, wie man dies bei
London und Paris in der That beobachten kann. Es ist wahr, daß die Gründe,
um deretwillen man die Großstadt aussticht: das Beisammensein vieler Ge¬
schäfte und Geschäftsvorteile und außerdem vieler Annehmlichkeiten, sich ver¬
ändern oder sich schließlich gar in ihr Gegenteil verkehren können, je mehr die
Städte sich zu solche" Stadtnngehcueru wie London aufwachsen, und daß dabei
die Schattenseiten der großstädtischen Verhältnisse Dimensionen annehmen, welche
schließlich eine geradezu abschreckende oder anstreibende Wirkung ausüben müßten.
Aber jeder'Kenner von Berlin, Berliner Geschäften und Berliner Zuständen
wird bestätigen, daß dieser "Sättigungspunkt" für Berlin bei weitem noch nicht
erreicht ist, und daß innere Gründe, aus denen für die nächste Zeit auf einen
Rückgang in der geschäftlichen Entwicklung Berlins geschlossen werden könnte,
entschieden nicht vorliegen. Anders verhält es sich mit Paris, hier findet allem
Anscheine nach von innen heraus ein Rückgang statt, weil das Leben zu teuer,
die Konkurrenz mit dein Auslande zu schwer wird, in der Arbeiterwelt aber
wohl eine Steigerung des Bedarfs, uicht aber eine solche der technischen und
künstlerischen Leistungsfähigkeit stattfindet, Darum steht ja in gewissem Sinne
der Rückgang von Paris in unmittelbarster Wechselwirkung mit dem Aufschwünge
von Berlin. Das Lange und Kurze an der Sache ist, daß Frankreich als
Staat, als Volk und als Wirtschaftsgebiet zurückgeht, während Deutschland sich
im großen und ganzen, geistig wie geschäftlich in aufsteigender Linie befindet.
Darum kann das Beispiel von Paris hier nicht herangezogen werden. Selbst
hinsichtlich Londons ließe sich, freilich in beschränkterem Sinne, ähnliches sage"?.
Jedenfalls darf es als feststehend gelten, daß noch eine ziemliche EntwicklnngS-
Periode abgelaufen sein oder eine ganz außerordentliche, zur Zeit nicht zu er¬
wartende Verkettung ungünstiger Umstände eintreten muß, ehe das jetzige Wachs¬
tum Berlins ins Stocken kommt.

Seit Anfang dieses Jahrzehnts kann man, nachdem fünf bis sechs Jahre
lang in Berlin eine eigentliche Vauthätigkeit garnicht stattgefunden hatte, wieder
von einer solchen sprechen. Die Ursache ist bekannt. Nicht sowohl die Menge
als vielmehr die Qualität der Wohnungen war während der Gründnngsperivde
in einem über das reelle, bleibende Bedürfnis kolossal hinausgehenden Maße
gesteigert worden; Prachtlogis, herrschaftliche Räume wurden zu jener Zeit
massenhaft errichtet, einfache Familienwohnungen so gut wie keine, sodaß in der


gesprochen und gestritten wird, würde 50 000 Seelen zuführen, Schöneberg
ist schon so gut wie zusammengewachsen mit Berlin, Die „Provinz Berlin,"
das heißt der ganze in: täglichen Verkehr auf Berlin angewiesene und hinsicht¬
lich der unendlichen Masse seiner Interessen von Berlin garnicht zu trennende
Bezirk, zählt heute schon uicht viel weniger als zwei Millionen Einwohner!

Nun läßt sich allerdings hierauf erwiedern, daß für die Millionenstadt auch
einmal der Punkt ^Minnen werde, wo ihr Wachstum sich nicht mehr in gleicher,
sondern in stetig schwächer werdender Proportion vollzieht, wie man dies bei
London und Paris in der That beobachten kann. Es ist wahr, daß die Gründe,
um deretwillen man die Großstadt aussticht: das Beisammensein vieler Ge¬
schäfte und Geschäftsvorteile und außerdem vieler Annehmlichkeiten, sich ver¬
ändern oder sich schließlich gar in ihr Gegenteil verkehren können, je mehr die
Städte sich zu solche» Stadtnngehcueru wie London aufwachsen, und daß dabei
die Schattenseiten der großstädtischen Verhältnisse Dimensionen annehmen, welche
schließlich eine geradezu abschreckende oder anstreibende Wirkung ausüben müßten.
Aber jeder'Kenner von Berlin, Berliner Geschäften und Berliner Zuständen
wird bestätigen, daß dieser „Sättigungspunkt" für Berlin bei weitem noch nicht
erreicht ist, und daß innere Gründe, aus denen für die nächste Zeit auf einen
Rückgang in der geschäftlichen Entwicklung Berlins geschlossen werden könnte,
entschieden nicht vorliegen. Anders verhält es sich mit Paris, hier findet allem
Anscheine nach von innen heraus ein Rückgang statt, weil das Leben zu teuer,
die Konkurrenz mit dein Auslande zu schwer wird, in der Arbeiterwelt aber
wohl eine Steigerung des Bedarfs, uicht aber eine solche der technischen und
künstlerischen Leistungsfähigkeit stattfindet, Darum steht ja in gewissem Sinne
der Rückgang von Paris in unmittelbarster Wechselwirkung mit dem Aufschwünge
von Berlin. Das Lange und Kurze an der Sache ist, daß Frankreich als
Staat, als Volk und als Wirtschaftsgebiet zurückgeht, während Deutschland sich
im großen und ganzen, geistig wie geschäftlich in aufsteigender Linie befindet.
Darum kann das Beispiel von Paris hier nicht herangezogen werden. Selbst
hinsichtlich Londons ließe sich, freilich in beschränkterem Sinne, ähnliches sage«?.
Jedenfalls darf es als feststehend gelten, daß noch eine ziemliche EntwicklnngS-
Periode abgelaufen sein oder eine ganz außerordentliche, zur Zeit nicht zu er¬
wartende Verkettung ungünstiger Umstände eintreten muß, ehe das jetzige Wachs¬
tum Berlins ins Stocken kommt.

Seit Anfang dieses Jahrzehnts kann man, nachdem fünf bis sechs Jahre
lang in Berlin eine eigentliche Vauthätigkeit garnicht stattgefunden hatte, wieder
von einer solchen sprechen. Die Ursache ist bekannt. Nicht sowohl die Menge
als vielmehr die Qualität der Wohnungen war während der Gründnngsperivde
in einem über das reelle, bleibende Bedürfnis kolossal hinausgehenden Maße
gesteigert worden; Prachtlogis, herrschaftliche Räume wurden zu jener Zeit
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[0213] gesprochen und gestritten wird, würde 50 000 Seelen zuführen, Schöneberg ist schon so gut wie zusammengewachsen mit Berlin, Die „Provinz Berlin," das heißt der ganze in: täglichen Verkehr auf Berlin angewiesene und hinsicht¬ lich der unendlichen Masse seiner Interessen von Berlin garnicht zu trennende Bezirk, zählt heute schon uicht viel weniger als zwei Millionen Einwohner! Nun läßt sich allerdings hierauf erwiedern, daß für die Millionenstadt auch einmal der Punkt ^Minnen werde, wo ihr Wachstum sich nicht mehr in gleicher, sondern in stetig schwächer werdender Proportion vollzieht, wie man dies bei London und Paris in der That beobachten kann. Es ist wahr, daß die Gründe, um deretwillen man die Großstadt aussticht: das Beisammensein vieler Ge¬ schäfte und Geschäftsvorteile und außerdem vieler Annehmlichkeiten, sich ver¬ ändern oder sich schließlich gar in ihr Gegenteil verkehren können, je mehr die Städte sich zu solche» Stadtnngehcueru wie London aufwachsen, und daß dabei die Schattenseiten der großstädtischen Verhältnisse Dimensionen annehmen, welche schließlich eine geradezu abschreckende oder anstreibende Wirkung ausüben müßten. Aber jeder'Kenner von Berlin, Berliner Geschäften und Berliner Zuständen wird bestätigen, daß dieser „Sättigungspunkt" für Berlin bei weitem noch nicht erreicht ist, und daß innere Gründe, aus denen für die nächste Zeit auf einen Rückgang in der geschäftlichen Entwicklung Berlins geschlossen werden könnte, entschieden nicht vorliegen. Anders verhält es sich mit Paris, hier findet allem Anscheine nach von innen heraus ein Rückgang statt, weil das Leben zu teuer, die Konkurrenz mit dein Auslande zu schwer wird, in der Arbeiterwelt aber wohl eine Steigerung des Bedarfs, uicht aber eine solche der technischen und künstlerischen Leistungsfähigkeit stattfindet, Darum steht ja in gewissem Sinne der Rückgang von Paris in unmittelbarster Wechselwirkung mit dem Aufschwünge von Berlin. Das Lange und Kurze an der Sache ist, daß Frankreich als Staat, als Volk und als Wirtschaftsgebiet zurückgeht, während Deutschland sich im großen und ganzen, geistig wie geschäftlich in aufsteigender Linie befindet. Darum kann das Beispiel von Paris hier nicht herangezogen werden. Selbst hinsichtlich Londons ließe sich, freilich in beschränkterem Sinne, ähnliches sage«?. Jedenfalls darf es als feststehend gelten, daß noch eine ziemliche EntwicklnngS- Periode abgelaufen sein oder eine ganz außerordentliche, zur Zeit nicht zu er¬ wartende Verkettung ungünstiger Umstände eintreten muß, ehe das jetzige Wachs¬ tum Berlins ins Stocken kommt. Seit Anfang dieses Jahrzehnts kann man, nachdem fünf bis sechs Jahre lang in Berlin eine eigentliche Vauthätigkeit garnicht stattgefunden hatte, wieder von einer solchen sprechen. Die Ursache ist bekannt. Nicht sowohl die Menge als vielmehr die Qualität der Wohnungen war während der Gründnngsperivde in einem über das reelle, bleibende Bedürfnis kolossal hinausgehenden Maße gesteigert worden; Prachtlogis, herrschaftliche Räume wurden zu jener Zeit massenhaft errichtet, einfache Familienwohnungen so gut wie keine, sodaß in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/213>, abgerufen am 01.09.2024.