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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das sächsische Sibirien.

Nun glaubt er selbst den Berggeist zu sehen, er flieht und drängt die andern
zurück, von dein Geiste verfolgt. Schon hat er seinen Fuß auf die erste Sprosse
der Fahrt gesetzt, da erhält er einen heftigen Stoß in die Kniekehle und bricht
ohnmächtig zusammen. So muß der Obersteiger, ein ehrwürdiger, im Dienste
ergrauter Herr, selbst in die Tiefe hinab, und siehe, neben dem noch immer be¬
sinnungslos am Boden liegenden Steiger steht, freudig ihm entgegenmeckernd,
ein Ziegenbock, der in den aus Versehen den Sonntag über unbedeckt gebliebenen
Schacht hinabgestürzt und auf dem sumpfigen Boden unversehrt angekommen
war. Da die Bedingungen, welche das Aufkommen von bergmännischen Sagen
begünstigen, allerwärts fast dieselben sind, so kann es uns nicht wundern, wenn
die gleichen Erzählungen sich in wenig veränderter Gestalt in Sachsen, Schlesien,
im Harz, am Rhein, in Süddeutschland, Österreich und andern Bergwerks¬
distrikten wiederfinden. In vielen Fällen wird die Ähnlichkeit aber auch daraus
erklärt werdeu müssen, daß die Sage von auswandernden Bergleuten in die
neue Heimat verpflanzt worden ist. Erhalten haben sich die Sagen im Munde
der Arbeiter fast nnr bei den Bergleuten auf Erzgruben, selten in den verhält¬
nismäßig jungen Kvhlenwerken, und sie schwinden von Jahr zu Jahr, je mehr
der Bergmannsberuf aufhört, einen in sich abgeschlossenen Stand zu bilden, je
mehr er zur Nebenbeschäftigung etwa von Bauern, Maurern und Zimmerleuten
herabsinkt, welche sich den Winter über als Bergleute anlegen lassen und im
Frühling zu ihrer leichteren und lohnenderen Arbeit über der Erde zurückkehren.
Der gesamte Stoff wird von Wrnbel in vier Gruppen vorgelegt: 1. Wie
Bergwerke gefunden wurden. 2. Sagen vom Berggeist, wobei bemerkenswert
ist, daß die ursprüngliche Sage nur einen Berggeist kennt, dessen Macht sich
lediglich auf die unterirdischen Räume erstreckt; Sagen, in denen eine Mehrzahl
auftritt, oder in denen der Geist auch außerhalb der Grube erscheint, sind durch
Vermengung mit Zwergsageu entstanden. 3. Sagen von den Venedigern, d. h.
von italienischen Alchymisten, die goldhaltige Erze aus Deutschland holten, und
denen selbst oft dämonische Kräfte beigelegt sind. 4. Vermischte Sagen. Der
Verfasser ist zu seiner Arbeit in hervorragendem Maße berufen gewesen. In
einem Bergwerksdistrittc geboren und erzogen, selbst Bergmann und zugleich
wissenschaftlich gebildet, besitzt er alle erforderlichen Eigenschaften, um seine
Schrift zu einem anziehenden Beitrage zur Sagenforschung zu gestalte": ein
warmes Herz und volles Verständnis für das Bergmannsleben und seine Poesie,
dazu zweckmäßige Methode, welche ihn vor den: so vielen Sagensammluugen
anhaftenden Dilettantismus im ganzen bewahrt hat. Als ein Zugeständnis an
den Geschmack des großen Publikums ist es freilich zu bezeichnen, daß mehrere
Sagen in novellistischer Form mitgeteilt sind. Der Sammlung geht ein warm
empfehlendes Vorwort von Professor Dr. Anton Virlinger, dem Lehrer Wrubels
an der Universität Bonn, voraus, worin dem Buche verdiente Anerkennung
zuteil wird.


Das sächsische Sibirien.

Nun glaubt er selbst den Berggeist zu sehen, er flieht und drängt die andern
zurück, von dein Geiste verfolgt. Schon hat er seinen Fuß auf die erste Sprosse
der Fahrt gesetzt, da erhält er einen heftigen Stoß in die Kniekehle und bricht
ohnmächtig zusammen. So muß der Obersteiger, ein ehrwürdiger, im Dienste
ergrauter Herr, selbst in die Tiefe hinab, und siehe, neben dem noch immer be¬
sinnungslos am Boden liegenden Steiger steht, freudig ihm entgegenmeckernd,
ein Ziegenbock, der in den aus Versehen den Sonntag über unbedeckt gebliebenen
Schacht hinabgestürzt und auf dem sumpfigen Boden unversehrt angekommen
war. Da die Bedingungen, welche das Aufkommen von bergmännischen Sagen
begünstigen, allerwärts fast dieselben sind, so kann es uns nicht wundern, wenn
die gleichen Erzählungen sich in wenig veränderter Gestalt in Sachsen, Schlesien,
im Harz, am Rhein, in Süddeutschland, Österreich und andern Bergwerks¬
distrikten wiederfinden. In vielen Fällen wird die Ähnlichkeit aber auch daraus
erklärt werdeu müssen, daß die Sage von auswandernden Bergleuten in die
neue Heimat verpflanzt worden ist. Erhalten haben sich die Sagen im Munde
der Arbeiter fast nnr bei den Bergleuten auf Erzgruben, selten in den verhält¬
nismäßig jungen Kvhlenwerken, und sie schwinden von Jahr zu Jahr, je mehr
der Bergmannsberuf aufhört, einen in sich abgeschlossenen Stand zu bilden, je
mehr er zur Nebenbeschäftigung etwa von Bauern, Maurern und Zimmerleuten
herabsinkt, welche sich den Winter über als Bergleute anlegen lassen und im
Frühling zu ihrer leichteren und lohnenderen Arbeit über der Erde zurückkehren.
Der gesamte Stoff wird von Wrnbel in vier Gruppen vorgelegt: 1. Wie
Bergwerke gefunden wurden. 2. Sagen vom Berggeist, wobei bemerkenswert
ist, daß die ursprüngliche Sage nur einen Berggeist kennt, dessen Macht sich
lediglich auf die unterirdischen Räume erstreckt; Sagen, in denen eine Mehrzahl
auftritt, oder in denen der Geist auch außerhalb der Grube erscheint, sind durch
Vermengung mit Zwergsageu entstanden. 3. Sagen von den Venedigern, d. h.
von italienischen Alchymisten, die goldhaltige Erze aus Deutschland holten, und
denen selbst oft dämonische Kräfte beigelegt sind. 4. Vermischte Sagen. Der
Verfasser ist zu seiner Arbeit in hervorragendem Maße berufen gewesen. In
einem Bergwerksdistrittc geboren und erzogen, selbst Bergmann und zugleich
wissenschaftlich gebildet, besitzt er alle erforderlichen Eigenschaften, um seine
Schrift zu einem anziehenden Beitrage zur Sagenforschung zu gestalte»: ein
warmes Herz und volles Verständnis für das Bergmannsleben und seine Poesie,
dazu zweckmäßige Methode, welche ihn vor den: so vielen Sagensammluugen
anhaftenden Dilettantismus im ganzen bewahrt hat. Als ein Zugeständnis an
den Geschmack des großen Publikums ist es freilich zu bezeichnen, daß mehrere
Sagen in novellistischer Form mitgeteilt sind. Der Sammlung geht ein warm
empfehlendes Vorwort von Professor Dr. Anton Virlinger, dem Lehrer Wrubels
an der Universität Bonn, voraus, worin dem Buche verdiente Anerkennung
zuteil wird.


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[0623] Das sächsische Sibirien. Nun glaubt er selbst den Berggeist zu sehen, er flieht und drängt die andern zurück, von dein Geiste verfolgt. Schon hat er seinen Fuß auf die erste Sprosse der Fahrt gesetzt, da erhält er einen heftigen Stoß in die Kniekehle und bricht ohnmächtig zusammen. So muß der Obersteiger, ein ehrwürdiger, im Dienste ergrauter Herr, selbst in die Tiefe hinab, und siehe, neben dem noch immer be¬ sinnungslos am Boden liegenden Steiger steht, freudig ihm entgegenmeckernd, ein Ziegenbock, der in den aus Versehen den Sonntag über unbedeckt gebliebenen Schacht hinabgestürzt und auf dem sumpfigen Boden unversehrt angekommen war. Da die Bedingungen, welche das Aufkommen von bergmännischen Sagen begünstigen, allerwärts fast dieselben sind, so kann es uns nicht wundern, wenn die gleichen Erzählungen sich in wenig veränderter Gestalt in Sachsen, Schlesien, im Harz, am Rhein, in Süddeutschland, Österreich und andern Bergwerks¬ distrikten wiederfinden. In vielen Fällen wird die Ähnlichkeit aber auch daraus erklärt werdeu müssen, daß die Sage von auswandernden Bergleuten in die neue Heimat verpflanzt worden ist. Erhalten haben sich die Sagen im Munde der Arbeiter fast nnr bei den Bergleuten auf Erzgruben, selten in den verhält¬ nismäßig jungen Kvhlenwerken, und sie schwinden von Jahr zu Jahr, je mehr der Bergmannsberuf aufhört, einen in sich abgeschlossenen Stand zu bilden, je mehr er zur Nebenbeschäftigung etwa von Bauern, Maurern und Zimmerleuten herabsinkt, welche sich den Winter über als Bergleute anlegen lassen und im Frühling zu ihrer leichteren und lohnenderen Arbeit über der Erde zurückkehren. Der gesamte Stoff wird von Wrnbel in vier Gruppen vorgelegt: 1. Wie Bergwerke gefunden wurden. 2. Sagen vom Berggeist, wobei bemerkenswert ist, daß die ursprüngliche Sage nur einen Berggeist kennt, dessen Macht sich lediglich auf die unterirdischen Räume erstreckt; Sagen, in denen eine Mehrzahl auftritt, oder in denen der Geist auch außerhalb der Grube erscheint, sind durch Vermengung mit Zwergsageu entstanden. 3. Sagen von den Venedigern, d. h. von italienischen Alchymisten, die goldhaltige Erze aus Deutschland holten, und denen selbst oft dämonische Kräfte beigelegt sind. 4. Vermischte Sagen. Der Verfasser ist zu seiner Arbeit in hervorragendem Maße berufen gewesen. In einem Bergwerksdistrittc geboren und erzogen, selbst Bergmann und zugleich wissenschaftlich gebildet, besitzt er alle erforderlichen Eigenschaften, um seine Schrift zu einem anziehenden Beitrage zur Sagenforschung zu gestalte»: ein warmes Herz und volles Verständnis für das Bergmannsleben und seine Poesie, dazu zweckmäßige Methode, welche ihn vor den: so vielen Sagensammluugen anhaftenden Dilettantismus im ganzen bewahrt hat. Als ein Zugeständnis an den Geschmack des großen Publikums ist es freilich zu bezeichnen, daß mehrere Sagen in novellistischer Form mitgeteilt sind. Der Sammlung geht ein warm empfehlendes Vorwort von Professor Dr. Anton Virlinger, dem Lehrer Wrubels an der Universität Bonn, voraus, worin dem Buche verdiente Anerkennung zuteil wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/623>, abgerufen am 22.07.2024.