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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das Sterben auf der Bühne.

sind hier kaum anzubringen. Lessings Begeisterung im dreizehnten Stücke der
Dramaturgie für den "ungemeinen Anstand," mit dem "Madame Henseln starb"
(weil sie nämlich das Zupfen der Sterbenden in ihre Gesten aufgenommen hatte),
habe ich nie begreifen können. Viele Leser werden dies unheimliche Zupfen bei
Fieberkranken in kritischen Augenblicken schon bemerkt haben. Dazu braucht es
nicht der Beobachtungsgabe eines großen Mimen. Das meiste thut hier die
geschminkte Maske, die der Darsteller schon bei seinem Auftreten lange vor dem
Eintritt der Vergiftung auf dem Gesichte parat hat. Oder fragt sich der Be¬
sucher des deutschen Theaters nicht sofort, wenn der treffliche Vertreter des
Ehrenschulduers vergnügt mit nachlässig geöffneter Uniform anf die Bühne stürzt:
"Was willst du, Kadclburg. so trüb und so bleich?"

Und nun gar die totenblaß mit obligatem Stcrbetapouchon hereinwnnkende
Adrienne! Freilich kommt es auf das Wie der Darstellung an. Aber je vir-
tuosenlmfter dieselbe ist, je krasser der stiere Blick der Augen, je weiter nach
auswärts gespreizt die krampfhaft zuckenden Finger, je täuschender der pfeifende,
röchelnde Atem, desto unwürdiger der großen, schönen Kunst, die das Leben
darzustellen hat und nicht den Tod.

Ich sah einmal eine sonst ausgezeichnete Darstellerin der Marie im "Clavigv,"
die das ganze Stück hindurch hustete -- jenes entsetzliche trockene Hüsteln der
Hektischen, das einem durch Mark und Bein geht! Marie ist nicht schwindsüchtig;
sie ist durch ihr ungeheures Seelenleiden Physisch mitgenommen, das ist alles.
Wer wird sich hier an die parteiischen Farben eines Carlos halten, der Clavigvs
Verbindung mit ihr um jeden Preis hintertreiben will! Glauben die Schau¬
spieler wirklich, mit solchen "Nüancen" ihre Rollen interessanter zu machen?
Mit jenen Nüancen vom Schlage des stotternden Percy, den sich Shakespeare
nicht im Traume als Stotterer gedacht hat!

Also wenigstens die eine Bitte, ihr Herren Autoren, Schauspieler und
Theaterdirektoren: Keine dramatische Vivisektion, nach Möglichkeit keine poetische
Folter des wehrlosen, vielköpfigen Tieres Publikum, wenn dasselbe auch bekannt¬
lich ein Ungeheuer ist.




Das Sterben auf der Bühne.

sind hier kaum anzubringen. Lessings Begeisterung im dreizehnten Stücke der
Dramaturgie für den „ungemeinen Anstand," mit dem „Madame Henseln starb"
(weil sie nämlich das Zupfen der Sterbenden in ihre Gesten aufgenommen hatte),
habe ich nie begreifen können. Viele Leser werden dies unheimliche Zupfen bei
Fieberkranken in kritischen Augenblicken schon bemerkt haben. Dazu braucht es
nicht der Beobachtungsgabe eines großen Mimen. Das meiste thut hier die
geschminkte Maske, die der Darsteller schon bei seinem Auftreten lange vor dem
Eintritt der Vergiftung auf dem Gesichte parat hat. Oder fragt sich der Be¬
sucher des deutschen Theaters nicht sofort, wenn der treffliche Vertreter des
Ehrenschulduers vergnügt mit nachlässig geöffneter Uniform anf die Bühne stürzt:
„Was willst du, Kadclburg. so trüb und so bleich?"

Und nun gar die totenblaß mit obligatem Stcrbetapouchon hereinwnnkende
Adrienne! Freilich kommt es auf das Wie der Darstellung an. Aber je vir-
tuosenlmfter dieselbe ist, je krasser der stiere Blick der Augen, je weiter nach
auswärts gespreizt die krampfhaft zuckenden Finger, je täuschender der pfeifende,
röchelnde Atem, desto unwürdiger der großen, schönen Kunst, die das Leben
darzustellen hat und nicht den Tod.

Ich sah einmal eine sonst ausgezeichnete Darstellerin der Marie im „Clavigv,"
die das ganze Stück hindurch hustete — jenes entsetzliche trockene Hüsteln der
Hektischen, das einem durch Mark und Bein geht! Marie ist nicht schwindsüchtig;
sie ist durch ihr ungeheures Seelenleiden Physisch mitgenommen, das ist alles.
Wer wird sich hier an die parteiischen Farben eines Carlos halten, der Clavigvs
Verbindung mit ihr um jeden Preis hintertreiben will! Glauben die Schau¬
spieler wirklich, mit solchen „Nüancen" ihre Rollen interessanter zu machen?
Mit jenen Nüancen vom Schlage des stotternden Percy, den sich Shakespeare
nicht im Traume als Stotterer gedacht hat!

Also wenigstens die eine Bitte, ihr Herren Autoren, Schauspieler und
Theaterdirektoren: Keine dramatische Vivisektion, nach Möglichkeit keine poetische
Folter des wehrlosen, vielköpfigen Tieres Publikum, wenn dasselbe auch bekannt¬
lich ein Ungeheuer ist.




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[0693] Das Sterben auf der Bühne. sind hier kaum anzubringen. Lessings Begeisterung im dreizehnten Stücke der Dramaturgie für den „ungemeinen Anstand," mit dem „Madame Henseln starb" (weil sie nämlich das Zupfen der Sterbenden in ihre Gesten aufgenommen hatte), habe ich nie begreifen können. Viele Leser werden dies unheimliche Zupfen bei Fieberkranken in kritischen Augenblicken schon bemerkt haben. Dazu braucht es nicht der Beobachtungsgabe eines großen Mimen. Das meiste thut hier die geschminkte Maske, die der Darsteller schon bei seinem Auftreten lange vor dem Eintritt der Vergiftung auf dem Gesichte parat hat. Oder fragt sich der Be¬ sucher des deutschen Theaters nicht sofort, wenn der treffliche Vertreter des Ehrenschulduers vergnügt mit nachlässig geöffneter Uniform anf die Bühne stürzt: „Was willst du, Kadclburg. so trüb und so bleich?" Und nun gar die totenblaß mit obligatem Stcrbetapouchon hereinwnnkende Adrienne! Freilich kommt es auf das Wie der Darstellung an. Aber je vir- tuosenlmfter dieselbe ist, je krasser der stiere Blick der Augen, je weiter nach auswärts gespreizt die krampfhaft zuckenden Finger, je täuschender der pfeifende, röchelnde Atem, desto unwürdiger der großen, schönen Kunst, die das Leben darzustellen hat und nicht den Tod. Ich sah einmal eine sonst ausgezeichnete Darstellerin der Marie im „Clavigv," die das ganze Stück hindurch hustete — jenes entsetzliche trockene Hüsteln der Hektischen, das einem durch Mark und Bein geht! Marie ist nicht schwindsüchtig; sie ist durch ihr ungeheures Seelenleiden Physisch mitgenommen, das ist alles. Wer wird sich hier an die parteiischen Farben eines Carlos halten, der Clavigvs Verbindung mit ihr um jeden Preis hintertreiben will! Glauben die Schau¬ spieler wirklich, mit solchen „Nüancen" ihre Rollen interessanter zu machen? Mit jenen Nüancen vom Schlage des stotternden Percy, den sich Shakespeare nicht im Traume als Stotterer gedacht hat! Also wenigstens die eine Bitte, ihr Herren Autoren, Schauspieler und Theaterdirektoren: Keine dramatische Vivisektion, nach Möglichkeit keine poetische Folter des wehrlosen, vielköpfigen Tieres Publikum, wenn dasselbe auch bekannt¬ lich ein Ungeheuer ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/693>, abgerufen am 01.07.2024.