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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

hätten, freilich eines, dem das und das und das entgegengehalten werden könne,
aber doch immer eines, welches auch seine Berechtigung habe? Das ist von Fleisch
und Blut zu viel verlangt, und so hält denn der Liberalismus (so sonderbar es
auch gerade ihm zu Gesichte steht, die Freiheit der Meinungen auf einen bestimmten
Kreis von Meinungen zu beschränken und sür alles über denselben Hinausgehende
den Schimpf- oder doch Vernnglimpfnngs-Komment für den einzig angebrachten,
jede Diskussion mit einer solchen Meinung aber für ausgeschlossen zu erklären),
hartnäckig daran fest, alle Versuche zu einer tieferen, in sich geschlossenen Be¬
gründung der konservativen Idee zu ignoriren, alle diejenigen aber, welche bei
einer solchen Begründung mitarbeiten, g, xriori für verabscheuungswürdige, wahr-
scheinlicherweise auch sittlich schlechte und daher mit allen, nötigenfalls selbst mit
den schmutzigsten Waffen zu bekämpfende Männer zu erklären.

Und doch sollte es so nahe liegen, daß Liberalismus und Konservatismus
nnr zwei Seiten einer und derselben Sache, oder, richtiger ausgedrückt, zwei
Pole derselben Strömung sind; daß der eine genau so wesentlich und so innerlich
berechtigt ist wie der andre, und daß die ganze Kulturgeschichte weiter nichts ist
als ein wechselseitiges Vorwärtsstreben dieser beiden Richtungen, ein stetiges Sich-
Ablösen und Sich-Ergänzen zweier Dinge, die so wenig von einander getrennt
werden können wie Blüte und Frucht, wie Licht und Farbe, wie -- um dem
Kerne der Sache näher zu rücken -- Mensch und Menschheit. Nicht wie
Macaulay meint, stellt der Konservatismus lediglich den, zwar auch nötigen,
Ballast, der Liberalismus aber die Segelkraft dar; im gründe wäre dies ja
nichts andres als die landläufige Vorstellung, die Konservativen wollten eben
nur "alles Alte nach Kräften erhalten" wissen! Nein! Der Kern aller Gegensätze,
welche vom Beginn der Menschengeschichte an die Menschen in zwei Heerlager
spalteten und allem ernsthaften Parteiwesen stets zu gründe gelegen haben, ist der
Gegensatz zwischen dem allgemeinen und dem Privatinteresse. Man
schlage ein beliebiges Blatt innerer Volksgeschichte auf, man prüfe irgendeinen, für
die Entwicklung eines Staatswesens erheblichen Kampf der Parteien: stets wird
dieser Gegensatz uns als die eigentlich treibende Kraft begegnen. Daher auch die
Fortpflanzung jeder einmal ins Leben getretenen Parteibildung nicht nnr durch
die Jahrhunderte hindurch, sondern auch auf andre Völker und Staaten; es ist
im gründe immer der gleiche Gedanke, der die scheinbar nur vorübergehenden
Gesichtspunkte einer Partei stets einer bestimmten, bleibenden Richtung dienstbar
erhält. Deutlich erkennbar liegt hierin auch der Zusammenhang unsrer Parteien
sowie ihrer Ziele und leitenden Grundsätze mit der historischen Entwicklung, Wie
die konservative Partei sich früher an den einzigen ernsthaften, leistungsfähigen
Staat klammerte, den wir besaßen, so will sie heute vor allem das Reich ge¬
festigt und innerlich geschlossen, nach außen widerstandsfähig, nach innen auf
bestandsfähigen Grundlagen der guten Sitte und der wirtschaftlichen Tüchtigkeit
errichtet sehen, und will anch die künftige Entwicklung des deutschen Volkes nach


Gr-nzboten III. 188S, 20
Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus.

hätten, freilich eines, dem das und das und das entgegengehalten werden könne,
aber doch immer eines, welches auch seine Berechtigung habe? Das ist von Fleisch
und Blut zu viel verlangt, und so hält denn der Liberalismus (so sonderbar es
auch gerade ihm zu Gesichte steht, die Freiheit der Meinungen auf einen bestimmten
Kreis von Meinungen zu beschränken und sür alles über denselben Hinausgehende
den Schimpf- oder doch Vernnglimpfnngs-Komment für den einzig angebrachten,
jede Diskussion mit einer solchen Meinung aber für ausgeschlossen zu erklären),
hartnäckig daran fest, alle Versuche zu einer tieferen, in sich geschlossenen Be¬
gründung der konservativen Idee zu ignoriren, alle diejenigen aber, welche bei
einer solchen Begründung mitarbeiten, g, xriori für verabscheuungswürdige, wahr-
scheinlicherweise auch sittlich schlechte und daher mit allen, nötigenfalls selbst mit
den schmutzigsten Waffen zu bekämpfende Männer zu erklären.

Und doch sollte es so nahe liegen, daß Liberalismus und Konservatismus
nnr zwei Seiten einer und derselben Sache, oder, richtiger ausgedrückt, zwei
Pole derselben Strömung sind; daß der eine genau so wesentlich und so innerlich
berechtigt ist wie der andre, und daß die ganze Kulturgeschichte weiter nichts ist
als ein wechselseitiges Vorwärtsstreben dieser beiden Richtungen, ein stetiges Sich-
Ablösen und Sich-Ergänzen zweier Dinge, die so wenig von einander getrennt
werden können wie Blüte und Frucht, wie Licht und Farbe, wie — um dem
Kerne der Sache näher zu rücken — Mensch und Menschheit. Nicht wie
Macaulay meint, stellt der Konservatismus lediglich den, zwar auch nötigen,
Ballast, der Liberalismus aber die Segelkraft dar; im gründe wäre dies ja
nichts andres als die landläufige Vorstellung, die Konservativen wollten eben
nur „alles Alte nach Kräften erhalten" wissen! Nein! Der Kern aller Gegensätze,
welche vom Beginn der Menschengeschichte an die Menschen in zwei Heerlager
spalteten und allem ernsthaften Parteiwesen stets zu gründe gelegen haben, ist der
Gegensatz zwischen dem allgemeinen und dem Privatinteresse. Man
schlage ein beliebiges Blatt innerer Volksgeschichte auf, man prüfe irgendeinen, für
die Entwicklung eines Staatswesens erheblichen Kampf der Parteien: stets wird
dieser Gegensatz uns als die eigentlich treibende Kraft begegnen. Daher auch die
Fortpflanzung jeder einmal ins Leben getretenen Parteibildung nicht nnr durch
die Jahrhunderte hindurch, sondern auch auf andre Völker und Staaten; es ist
im gründe immer der gleiche Gedanke, der die scheinbar nur vorübergehenden
Gesichtspunkte einer Partei stets einer bestimmten, bleibenden Richtung dienstbar
erhält. Deutlich erkennbar liegt hierin auch der Zusammenhang unsrer Parteien
sowie ihrer Ziele und leitenden Grundsätze mit der historischen Entwicklung, Wie
die konservative Partei sich früher an den einzigen ernsthaften, leistungsfähigen
Staat klammerte, den wir besaßen, so will sie heute vor allem das Reich ge¬
festigt und innerlich geschlossen, nach außen widerstandsfähig, nach innen auf
bestandsfähigen Grundlagen der guten Sitte und der wirtschaftlichen Tüchtigkeit
errichtet sehen, und will anch die künftige Entwicklung des deutschen Volkes nach


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[0161] Der Liberalismus und der prinzipielle Konservatismus. hätten, freilich eines, dem das und das und das entgegengehalten werden könne, aber doch immer eines, welches auch seine Berechtigung habe? Das ist von Fleisch und Blut zu viel verlangt, und so hält denn der Liberalismus (so sonderbar es auch gerade ihm zu Gesichte steht, die Freiheit der Meinungen auf einen bestimmten Kreis von Meinungen zu beschränken und sür alles über denselben Hinausgehende den Schimpf- oder doch Vernnglimpfnngs-Komment für den einzig angebrachten, jede Diskussion mit einer solchen Meinung aber für ausgeschlossen zu erklären), hartnäckig daran fest, alle Versuche zu einer tieferen, in sich geschlossenen Be¬ gründung der konservativen Idee zu ignoriren, alle diejenigen aber, welche bei einer solchen Begründung mitarbeiten, g, xriori für verabscheuungswürdige, wahr- scheinlicherweise auch sittlich schlechte und daher mit allen, nötigenfalls selbst mit den schmutzigsten Waffen zu bekämpfende Männer zu erklären. Und doch sollte es so nahe liegen, daß Liberalismus und Konservatismus nnr zwei Seiten einer und derselben Sache, oder, richtiger ausgedrückt, zwei Pole derselben Strömung sind; daß der eine genau so wesentlich und so innerlich berechtigt ist wie der andre, und daß die ganze Kulturgeschichte weiter nichts ist als ein wechselseitiges Vorwärtsstreben dieser beiden Richtungen, ein stetiges Sich- Ablösen und Sich-Ergänzen zweier Dinge, die so wenig von einander getrennt werden können wie Blüte und Frucht, wie Licht und Farbe, wie — um dem Kerne der Sache näher zu rücken — Mensch und Menschheit. Nicht wie Macaulay meint, stellt der Konservatismus lediglich den, zwar auch nötigen, Ballast, der Liberalismus aber die Segelkraft dar; im gründe wäre dies ja nichts andres als die landläufige Vorstellung, die Konservativen wollten eben nur „alles Alte nach Kräften erhalten" wissen! Nein! Der Kern aller Gegensätze, welche vom Beginn der Menschengeschichte an die Menschen in zwei Heerlager spalteten und allem ernsthaften Parteiwesen stets zu gründe gelegen haben, ist der Gegensatz zwischen dem allgemeinen und dem Privatinteresse. Man schlage ein beliebiges Blatt innerer Volksgeschichte auf, man prüfe irgendeinen, für die Entwicklung eines Staatswesens erheblichen Kampf der Parteien: stets wird dieser Gegensatz uns als die eigentlich treibende Kraft begegnen. Daher auch die Fortpflanzung jeder einmal ins Leben getretenen Parteibildung nicht nnr durch die Jahrhunderte hindurch, sondern auch auf andre Völker und Staaten; es ist im gründe immer der gleiche Gedanke, der die scheinbar nur vorübergehenden Gesichtspunkte einer Partei stets einer bestimmten, bleibenden Richtung dienstbar erhält. Deutlich erkennbar liegt hierin auch der Zusammenhang unsrer Parteien sowie ihrer Ziele und leitenden Grundsätze mit der historischen Entwicklung, Wie die konservative Partei sich früher an den einzigen ernsthaften, leistungsfähigen Staat klammerte, den wir besaßen, so will sie heute vor allem das Reich ge¬ festigt und innerlich geschlossen, nach außen widerstandsfähig, nach innen auf bestandsfähigen Grundlagen der guten Sitte und der wirtschaftlichen Tüchtigkeit errichtet sehen, und will anch die künftige Entwicklung des deutschen Volkes nach Gr-nzboten III. 188S, 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/161>, abgerufen am 24.11.2024.