Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Dcis Wachstum Berlins und der Mcmrerstroik.

Diese" Vordersatz halte man vor allem fest. Der moderne Staat breitet -- das
ist recht eigentlich sein Wesen -- sein Wirknngsgebiet immer weiter ans und
zieht immer mehr Gegenstände in seine Sphäre hinein. So gewiß dies aber
der Fall ist, so gewiß muß die Hauptstadt eines modernen Staates mehr und
mehr der Brennpunkt werden, nach dem alles Wirksame oder sich neu Gestaltende
konvergirt. Die Beziehungen auf das politische Leben sind heutzutage auf
allen Gebieten fo massenhaft und einschneidend und sind in so sichtlicher Zu¬
nahme begriffen, daß nichts im Leben eines Volkes sich dein zu entziehen vermag.
Es nützt nichts, dies zu beklagen und auf die, wie wir felbst sehr wohl wissen,
großen Schattenseiten der politischen, sozialen u. s. w. Krankheit hinzuweisen,
welche hiermit untrennbar verbunden find. Die großen Nationalhanptstädte
sind ein innerlich notwendiges Produkt des heutigen Staatslebens und der
ganzen modernen Kultur, und je mehr wir Deutsche -- etwas nachträglich --
vollständig in die uns gebührende Stelle einrücken wollen, desto stärker müssen
wir auch an dieser Entfaltung der hauptstädtischen Seite unsern Anteil auf uns
nehmen. Auch damit kommen wir nicht weiter, daß wir Berlin wohl gern als
wirtschaftlich, geistig und gemütlich ungeeignet zu einer derartigen Rolle be¬
zeichnen möchten. Es ist kein Zweifel darüber möglich, daß Berlin schon heute
die außer allem Verhältnis bedeutendste Industriestadt Deutschlands ist, daß
(eben darum!) immer neue Gewerbzweige sich in Berlin niederlassen, und daß
Lage und unmittelbares Gebiet von Berlin, obwohl anscheinend nur dritten
Ranges, sich doch als höchst hervorragend erwiesen haben. Bringt doch, um
uur einiges anzuführen, die geringgeschätzte kleine Spree fast soviel Zentner¬
gewicht nach Berlin als das Dutzend in Berlin mündender Eisenbahnen, und
ist doch ein System von Kanälen nach und um Berlin projektirt, welches eine
heute noch ganz ungeahnte Größe des künftigen Wasservcrkchrs in Aussicht
stellt: bietet doch die nähere und weitere Umgebung nicht nur landwirtschaftliche
Produkte in großer Menge und von vorzüglicher Beschaffenheit, nicht mir
Ziegel- und Kalksteine, sondern höchst wahrscheinlich auch Braunkohlen und wohl
noch andres, und hat doch die als reizlos verschrieene Umgebung einen Reichtum
an Wäldern, Seen und Hügeln und von hier aus sich ergebenden herrlichen
Punkten, daß es begreiflich wäre, wenn sich Berlin am Ende noch als Reiseziel
für den Landschaftstouristen und als Wohnstätte von seltner Annehmlichkeit
aufspielte. Was aber das geistige und gemütliche Leben betrifft, so stellt man
sich vielfach die Sache ärger vor, als sie ist; was im übrigen Deutschland als
berlinisches Wesen gilt, ist vielfach nur das Wesen der Berliner Juden oder
eines vordringlichen Teiles derselben. Geistige Schärfe und Beweglichkeit sind
da. weichherzige Milde, Natnrschwärmerci, Sinn für das üppigste Vereinsleben
einerseits, für eingezogene Häuslichkeit andrerseits ist auch da, und zwar alles
in einer Qualität und Quantität, wie sich solche für eine Haupt- und Großstadt
schicken -- nun, da wird mau sich schon bescheiden müssen, die Ingredienzien


Dcis Wachstum Berlins und der Mcmrerstroik.

Diese» Vordersatz halte man vor allem fest. Der moderne Staat breitet — das
ist recht eigentlich sein Wesen — sein Wirknngsgebiet immer weiter ans und
zieht immer mehr Gegenstände in seine Sphäre hinein. So gewiß dies aber
der Fall ist, so gewiß muß die Hauptstadt eines modernen Staates mehr und
mehr der Brennpunkt werden, nach dem alles Wirksame oder sich neu Gestaltende
konvergirt. Die Beziehungen auf das politische Leben sind heutzutage auf
allen Gebieten fo massenhaft und einschneidend und sind in so sichtlicher Zu¬
nahme begriffen, daß nichts im Leben eines Volkes sich dein zu entziehen vermag.
Es nützt nichts, dies zu beklagen und auf die, wie wir felbst sehr wohl wissen,
großen Schattenseiten der politischen, sozialen u. s. w. Krankheit hinzuweisen,
welche hiermit untrennbar verbunden find. Die großen Nationalhanptstädte
sind ein innerlich notwendiges Produkt des heutigen Staatslebens und der
ganzen modernen Kultur, und je mehr wir Deutsche — etwas nachträglich —
vollständig in die uns gebührende Stelle einrücken wollen, desto stärker müssen
wir auch an dieser Entfaltung der hauptstädtischen Seite unsern Anteil auf uns
nehmen. Auch damit kommen wir nicht weiter, daß wir Berlin wohl gern als
wirtschaftlich, geistig und gemütlich ungeeignet zu einer derartigen Rolle be¬
zeichnen möchten. Es ist kein Zweifel darüber möglich, daß Berlin schon heute
die außer allem Verhältnis bedeutendste Industriestadt Deutschlands ist, daß
(eben darum!) immer neue Gewerbzweige sich in Berlin niederlassen, und daß
Lage und unmittelbares Gebiet von Berlin, obwohl anscheinend nur dritten
Ranges, sich doch als höchst hervorragend erwiesen haben. Bringt doch, um
uur einiges anzuführen, die geringgeschätzte kleine Spree fast soviel Zentner¬
gewicht nach Berlin als das Dutzend in Berlin mündender Eisenbahnen, und
ist doch ein System von Kanälen nach und um Berlin projektirt, welches eine
heute noch ganz ungeahnte Größe des künftigen Wasservcrkchrs in Aussicht
stellt: bietet doch die nähere und weitere Umgebung nicht nur landwirtschaftliche
Produkte in großer Menge und von vorzüglicher Beschaffenheit, nicht mir
Ziegel- und Kalksteine, sondern höchst wahrscheinlich auch Braunkohlen und wohl
noch andres, und hat doch die als reizlos verschrieene Umgebung einen Reichtum
an Wäldern, Seen und Hügeln und von hier aus sich ergebenden herrlichen
Punkten, daß es begreiflich wäre, wenn sich Berlin am Ende noch als Reiseziel
für den Landschaftstouristen und als Wohnstätte von seltner Annehmlichkeit
aufspielte. Was aber das geistige und gemütliche Leben betrifft, so stellt man
sich vielfach die Sache ärger vor, als sie ist; was im übrigen Deutschland als
berlinisches Wesen gilt, ist vielfach nur das Wesen der Berliner Juden oder
eines vordringlichen Teiles derselben. Geistige Schärfe und Beweglichkeit sind
da. weichherzige Milde, Natnrschwärmerci, Sinn für das üppigste Vereinsleben
einerseits, für eingezogene Häuslichkeit andrerseits ist auch da, und zwar alles
in einer Qualität und Quantität, wie sich solche für eine Haupt- und Großstadt
schicken — nun, da wird mau sich schon bescheiden müssen, die Ingredienzien


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196311"/>
          <fw type="header" place="top"> Dcis Wachstum Berlins und der Mcmrerstroik.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_806" next="#ID_807"> Diese» Vordersatz halte man vor allem fest. Der moderne Staat breitet &#x2014; das<lb/>
ist recht eigentlich sein Wesen &#x2014; sein Wirknngsgebiet immer weiter ans und<lb/>
zieht immer mehr Gegenstände in seine Sphäre hinein. So gewiß dies aber<lb/>
der Fall ist, so gewiß muß die Hauptstadt eines modernen Staates mehr und<lb/>
mehr der Brennpunkt werden, nach dem alles Wirksame oder sich neu Gestaltende<lb/>
konvergirt. Die Beziehungen auf das politische Leben sind heutzutage auf<lb/>
allen Gebieten fo massenhaft und einschneidend und sind in so sichtlicher Zu¬<lb/>
nahme begriffen, daß nichts im Leben eines Volkes sich dein zu entziehen vermag.<lb/>
Es nützt nichts, dies zu beklagen und auf die, wie wir felbst sehr wohl wissen,<lb/>
großen Schattenseiten der politischen, sozialen u. s. w. Krankheit hinzuweisen,<lb/>
welche hiermit untrennbar verbunden find. Die großen Nationalhanptstädte<lb/>
sind ein innerlich notwendiges Produkt des heutigen Staatslebens und der<lb/>
ganzen modernen Kultur, und je mehr wir Deutsche &#x2014; etwas nachträglich &#x2014;<lb/>
vollständig in die uns gebührende Stelle einrücken wollen, desto stärker müssen<lb/>
wir auch an dieser Entfaltung der hauptstädtischen Seite unsern Anteil auf uns<lb/>
nehmen. Auch damit kommen wir nicht weiter, daß wir Berlin wohl gern als<lb/>
wirtschaftlich, geistig und gemütlich ungeeignet zu einer derartigen Rolle be¬<lb/>
zeichnen möchten. Es ist kein Zweifel darüber möglich, daß Berlin schon heute<lb/>
die außer allem Verhältnis bedeutendste Industriestadt Deutschlands ist, daß<lb/>
(eben darum!) immer neue Gewerbzweige sich in Berlin niederlassen, und daß<lb/>
Lage und unmittelbares Gebiet von Berlin, obwohl anscheinend nur dritten<lb/>
Ranges, sich doch als höchst hervorragend erwiesen haben. Bringt doch, um<lb/>
uur einiges anzuführen, die geringgeschätzte kleine Spree fast soviel Zentner¬<lb/>
gewicht nach Berlin als das Dutzend in Berlin mündender Eisenbahnen, und<lb/>
ist doch ein System von Kanälen nach und um Berlin projektirt, welches eine<lb/>
heute noch ganz ungeahnte Größe des künftigen Wasservcrkchrs in Aussicht<lb/>
stellt: bietet doch die nähere und weitere Umgebung nicht nur landwirtschaftliche<lb/>
Produkte in großer Menge und von vorzüglicher Beschaffenheit, nicht mir<lb/>
Ziegel- und Kalksteine, sondern höchst wahrscheinlich auch Braunkohlen und wohl<lb/>
noch andres, und hat doch die als reizlos verschrieene Umgebung einen Reichtum<lb/>
an Wäldern, Seen und Hügeln und von hier aus sich ergebenden herrlichen<lb/>
Punkten, daß es begreiflich wäre, wenn sich Berlin am Ende noch als Reiseziel<lb/>
für den Landschaftstouristen und als Wohnstätte von seltner Annehmlichkeit<lb/>
aufspielte. Was aber das geistige und gemütliche Leben betrifft, so stellt man<lb/>
sich vielfach die Sache ärger vor, als sie ist; was im übrigen Deutschland als<lb/>
berlinisches Wesen gilt, ist vielfach nur das Wesen der Berliner Juden oder<lb/>
eines vordringlichen Teiles derselben. Geistige Schärfe und Beweglichkeit sind<lb/>
da. weichherzige Milde, Natnrschwärmerci, Sinn für das üppigste Vereinsleben<lb/>
einerseits, für eingezogene Häuslichkeit andrerseits ist auch da, und zwar alles<lb/>
in einer Qualität und Quantität, wie sich solche für eine Haupt- und Großstadt<lb/>
schicken &#x2014; nun, da wird mau sich schon bescheiden müssen, die Ingredienzien</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0211] Dcis Wachstum Berlins und der Mcmrerstroik. Diese» Vordersatz halte man vor allem fest. Der moderne Staat breitet — das ist recht eigentlich sein Wesen — sein Wirknngsgebiet immer weiter ans und zieht immer mehr Gegenstände in seine Sphäre hinein. So gewiß dies aber der Fall ist, so gewiß muß die Hauptstadt eines modernen Staates mehr und mehr der Brennpunkt werden, nach dem alles Wirksame oder sich neu Gestaltende konvergirt. Die Beziehungen auf das politische Leben sind heutzutage auf allen Gebieten fo massenhaft und einschneidend und sind in so sichtlicher Zu¬ nahme begriffen, daß nichts im Leben eines Volkes sich dein zu entziehen vermag. Es nützt nichts, dies zu beklagen und auf die, wie wir felbst sehr wohl wissen, großen Schattenseiten der politischen, sozialen u. s. w. Krankheit hinzuweisen, welche hiermit untrennbar verbunden find. Die großen Nationalhanptstädte sind ein innerlich notwendiges Produkt des heutigen Staatslebens und der ganzen modernen Kultur, und je mehr wir Deutsche — etwas nachträglich — vollständig in die uns gebührende Stelle einrücken wollen, desto stärker müssen wir auch an dieser Entfaltung der hauptstädtischen Seite unsern Anteil auf uns nehmen. Auch damit kommen wir nicht weiter, daß wir Berlin wohl gern als wirtschaftlich, geistig und gemütlich ungeeignet zu einer derartigen Rolle be¬ zeichnen möchten. Es ist kein Zweifel darüber möglich, daß Berlin schon heute die außer allem Verhältnis bedeutendste Industriestadt Deutschlands ist, daß (eben darum!) immer neue Gewerbzweige sich in Berlin niederlassen, und daß Lage und unmittelbares Gebiet von Berlin, obwohl anscheinend nur dritten Ranges, sich doch als höchst hervorragend erwiesen haben. Bringt doch, um uur einiges anzuführen, die geringgeschätzte kleine Spree fast soviel Zentner¬ gewicht nach Berlin als das Dutzend in Berlin mündender Eisenbahnen, und ist doch ein System von Kanälen nach und um Berlin projektirt, welches eine heute noch ganz ungeahnte Größe des künftigen Wasservcrkchrs in Aussicht stellt: bietet doch die nähere und weitere Umgebung nicht nur landwirtschaftliche Produkte in großer Menge und von vorzüglicher Beschaffenheit, nicht mir Ziegel- und Kalksteine, sondern höchst wahrscheinlich auch Braunkohlen und wohl noch andres, und hat doch die als reizlos verschrieene Umgebung einen Reichtum an Wäldern, Seen und Hügeln und von hier aus sich ergebenden herrlichen Punkten, daß es begreiflich wäre, wenn sich Berlin am Ende noch als Reiseziel für den Landschaftstouristen und als Wohnstätte von seltner Annehmlichkeit aufspielte. Was aber das geistige und gemütliche Leben betrifft, so stellt man sich vielfach die Sache ärger vor, als sie ist; was im übrigen Deutschland als berlinisches Wesen gilt, ist vielfach nur das Wesen der Berliner Juden oder eines vordringlichen Teiles derselben. Geistige Schärfe und Beweglichkeit sind da. weichherzige Milde, Natnrschwärmerci, Sinn für das üppigste Vereinsleben einerseits, für eingezogene Häuslichkeit andrerseits ist auch da, und zwar alles in einer Qualität und Quantität, wie sich solche für eine Haupt- und Großstadt schicken — nun, da wird mau sich schon bescheiden müssen, die Ingredienzien

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/211
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/211>, abgerufen am 01.09.2024.