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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwein Turgenjew in seine" Briefe".

wollte. Wir können ihnen schon ans dem Grunde nicht viel helfen, weil die
Türken mehr und besser bewaffnete Soldaten haben als wir."

Treffliches Material bieten die Briefe Turgenjews zur Charakteristik der
neuern russischen Literatur. Jede wichtigere Erscheinung derselben, jeder frisch
auftauchende Autor, jedes man erscheinende Buch von Bedeutung wird in mar¬
kanter Weise, mit feiner poetischer Empfindung und kritisch geschulten Auge
charakterisirt. Der Kenner der russische" Literatur wird manchen dankenswerten
Hinweis, manchen Anhaltepunkt für das Verständnis der eigenartigen sarma-
tischen Poesie in den Briefen finden. Dostojewski und Gvutscharow, L. Tvlstoj
und sein Vetter Alexej Tolstvj, Schtschedrin, Ostrowski, Pisemski, Nekrassow -
diese und viele andre Großen niederen Ranges treten uns an ungezählten Stellen
aus der Korrespondenz des Hingeschiedenen entgegen. Für unser weiteres Pu¬
blikum setzen wir nur noch zum Schluß ein interessantes Schriftstück her --
das literarische Testament Iwan Turgenjews, schlicht, edel und bündig, wie er
selber gewesen. Am 3. Juli 1883, sechs Wochen vor dem Tode des Dichters,
kam ein Brief aus Bvugival in der Gouvernemcntsstadt Tula an, in deren Nähe
der großrussische Sittenschilderer.Leon Tolstoj einsam und zurückgezogen, in
mystisches Brüten versunken, seit Jahren der schriftstellerischen Thätigkeit ent¬
sagend, auf seinem Stammgute sitzt. Mit zitternder Hand, die kaum den Blei¬
stift hielt, schrieb Turgenjew dem Grafen, dem er stets den literarischen Vor¬
rang zugestanden hatte:

"Lieber und teurer Leon Nikolajewitsch! Ich habe Ihnen lange nicht ge¬
schrieben, da ich, ohne Umschweife zu reden, auf dem Sterbebette liege. Ich
kann nicht mehr gesund werden. Ich schreibe Ihnen hauptsächlich, um Ihnen
zu sagen, wie glücklich ich war, Ihr Zeitgenosse zu sein, und um Ihnen meine
letzte, innigste Bitte auszudrücken. Mein Freund! Kehren Sie zur literarischen
Thätigkeit zurück! Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich hoffen könnte, daß
meine Bitte Sie dazu bewegen würde. . . . Mein Freund, großer Schriftsteller
des Reußenlandes, vernimm meine Bitte! Laß dir noch einmal die Hand drücken
und dich samt den Deinigen 'umarmen! ... Es geht nicht weiter ... ich bin
erschöpft."




Iwein Turgenjew in seine» Briefe».

wollte. Wir können ihnen schon ans dem Grunde nicht viel helfen, weil die
Türken mehr und besser bewaffnete Soldaten haben als wir."

Treffliches Material bieten die Briefe Turgenjews zur Charakteristik der
neuern russischen Literatur. Jede wichtigere Erscheinung derselben, jeder frisch
auftauchende Autor, jedes man erscheinende Buch von Bedeutung wird in mar¬
kanter Weise, mit feiner poetischer Empfindung und kritisch geschulten Auge
charakterisirt. Der Kenner der russische» Literatur wird manchen dankenswerten
Hinweis, manchen Anhaltepunkt für das Verständnis der eigenartigen sarma-
tischen Poesie in den Briefen finden. Dostojewski und Gvutscharow, L. Tvlstoj
und sein Vetter Alexej Tolstvj, Schtschedrin, Ostrowski, Pisemski, Nekrassow -
diese und viele andre Großen niederen Ranges treten uns an ungezählten Stellen
aus der Korrespondenz des Hingeschiedenen entgegen. Für unser weiteres Pu¬
blikum setzen wir nur noch zum Schluß ein interessantes Schriftstück her —
das literarische Testament Iwan Turgenjews, schlicht, edel und bündig, wie er
selber gewesen. Am 3. Juli 1883, sechs Wochen vor dem Tode des Dichters,
kam ein Brief aus Bvugival in der Gouvernemcntsstadt Tula an, in deren Nähe
der großrussische Sittenschilderer.Leon Tolstoj einsam und zurückgezogen, in
mystisches Brüten versunken, seit Jahren der schriftstellerischen Thätigkeit ent¬
sagend, auf seinem Stammgute sitzt. Mit zitternder Hand, die kaum den Blei¬
stift hielt, schrieb Turgenjew dem Grafen, dem er stets den literarischen Vor¬
rang zugestanden hatte:

„Lieber und teurer Leon Nikolajewitsch! Ich habe Ihnen lange nicht ge¬
schrieben, da ich, ohne Umschweife zu reden, auf dem Sterbebette liege. Ich
kann nicht mehr gesund werden. Ich schreibe Ihnen hauptsächlich, um Ihnen
zu sagen, wie glücklich ich war, Ihr Zeitgenosse zu sein, und um Ihnen meine
letzte, innigste Bitte auszudrücken. Mein Freund! Kehren Sie zur literarischen
Thätigkeit zurück! Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich hoffen könnte, daß
meine Bitte Sie dazu bewegen würde. . . . Mein Freund, großer Schriftsteller
des Reußenlandes, vernimm meine Bitte! Laß dir noch einmal die Hand drücken
und dich samt den Deinigen 'umarmen! ... Es geht nicht weiter ... ich bin
erschöpft."




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[0474] Iwein Turgenjew in seine» Briefe». wollte. Wir können ihnen schon ans dem Grunde nicht viel helfen, weil die Türken mehr und besser bewaffnete Soldaten haben als wir." Treffliches Material bieten die Briefe Turgenjews zur Charakteristik der neuern russischen Literatur. Jede wichtigere Erscheinung derselben, jeder frisch auftauchende Autor, jedes man erscheinende Buch von Bedeutung wird in mar¬ kanter Weise, mit feiner poetischer Empfindung und kritisch geschulten Auge charakterisirt. Der Kenner der russische» Literatur wird manchen dankenswerten Hinweis, manchen Anhaltepunkt für das Verständnis der eigenartigen sarma- tischen Poesie in den Briefen finden. Dostojewski und Gvutscharow, L. Tvlstoj und sein Vetter Alexej Tolstvj, Schtschedrin, Ostrowski, Pisemski, Nekrassow - diese und viele andre Großen niederen Ranges treten uns an ungezählten Stellen aus der Korrespondenz des Hingeschiedenen entgegen. Für unser weiteres Pu¬ blikum setzen wir nur noch zum Schluß ein interessantes Schriftstück her — das literarische Testament Iwan Turgenjews, schlicht, edel und bündig, wie er selber gewesen. Am 3. Juli 1883, sechs Wochen vor dem Tode des Dichters, kam ein Brief aus Bvugival in der Gouvernemcntsstadt Tula an, in deren Nähe der großrussische Sittenschilderer.Leon Tolstoj einsam und zurückgezogen, in mystisches Brüten versunken, seit Jahren der schriftstellerischen Thätigkeit ent¬ sagend, auf seinem Stammgute sitzt. Mit zitternder Hand, die kaum den Blei¬ stift hielt, schrieb Turgenjew dem Grafen, dem er stets den literarischen Vor¬ rang zugestanden hatte: „Lieber und teurer Leon Nikolajewitsch! Ich habe Ihnen lange nicht ge¬ schrieben, da ich, ohne Umschweife zu reden, auf dem Sterbebette liege. Ich kann nicht mehr gesund werden. Ich schreibe Ihnen hauptsächlich, um Ihnen zu sagen, wie glücklich ich war, Ihr Zeitgenosse zu sein, und um Ihnen meine letzte, innigste Bitte auszudrücken. Mein Freund! Kehren Sie zur literarischen Thätigkeit zurück! Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich hoffen könnte, daß meine Bitte Sie dazu bewegen würde. . . . Mein Freund, großer Schriftsteller des Reußenlandes, vernimm meine Bitte! Laß dir noch einmal die Hand drücken und dich samt den Deinigen 'umarmen! ... Es geht nicht weiter ... ich bin erschöpft."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/474>, abgerufen am 22.07.2024.