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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage.

willkommene Gäste waren. Ihre Führer achteten nicht darauf, sie betrachteten
Afghanistan schon jetzt als sichere Eroberung. Der Vizekönig dankte den
Truppen für die von ihnen geleisteten Dienste in einer Proklamation, in welcher
es hieß: "Die Vorsehung hat die Pläne der Feinde des britischen Reiches ver¬
eitelt. Die Häuptlinge Kabuls und Kandcihars, die Genossen dieser Anschläge,
sind ihrer Macht beraubt, und ihr Land ist einer freundlichgesinnten Regierung
übergeben worden. Mit den Sikhs stehen wir in engem Bunde, und zwischen
uns und dem Gebieter von Herat herrscht das beste Einvernehmen." Vor
Einbruch des Winters schickte man die größere Hälfte des britischen Heeres
durch den Bolcmpaß nach Indien zurück. Mehrab Chan von Kelat, der dabei
die Nachzügler der Truppen angefallen und großenteils zusammcngehauen hatte,
wurde am 14. November 1839 in seiner Bergveste angegriffen und kam dabei
um. Die bei Kabul zurückgebliebene Abteilung der Engländer aber geriet bald
in arge Bedrängnis.

Zunächst zwar hatte man sich weiterer Erfolge zu erfreuen. Dose Muhammed,
der sich erst zum afghanischen Bergstamme der Jusofsi, dann nach Buchara
geflüchtet und von dort aus mit usbekischen und afghanischen Scharen wieder
gegen Kabul vorgedrungen war, fand, obwohl er den Feinden am Perwanpaß
eine Niederlage beigebracht hatte, zuletzt, daß er sich auf die Dauer nicht be¬
haupten könne; er ergab sich am 3. November 1840 dem britischen Gesandten
Macnaghten und wurde jenseits des Indus in Lodianah internirt. Das öst¬
liche Beludschistan, wo Mir Nasir, der Sohn Mehrabs, sich empört hatte,
wurde beruhigt, und der Chan versprach, dem Schah Schndscha als Lehnsherrn
zu huldigen. Die Usbeken in Chuten und Kcmdus am Anm Darga, welche sich
mit dem Ex-Emir gegen die ungläubigen Ferengis verbündet hatten, wurden ein¬
geschüchtert und stellten eine Gesandtschaft zum Zweck einer Annäherung an
England in Aussicht. Aber in Afghanistan wurden Schndscha und die Briten
täglich unbeliebter. Der Günstling und Minister des Dnrani-Schah war so
unfähig wie sein Gebieter. Sie legten dem Volke willkürlich unerschwingbarc
Abgaben auf und handelten gegen die einfachsten Grundregeln der Staatswirtschaft.
Die Engländer machten sich daran, das Land durch Einführung westlicher Ein¬
richtungen zu beglücken und verstießen damit gegen die Tradition in grober
Weise. Der Fanatismus gegenüber allem nicht muhammedanischen Wesen, der
die Masse des Volkes beseelte, wurde dadurch zu Abscheu und glühendem Hasse,
den die Mullahs zur That aufzustacheln bemüht waren. Die Bewohner der
Thäler und Ebnen flohen in die schwer zugänglichen Gebirge, und selbst in der
unmittelbaren Umgebung von Kabul war das Land unsicher, wie die häufige
Ermordung von Engländern bewies, welche sich einzeln oder mit wenigen Be¬
gleitern aus ihren Standquartieren hinausgewagt hatten. Mehrere Stämme,
namentlich die Gildschi, entzogen sich völlig der Herrschaft der verhaßten Un¬
gläubigen, und selbst auf der Hochebene zwischen Kabul und Ghasncch, wo die


Grenzboten II. 188S. 9
Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage.

willkommene Gäste waren. Ihre Führer achteten nicht darauf, sie betrachteten
Afghanistan schon jetzt als sichere Eroberung. Der Vizekönig dankte den
Truppen für die von ihnen geleisteten Dienste in einer Proklamation, in welcher
es hieß: „Die Vorsehung hat die Pläne der Feinde des britischen Reiches ver¬
eitelt. Die Häuptlinge Kabuls und Kandcihars, die Genossen dieser Anschläge,
sind ihrer Macht beraubt, und ihr Land ist einer freundlichgesinnten Regierung
übergeben worden. Mit den Sikhs stehen wir in engem Bunde, und zwischen
uns und dem Gebieter von Herat herrscht das beste Einvernehmen." Vor
Einbruch des Winters schickte man die größere Hälfte des britischen Heeres
durch den Bolcmpaß nach Indien zurück. Mehrab Chan von Kelat, der dabei
die Nachzügler der Truppen angefallen und großenteils zusammcngehauen hatte,
wurde am 14. November 1839 in seiner Bergveste angegriffen und kam dabei
um. Die bei Kabul zurückgebliebene Abteilung der Engländer aber geriet bald
in arge Bedrängnis.

Zunächst zwar hatte man sich weiterer Erfolge zu erfreuen. Dose Muhammed,
der sich erst zum afghanischen Bergstamme der Jusofsi, dann nach Buchara
geflüchtet und von dort aus mit usbekischen und afghanischen Scharen wieder
gegen Kabul vorgedrungen war, fand, obwohl er den Feinden am Perwanpaß
eine Niederlage beigebracht hatte, zuletzt, daß er sich auf die Dauer nicht be¬
haupten könne; er ergab sich am 3. November 1840 dem britischen Gesandten
Macnaghten und wurde jenseits des Indus in Lodianah internirt. Das öst¬
liche Beludschistan, wo Mir Nasir, der Sohn Mehrabs, sich empört hatte,
wurde beruhigt, und der Chan versprach, dem Schah Schndscha als Lehnsherrn
zu huldigen. Die Usbeken in Chuten und Kcmdus am Anm Darga, welche sich
mit dem Ex-Emir gegen die ungläubigen Ferengis verbündet hatten, wurden ein¬
geschüchtert und stellten eine Gesandtschaft zum Zweck einer Annäherung an
England in Aussicht. Aber in Afghanistan wurden Schndscha und die Briten
täglich unbeliebter. Der Günstling und Minister des Dnrani-Schah war so
unfähig wie sein Gebieter. Sie legten dem Volke willkürlich unerschwingbarc
Abgaben auf und handelten gegen die einfachsten Grundregeln der Staatswirtschaft.
Die Engländer machten sich daran, das Land durch Einführung westlicher Ein¬
richtungen zu beglücken und verstießen damit gegen die Tradition in grober
Weise. Der Fanatismus gegenüber allem nicht muhammedanischen Wesen, der
die Masse des Volkes beseelte, wurde dadurch zu Abscheu und glühendem Hasse,
den die Mullahs zur That aufzustacheln bemüht waren. Die Bewohner der
Thäler und Ebnen flohen in die schwer zugänglichen Gebirge, und selbst in der
unmittelbaren Umgebung von Kabul war das Land unsicher, wie die häufige
Ermordung von Engländern bewies, welche sich einzeln oder mit wenigen Be¬
gleitern aus ihren Standquartieren hinausgewagt hatten. Mehrere Stämme,
namentlich die Gildschi, entzogen sich völlig der Herrschaft der verhaßten Un¬
gläubigen, und selbst auf der Hochebene zwischen Kabul und Ghasncch, wo die


Grenzboten II. 188S. 9
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/70>, abgerufen am 22.07.2024.