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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die dramatische Kunst G. von lvildenbruchs.

sorties den Bruder zu befreien, wie kaun er dieses und seine uoch höhern Ziele
so ganz und gar aus den Augen verlieren? Er stürzt sich in das Turnier,
als wenn ein Kuß von seiner Geliebten die für das Wohl seines Volkes un¬
erläßlichste Aktion wäre, er schwört seinen Feinden Eide mit einer Leichtfertigkeit,
als ob es um ein Spiel und nicht um Königreiche ginge. Diese thörichte,
unglückselige Intrigue! Aber sie paßt in den Plan des Dichters, um die hohen
vaterländischen Absichten Harolds nicht zu unterstützen, sondern zu vernichten.
Der Sachse muß den Eid schwören, den er nicht hält, damit sein Untergang
motivirt werde.

Indessen dieser Eid ist gar kein Eid. Harold bezieht sich mit seinem
Schwur nur auf die in der Normandie gelegenen Güter des englischen Königs,
keineswegs auf dessen Reich selbst. Sonst hat wohl ein Schwörender den
übrigen Kontrahenten gegenüber seine röMi-og-tlo msoig,1i8 gemacht und, obgleich
er der Betrüger war, sich zu den Forderungen seines Gegners nicht verpflichtet
erachtet. Hier ist der umgekehrte Fall. Harold ist nicht der Täuschende, sondern
der Getäuschte. Kein Mensch würde die ihm aus einem solchen Schwur auf¬
erlegte Verpflichtung anerkennen, und mich Harold sollte sich freuen, daß er
bei aller seiner Thorheit nicht schlimmer wegkommt. Als ihm gleich nach der
Leistung des Eides die Bosheit des Feindes bekannt wird, da ist es Zeit, den
Fehler wieder gutzumachen. Er hätte List mit List überbieten und den Nor¬
mannen seine wahre Meinung verbergen sollen. Das beste Recht war auf seiner
Seite: mit gutem Gewissen hätte er Bruder und Braut in die Heimat geführt,
was die Zukunft brachte, konnte er sorgloser erwarten als die treulosen
Feinde. Allein Wildenbruch sieht auch hier seinen Vorteil nicht ein. Von
allen Dingen, die sein Held thun kann, läßt er ihn gerade das thörichtste
wählen und unter wütenden Anklagen gegen die Feinde, welche ihn in der
Gewalt haben, sein ganzes Innere offenbaren. Der Held Harold, der schon
lange kein Held mehr ist, überbietet seine frühern Verkehrtheiten nun mit Toll¬
heiten. Ein Rasender verläßt er Frankreich, ein Rasender kommt er in London
an, und so rast er sich und sein Volk ins Verderben.

Was hat Wildenbruch, indem er das Gesetz über die Einheit der Handlung
außer Acht gelassen hat, ans dem historischen, dem im Glänze höchsten Helden¬
tums strahlenden Harold gemacht! Vergegenwärtigen wir uns einmal, wie ihn
Geschichte und Dichtung überliefern. Wilhelm von der Normandie und Harold,
Graf Godwins Sohn, machen für den Fall des Ablebens König Eduards An¬
sprüche auf den englischen Thron. Da will es der Zufall, daß der letztere
eines Tages, an der Küste von England entlangfahrend, vom Sturme an den
Strand der Normandie geworfen wird. In die Gefangenschaft seines Gegners
geraten, wird er durch grausame Haft gezwungen, mit einem Eide auf den
Besitz von England zu verzichten. Harold leistet den Eid, ohne einen Augen¬
blick daran zu denken, ihn anch halten zu wollen. Nach England zurückgekehrt,


Die dramatische Kunst G. von lvildenbruchs.

sorties den Bruder zu befreien, wie kaun er dieses und seine uoch höhern Ziele
so ganz und gar aus den Augen verlieren? Er stürzt sich in das Turnier,
als wenn ein Kuß von seiner Geliebten die für das Wohl seines Volkes un¬
erläßlichste Aktion wäre, er schwört seinen Feinden Eide mit einer Leichtfertigkeit,
als ob es um ein Spiel und nicht um Königreiche ginge. Diese thörichte,
unglückselige Intrigue! Aber sie paßt in den Plan des Dichters, um die hohen
vaterländischen Absichten Harolds nicht zu unterstützen, sondern zu vernichten.
Der Sachse muß den Eid schwören, den er nicht hält, damit sein Untergang
motivirt werde.

Indessen dieser Eid ist gar kein Eid. Harold bezieht sich mit seinem
Schwur nur auf die in der Normandie gelegenen Güter des englischen Königs,
keineswegs auf dessen Reich selbst. Sonst hat wohl ein Schwörender den
übrigen Kontrahenten gegenüber seine röMi-og-tlo msoig,1i8 gemacht und, obgleich
er der Betrüger war, sich zu den Forderungen seines Gegners nicht verpflichtet
erachtet. Hier ist der umgekehrte Fall. Harold ist nicht der Täuschende, sondern
der Getäuschte. Kein Mensch würde die ihm aus einem solchen Schwur auf¬
erlegte Verpflichtung anerkennen, und mich Harold sollte sich freuen, daß er
bei aller seiner Thorheit nicht schlimmer wegkommt. Als ihm gleich nach der
Leistung des Eides die Bosheit des Feindes bekannt wird, da ist es Zeit, den
Fehler wieder gutzumachen. Er hätte List mit List überbieten und den Nor¬
mannen seine wahre Meinung verbergen sollen. Das beste Recht war auf seiner
Seite: mit gutem Gewissen hätte er Bruder und Braut in die Heimat geführt,
was die Zukunft brachte, konnte er sorgloser erwarten als die treulosen
Feinde. Allein Wildenbruch sieht auch hier seinen Vorteil nicht ein. Von
allen Dingen, die sein Held thun kann, läßt er ihn gerade das thörichtste
wählen und unter wütenden Anklagen gegen die Feinde, welche ihn in der
Gewalt haben, sein ganzes Innere offenbaren. Der Held Harold, der schon
lange kein Held mehr ist, überbietet seine frühern Verkehrtheiten nun mit Toll¬
heiten. Ein Rasender verläßt er Frankreich, ein Rasender kommt er in London
an, und so rast er sich und sein Volk ins Verderben.

Was hat Wildenbruch, indem er das Gesetz über die Einheit der Handlung
außer Acht gelassen hat, ans dem historischen, dem im Glänze höchsten Helden¬
tums strahlenden Harold gemacht! Vergegenwärtigen wir uns einmal, wie ihn
Geschichte und Dichtung überliefern. Wilhelm von der Normandie und Harold,
Graf Godwins Sohn, machen für den Fall des Ablebens König Eduards An¬
sprüche auf den englischen Thron. Da will es der Zufall, daß der letztere
eines Tages, an der Küste von England entlangfahrend, vom Sturme an den
Strand der Normandie geworfen wird. In die Gefangenschaft seines Gegners
geraten, wird er durch grausame Haft gezwungen, mit einem Eide auf den
Besitz von England zu verzichten. Harold leistet den Eid, ohne einen Augen¬
blick daran zu denken, ihn anch halten zu wollen. Nach England zurückgekehrt,


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[0525] Die dramatische Kunst G. von lvildenbruchs. sorties den Bruder zu befreien, wie kaun er dieses und seine uoch höhern Ziele so ganz und gar aus den Augen verlieren? Er stürzt sich in das Turnier, als wenn ein Kuß von seiner Geliebten die für das Wohl seines Volkes un¬ erläßlichste Aktion wäre, er schwört seinen Feinden Eide mit einer Leichtfertigkeit, als ob es um ein Spiel und nicht um Königreiche ginge. Diese thörichte, unglückselige Intrigue! Aber sie paßt in den Plan des Dichters, um die hohen vaterländischen Absichten Harolds nicht zu unterstützen, sondern zu vernichten. Der Sachse muß den Eid schwören, den er nicht hält, damit sein Untergang motivirt werde. Indessen dieser Eid ist gar kein Eid. Harold bezieht sich mit seinem Schwur nur auf die in der Normandie gelegenen Güter des englischen Königs, keineswegs auf dessen Reich selbst. Sonst hat wohl ein Schwörender den übrigen Kontrahenten gegenüber seine röMi-og-tlo msoig,1i8 gemacht und, obgleich er der Betrüger war, sich zu den Forderungen seines Gegners nicht verpflichtet erachtet. Hier ist der umgekehrte Fall. Harold ist nicht der Täuschende, sondern der Getäuschte. Kein Mensch würde die ihm aus einem solchen Schwur auf¬ erlegte Verpflichtung anerkennen, und mich Harold sollte sich freuen, daß er bei aller seiner Thorheit nicht schlimmer wegkommt. Als ihm gleich nach der Leistung des Eides die Bosheit des Feindes bekannt wird, da ist es Zeit, den Fehler wieder gutzumachen. Er hätte List mit List überbieten und den Nor¬ mannen seine wahre Meinung verbergen sollen. Das beste Recht war auf seiner Seite: mit gutem Gewissen hätte er Bruder und Braut in die Heimat geführt, was die Zukunft brachte, konnte er sorgloser erwarten als die treulosen Feinde. Allein Wildenbruch sieht auch hier seinen Vorteil nicht ein. Von allen Dingen, die sein Held thun kann, läßt er ihn gerade das thörichtste wählen und unter wütenden Anklagen gegen die Feinde, welche ihn in der Gewalt haben, sein ganzes Innere offenbaren. Der Held Harold, der schon lange kein Held mehr ist, überbietet seine frühern Verkehrtheiten nun mit Toll¬ heiten. Ein Rasender verläßt er Frankreich, ein Rasender kommt er in London an, und so rast er sich und sein Volk ins Verderben. Was hat Wildenbruch, indem er das Gesetz über die Einheit der Handlung außer Acht gelassen hat, ans dem historischen, dem im Glänze höchsten Helden¬ tums strahlenden Harold gemacht! Vergegenwärtigen wir uns einmal, wie ihn Geschichte und Dichtung überliefern. Wilhelm von der Normandie und Harold, Graf Godwins Sohn, machen für den Fall des Ablebens König Eduards An¬ sprüche auf den englischen Thron. Da will es der Zufall, daß der letztere eines Tages, an der Küste von England entlangfahrend, vom Sturme an den Strand der Normandie geworfen wird. In die Gefangenschaft seines Gegners geraten, wird er durch grausame Haft gezwungen, mit einem Eide auf den Besitz von England zu verzichten. Harold leistet den Eid, ohne einen Augen¬ blick daran zu denken, ihn anch halten zu wollen. Nach England zurückgekehrt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/525>, abgerufen am 22.07.2024.