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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Sollen wir unsre Statuen bemalen?

fruchtloser Versuch gewesen, der zeitgenössischen Kunst von wissenschaftlichem
Standpunkt aus die Richtung vorzuschreiben. Auf die schlimmen Folgen eines
solchen Verfahrens weist Treu selbst hin, indem er angiebt, daß "die Polh-
chromie aus der Plastik erst durch ein archäologisches Mißverständnis der Re¬
naissancezeit hinausgedrängt worden ist." Wer bürgt dafür, daß wir uicht heute
auf dem besten Wege sind, sie durch ein "archäologisches Mißverständnis" wieder
in unsre Kunst einzuführen? Ich halte es sogar für ein sehr verderbliches Mi߬
verständnis von kunstwissenschaftlicher Seite, den Naturalismus der heutigen
Kunst zu unterstützen und auf Wege leiten zu wollen, auf welche er trotz seiner
sonstigen Unbefangenheit sich noch nicht gewagt hat. Ist denn aber dieser Na¬
turalismus wirklich ein Ausdruck der gesamten Geistesrichtung unsrer Zeit,
oder nicht vielmehr nur ein gährendes Übergangsstadium, dessen Ende man be¬
schleunigen, aber nicht hinausschieben sollte? Ist, was unsre spezielle Frage
anlangt, für die Ansicht Trens bereits eine Majorität gewonnen, die zu so ent¬
schiedenem Auftreten im Namen unsers so "realistisch und farbeulnftig gestimmten
Geschlechtes" berechtigt? Ich glaube, mein.

Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, wie weit historisch gewonnene Er¬
kenntnis von einer ästhetischen Überzeugung verschieden ist. Ich hatte mich mit
dem literarischen Material, das die Diskussion über polychrome Plastik schon
seit langer Zeit niedergeschlagen hatte (bereits vor Quatremere de Quinch hatten
sich Winckelmann, Herder u. a. mit der Frage beschäftigt), ziemlich vertraut ge¬
macht und daraus die Überzeugung gewonnen, daß an der historischen Über¬
lieferung der Polychromie kein Zweifel sei, obschon diese Überlieferung nur die
von Kugler (Kleine Schriften I, 265) zusammengestellten Belegstellen anführen
konnte und damit Grenzen zog, welche Semper n. a. nicht anerkennen mochten.
Ich war sogar von Sempers weitergehenden und zu geistvollen Antithesen zu¬
gespitzten Ausführungen ziemlich überzeugt, als ein Zufall mich in die Dresdner
Sammlung führte, wo gerade Professor Treu seine Versuche anstellte. Er hatte
damals als Objekte seiner Experimente die Gipsabgüsse der Dresdner Amazone in
halber Lebensgröße und des Kopfes der melischer Aphrodite gewählt. Frappirte mich
schou die Bemalung der Statuette, so empfand ich die naturalistische Bemalung
des Venuskopfes geradezu als Beleidigung meines ästhetischen Gefühls. Keine
Überredung von der historischen Wahrscheinlichkeit, keine noch so oft wiederholte
Betrachtung konnte diesen Eindruck in mir verwische". Mir war, man verzeihe
den Vergleich, als sehe ich ein hochverehrtes ideales weibliches Wesen, das in
meiner Phantasie kaum Farben gewonnen, plötzlich geschminkt und gepudert auf
mich zuschreiten in der unnatürlichen Wirklichkeit gemeinen Lebens. Ein Gefühl
der Enttäuschung und des Ekels bemächtigte sich meiner. Nicht so heftig
empfand ich die Bemalung der Amazoneustatuette. Die Erklärung dieser Ver¬
schiedenheit des Eindrucks führt uus zu der zweiten Bedingung des Knnst-
stiles, nämlich zu dem Gegenstande der Darstellung und seiner Bestimmung,


Sollen wir unsre Statuen bemalen?

fruchtloser Versuch gewesen, der zeitgenössischen Kunst von wissenschaftlichem
Standpunkt aus die Richtung vorzuschreiben. Auf die schlimmen Folgen eines
solchen Verfahrens weist Treu selbst hin, indem er angiebt, daß „die Polh-
chromie aus der Plastik erst durch ein archäologisches Mißverständnis der Re¬
naissancezeit hinausgedrängt worden ist." Wer bürgt dafür, daß wir uicht heute
auf dem besten Wege sind, sie durch ein „archäologisches Mißverständnis" wieder
in unsre Kunst einzuführen? Ich halte es sogar für ein sehr verderbliches Mi߬
verständnis von kunstwissenschaftlicher Seite, den Naturalismus der heutigen
Kunst zu unterstützen und auf Wege leiten zu wollen, auf welche er trotz seiner
sonstigen Unbefangenheit sich noch nicht gewagt hat. Ist denn aber dieser Na¬
turalismus wirklich ein Ausdruck der gesamten Geistesrichtung unsrer Zeit,
oder nicht vielmehr nur ein gährendes Übergangsstadium, dessen Ende man be¬
schleunigen, aber nicht hinausschieben sollte? Ist, was unsre spezielle Frage
anlangt, für die Ansicht Trens bereits eine Majorität gewonnen, die zu so ent¬
schiedenem Auftreten im Namen unsers so „realistisch und farbeulnftig gestimmten
Geschlechtes" berechtigt? Ich glaube, mein.

Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, wie weit historisch gewonnene Er¬
kenntnis von einer ästhetischen Überzeugung verschieden ist. Ich hatte mich mit
dem literarischen Material, das die Diskussion über polychrome Plastik schon
seit langer Zeit niedergeschlagen hatte (bereits vor Quatremere de Quinch hatten
sich Winckelmann, Herder u. a. mit der Frage beschäftigt), ziemlich vertraut ge¬
macht und daraus die Überzeugung gewonnen, daß an der historischen Über¬
lieferung der Polychromie kein Zweifel sei, obschon diese Überlieferung nur die
von Kugler (Kleine Schriften I, 265) zusammengestellten Belegstellen anführen
konnte und damit Grenzen zog, welche Semper n. a. nicht anerkennen mochten.
Ich war sogar von Sempers weitergehenden und zu geistvollen Antithesen zu¬
gespitzten Ausführungen ziemlich überzeugt, als ein Zufall mich in die Dresdner
Sammlung führte, wo gerade Professor Treu seine Versuche anstellte. Er hatte
damals als Objekte seiner Experimente die Gipsabgüsse der Dresdner Amazone in
halber Lebensgröße und des Kopfes der melischer Aphrodite gewählt. Frappirte mich
schou die Bemalung der Statuette, so empfand ich die naturalistische Bemalung
des Venuskopfes geradezu als Beleidigung meines ästhetischen Gefühls. Keine
Überredung von der historischen Wahrscheinlichkeit, keine noch so oft wiederholte
Betrachtung konnte diesen Eindruck in mir verwische«. Mir war, man verzeihe
den Vergleich, als sehe ich ein hochverehrtes ideales weibliches Wesen, das in
meiner Phantasie kaum Farben gewonnen, plötzlich geschminkt und gepudert auf
mich zuschreiten in der unnatürlichen Wirklichkeit gemeinen Lebens. Ein Gefühl
der Enttäuschung und des Ekels bemächtigte sich meiner. Nicht so heftig
empfand ich die Bemalung der Amazoneustatuette. Die Erklärung dieser Ver¬
schiedenheit des Eindrucks führt uus zu der zweiten Bedingung des Knnst-
stiles, nämlich zu dem Gegenstande der Darstellung und seiner Bestimmung,


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[0634] Sollen wir unsre Statuen bemalen? fruchtloser Versuch gewesen, der zeitgenössischen Kunst von wissenschaftlichem Standpunkt aus die Richtung vorzuschreiben. Auf die schlimmen Folgen eines solchen Verfahrens weist Treu selbst hin, indem er angiebt, daß „die Polh- chromie aus der Plastik erst durch ein archäologisches Mißverständnis der Re¬ naissancezeit hinausgedrängt worden ist." Wer bürgt dafür, daß wir uicht heute auf dem besten Wege sind, sie durch ein „archäologisches Mißverständnis" wieder in unsre Kunst einzuführen? Ich halte es sogar für ein sehr verderbliches Mi߬ verständnis von kunstwissenschaftlicher Seite, den Naturalismus der heutigen Kunst zu unterstützen und auf Wege leiten zu wollen, auf welche er trotz seiner sonstigen Unbefangenheit sich noch nicht gewagt hat. Ist denn aber dieser Na¬ turalismus wirklich ein Ausdruck der gesamten Geistesrichtung unsrer Zeit, oder nicht vielmehr nur ein gährendes Übergangsstadium, dessen Ende man be¬ schleunigen, aber nicht hinausschieben sollte? Ist, was unsre spezielle Frage anlangt, für die Ansicht Trens bereits eine Majorität gewonnen, die zu so ent¬ schiedenem Auftreten im Namen unsers so „realistisch und farbeulnftig gestimmten Geschlechtes" berechtigt? Ich glaube, mein. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, wie weit historisch gewonnene Er¬ kenntnis von einer ästhetischen Überzeugung verschieden ist. Ich hatte mich mit dem literarischen Material, das die Diskussion über polychrome Plastik schon seit langer Zeit niedergeschlagen hatte (bereits vor Quatremere de Quinch hatten sich Winckelmann, Herder u. a. mit der Frage beschäftigt), ziemlich vertraut ge¬ macht und daraus die Überzeugung gewonnen, daß an der historischen Über¬ lieferung der Polychromie kein Zweifel sei, obschon diese Überlieferung nur die von Kugler (Kleine Schriften I, 265) zusammengestellten Belegstellen anführen konnte und damit Grenzen zog, welche Semper n. a. nicht anerkennen mochten. Ich war sogar von Sempers weitergehenden und zu geistvollen Antithesen zu¬ gespitzten Ausführungen ziemlich überzeugt, als ein Zufall mich in die Dresdner Sammlung führte, wo gerade Professor Treu seine Versuche anstellte. Er hatte damals als Objekte seiner Experimente die Gipsabgüsse der Dresdner Amazone in halber Lebensgröße und des Kopfes der melischer Aphrodite gewählt. Frappirte mich schou die Bemalung der Statuette, so empfand ich die naturalistische Bemalung des Venuskopfes geradezu als Beleidigung meines ästhetischen Gefühls. Keine Überredung von der historischen Wahrscheinlichkeit, keine noch so oft wiederholte Betrachtung konnte diesen Eindruck in mir verwische«. Mir war, man verzeihe den Vergleich, als sehe ich ein hochverehrtes ideales weibliches Wesen, das in meiner Phantasie kaum Farben gewonnen, plötzlich geschminkt und gepudert auf mich zuschreiten in der unnatürlichen Wirklichkeit gemeinen Lebens. Ein Gefühl der Enttäuschung und des Ekels bemächtigte sich meiner. Nicht so heftig empfand ich die Bemalung der Amazoneustatuette. Die Erklärung dieser Ver¬ schiedenheit des Eindrucks führt uus zu der zweiten Bedingung des Knnst- stiles, nämlich zu dem Gegenstande der Darstellung und seiner Bestimmung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/634>, abgerufen am 22.07.2024.