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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iman Turgenjew in seinen Briefen.

Leider blieb die Kunst das einzige Gebiet, auf welchem russisches Volks-
tum zu einiger Blüte gelangte. Im übrigen war das geistige und gesellschaft¬
liche Leben in Nußland krank, von Gegensätzen und Zwiespalt zersetzt. Alle
schrieen nach Hilfe und Genesung, jeder schlug ein andres Heilmittel vor, und
endlich behielt jene enragirte Panslawistenpartei die Oberhand, die in einem
neuen Kreuzzug nach der Balkanhalbinsel die einzige Rettung sah. In welchem
Sinne Turgenjew diese Blut- und Eisenkur auffaßte, haben wir oben bereits
aus einem seiner Briefe an Polonski ersehen. Turgenjew sah die
Situation vor dem Türkenkriege in den düstersten Farben: "Wieder einmal,
schreibt er kurz vor Ausbruch der Katastrophe an Polonski, tritt bei uns in
Nußland der charakteristische Zug zutage, den man schon so oft beobachtet
hat: alle unsre Volkskrankhcitcn, unsre Trägheit, Schlaffheit, Hohlheit und
Langeweile wollen wir mit einemmale loswerden, so wie man einen Zahn be¬
spricht. Bald soll ein "großer Mann," bald die Naturwissenschaften, bald ein
Krieg die "große Medizin" sein. Eins, zwei, drei -- und schon sind wir
gesund! Jetzt halten wirs wieder einmal mit dem Krieg. All das sind Zeichen
einer geringen Verstandesentwicklnng und -- offen gesagt -- eines Mangels
an Bildung. . . . Nun über Tschernajew,*) für den Ihr so gewaltig schwärmt.
Mag dieser Held meinetwegen unfähig sein -- wenn er wenigstens ein einfacher
russischer General im Genre N. N.'s wäre, auf blanker Erde schliefe und
trockenes Brot äße -- nun, so könnte man wenigstens das an ihm rühmen.
Du kennst das Sprichwort: Auf Cäsars Frau darf auch nicht ein Schatten
von Argwohn fallen -- so stehts auch mit dem russischen General in Serbien.
Er durfte keinen Anlaß zu den Gerüchten geben, die über ihn im Gange find,
durfte in feinem Stäbe solche. . . wie M. nicht dulden, die sich alles heraus¬
nehmen. Da kommt nun dieser . . . dieser Tschcrnajew nach Wien mit einer
Suite von sechsundzwanzig Offizieren, mit einer Leibwache und einem Privat¬
sekretär, steigt im ersten Hotel ab und sitzt im Theater in der kaiserlichen Loge.
Dieser General, an dessen gutem Ruf kein Fetzen mehr heil ist, empfängt
Korrespondenzen, giebt Audienzen. . . . Und das ist ein russischer Held? Pfui,
pfui! ... Du meinst, ich müsse den Muhammedanismus für eine niedriger-
stehendc, dürftigere Weltanschauung halten als das Christentum. Da bist du
sehr im Irrtum. Nach meiner Ansicht sind es zwei Durchschnitte derselben
Formation. Bei der Befreiung der Bulgaren dürfen wir auch nicht von dem
Gesichtspunkte ausgehen, daß sie Christen sind und die Türken Muhcmunedcmer,
soudern davon, daß die Türken sie morden und plündern. Wahrscheinlich wird
es das russische Volk am Schluß des Jahres schon vergessen haben, daß es
sich ohne Zweck und Nutzen für seine slawischen Brüder in die Schanze schlagen



*) General Tschcrnajew, der bekannte pcmslawistischc Agitator und Bulgarcnapostel.
Iman Turgenjew in seinen Briefen.

Leider blieb die Kunst das einzige Gebiet, auf welchem russisches Volks-
tum zu einiger Blüte gelangte. Im übrigen war das geistige und gesellschaft¬
liche Leben in Nußland krank, von Gegensätzen und Zwiespalt zersetzt. Alle
schrieen nach Hilfe und Genesung, jeder schlug ein andres Heilmittel vor, und
endlich behielt jene enragirte Panslawistenpartei die Oberhand, die in einem
neuen Kreuzzug nach der Balkanhalbinsel die einzige Rettung sah. In welchem
Sinne Turgenjew diese Blut- und Eisenkur auffaßte, haben wir oben bereits
aus einem seiner Briefe an Polonski ersehen. Turgenjew sah die
Situation vor dem Türkenkriege in den düstersten Farben: „Wieder einmal,
schreibt er kurz vor Ausbruch der Katastrophe an Polonski, tritt bei uns in
Nußland der charakteristische Zug zutage, den man schon so oft beobachtet
hat: alle unsre Volkskrankhcitcn, unsre Trägheit, Schlaffheit, Hohlheit und
Langeweile wollen wir mit einemmale loswerden, so wie man einen Zahn be¬
spricht. Bald soll ein „großer Mann," bald die Naturwissenschaften, bald ein
Krieg die „große Medizin" sein. Eins, zwei, drei — und schon sind wir
gesund! Jetzt halten wirs wieder einmal mit dem Krieg. All das sind Zeichen
einer geringen Verstandesentwicklnng und — offen gesagt — eines Mangels
an Bildung. . . . Nun über Tschernajew,*) für den Ihr so gewaltig schwärmt.
Mag dieser Held meinetwegen unfähig sein — wenn er wenigstens ein einfacher
russischer General im Genre N. N.'s wäre, auf blanker Erde schliefe und
trockenes Brot äße — nun, so könnte man wenigstens das an ihm rühmen.
Du kennst das Sprichwort: Auf Cäsars Frau darf auch nicht ein Schatten
von Argwohn fallen — so stehts auch mit dem russischen General in Serbien.
Er durfte keinen Anlaß zu den Gerüchten geben, die über ihn im Gange find,
durfte in feinem Stäbe solche. . . wie M. nicht dulden, die sich alles heraus¬
nehmen. Da kommt nun dieser . . . dieser Tschcrnajew nach Wien mit einer
Suite von sechsundzwanzig Offizieren, mit einer Leibwache und einem Privat¬
sekretär, steigt im ersten Hotel ab und sitzt im Theater in der kaiserlichen Loge.
Dieser General, an dessen gutem Ruf kein Fetzen mehr heil ist, empfängt
Korrespondenzen, giebt Audienzen. . . . Und das ist ein russischer Held? Pfui,
pfui! ... Du meinst, ich müsse den Muhammedanismus für eine niedriger-
stehendc, dürftigere Weltanschauung halten als das Christentum. Da bist du
sehr im Irrtum. Nach meiner Ansicht sind es zwei Durchschnitte derselben
Formation. Bei der Befreiung der Bulgaren dürfen wir auch nicht von dem
Gesichtspunkte ausgehen, daß sie Christen sind und die Türken Muhcmunedcmer,
soudern davon, daß die Türken sie morden und plündern. Wahrscheinlich wird
es das russische Volk am Schluß des Jahres schon vergessen haben, daß es
sich ohne Zweck und Nutzen für seine slawischen Brüder in die Schanze schlagen



*) General Tschcrnajew, der bekannte pcmslawistischc Agitator und Bulgarcnapostel.
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[0473] Iman Turgenjew in seinen Briefen. Leider blieb die Kunst das einzige Gebiet, auf welchem russisches Volks- tum zu einiger Blüte gelangte. Im übrigen war das geistige und gesellschaft¬ liche Leben in Nußland krank, von Gegensätzen und Zwiespalt zersetzt. Alle schrieen nach Hilfe und Genesung, jeder schlug ein andres Heilmittel vor, und endlich behielt jene enragirte Panslawistenpartei die Oberhand, die in einem neuen Kreuzzug nach der Balkanhalbinsel die einzige Rettung sah. In welchem Sinne Turgenjew diese Blut- und Eisenkur auffaßte, haben wir oben bereits aus einem seiner Briefe an Polonski ersehen. Turgenjew sah die Situation vor dem Türkenkriege in den düstersten Farben: „Wieder einmal, schreibt er kurz vor Ausbruch der Katastrophe an Polonski, tritt bei uns in Nußland der charakteristische Zug zutage, den man schon so oft beobachtet hat: alle unsre Volkskrankhcitcn, unsre Trägheit, Schlaffheit, Hohlheit und Langeweile wollen wir mit einemmale loswerden, so wie man einen Zahn be¬ spricht. Bald soll ein „großer Mann," bald die Naturwissenschaften, bald ein Krieg die „große Medizin" sein. Eins, zwei, drei — und schon sind wir gesund! Jetzt halten wirs wieder einmal mit dem Krieg. All das sind Zeichen einer geringen Verstandesentwicklnng und — offen gesagt — eines Mangels an Bildung. . . . Nun über Tschernajew,*) für den Ihr so gewaltig schwärmt. Mag dieser Held meinetwegen unfähig sein — wenn er wenigstens ein einfacher russischer General im Genre N. N.'s wäre, auf blanker Erde schliefe und trockenes Brot äße — nun, so könnte man wenigstens das an ihm rühmen. Du kennst das Sprichwort: Auf Cäsars Frau darf auch nicht ein Schatten von Argwohn fallen — so stehts auch mit dem russischen General in Serbien. Er durfte keinen Anlaß zu den Gerüchten geben, die über ihn im Gange find, durfte in feinem Stäbe solche. . . wie M. nicht dulden, die sich alles heraus¬ nehmen. Da kommt nun dieser . . . dieser Tschcrnajew nach Wien mit einer Suite von sechsundzwanzig Offizieren, mit einer Leibwache und einem Privat¬ sekretär, steigt im ersten Hotel ab und sitzt im Theater in der kaiserlichen Loge. Dieser General, an dessen gutem Ruf kein Fetzen mehr heil ist, empfängt Korrespondenzen, giebt Audienzen. . . . Und das ist ein russischer Held? Pfui, pfui! ... Du meinst, ich müsse den Muhammedanismus für eine niedriger- stehendc, dürftigere Weltanschauung halten als das Christentum. Da bist du sehr im Irrtum. Nach meiner Ansicht sind es zwei Durchschnitte derselben Formation. Bei der Befreiung der Bulgaren dürfen wir auch nicht von dem Gesichtspunkte ausgehen, daß sie Christen sind und die Türken Muhcmunedcmer, soudern davon, daß die Türken sie morden und plündern. Wahrscheinlich wird es das russische Volk am Schluß des Jahres schon vergessen haben, daß es sich ohne Zweck und Nutzen für seine slawischen Brüder in die Schanze schlagen *) General Tschcrnajew, der bekannte pcmslawistischc Agitator und Bulgarcnapostel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/473>, abgerufen am 22.07.2024.