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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

von Gesellschaft und Negierung begonnen hatte, wurde jäh unterbrochen, und
die jungen demokratischen Kräfte, die eine Zeit lang die öffentliche Meinung
bestimmt hatten, fielen hekatombenweise zum Opfer. Aus dem Radikalismus
der fünfziger Jahre entwickelte sich einerseits ein unbestimmter Liberalismus,
andrerseits eine unversöhnliche, zum Äußersten entschlossene Opposition -- der
Nihilismus.

Als Turgenjew in der Mitte der siebziger Jahre seine künstlerische Anf-
merksamkeit von neuem dem sozialen Leben der Heimat zuwandte und, dnrch
den Umschlag der öffentlichen Meinung ermutigt, den Plan zu einem neuen
großen Sittengemälde faßte, war der Nihilismus, obgleich in seiner grellsten
Erscheinung noch latent, bereits ein bedeutungsvoller Faktor des russischen
Lebens geworden. Er nistete tief in den Gemütern der gebildeten und halb¬
gebildeter Jugend, die, um ihre Hoffnungen betrogen, mit einem verzweifelten
liMeiuö! die Bande der in stehenden Ordnung sprengen wollte. Der Radi¬
kalismus der Nihilisten hatte etwas Asiatisch-Rohes angenommen, das sie selber
nicht nnr nicht verleugneten, sondern in ihren terroristischen Programmen offen
zum Ausdruck brachten. Während sowohl die große Litcratnrepoche der Puschkin,
Lermontvw, Gogol, Belinsti, als auch die Sturm- und Drangperiode der fünfziger
Jahre ein durchaus europäisches Gepräge hatte, drang im Nihilismus das
orientalische, fanatisch-starre Element, das im Rnssentum enthalten ist, an die
Oberfläche. Diese Seite des Nihilismus durfte von einem Schilderer desselben
nicht übersehen werden, und auch Turgenjew mußte sie, wenn er tren zeichnen
wollte, gehörig berücksichtigen. Aber Turgenjew hatte sich, zumal in den letzten
Jahrzehnten seines Lebens, so sehr in die europäischen Knltnrtraditionen ein¬
gelebt, daß ihm das volle Verständnis für jenes rohe und urwüchsige, durch
eine nuderthalbhuudertjährige Kultur nicht ausgerottete Element fehlen mußte.

Dieser Mangel zeigte sich denn auch an dem neuen Roman, den der Dichter
im Jahre 1877 unter dem Titel "Die neue Generation" (eigentlich "Now,"
"Neuland") veröffentlichte. Turgenjew wollte in diesem Romane ein Bild des
revolutionären Jung-Rußlands geben, die Hinfälligkeit seiner Theorien beweisen
und die solide, langsame Kulturarbeit auf den praktischen Gebieten des Lebens
als einziges Mittel für die Hebung des russischen Volkstums darstellen. Wie
in allen Dichtungen Turgenjews, so sind auch in der "Neuen Generation" alle
Ingredienzien der Turgenjcwschcn Muse vertreten. Die Spannung und glatte
Entwicklung, die knappe, packende Zeichnung, der poetische WvlMcmg der
Sprache, alles findet sich in derselben wieder. Auch die Typen sind echt:
Neschdanvw, Markelow, Solomin, Marianne, die Maschurin u. s. w. -- sie alle
sind ohne Zweifel nach dem Leben gezeichnet. Aber sie alle sind keine Ver¬
treter des Nihilismus, wie er sich gegen Ende der siebziger Jahre in der
Praxis offenbart hat. Sie sind viel zu liebenswürdig, viel zu delikat, sie sind
eben -- Europäer. So war denn auch der Erfolg des Romans ein ziemlich


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

von Gesellschaft und Negierung begonnen hatte, wurde jäh unterbrochen, und
die jungen demokratischen Kräfte, die eine Zeit lang die öffentliche Meinung
bestimmt hatten, fielen hekatombenweise zum Opfer. Aus dem Radikalismus
der fünfziger Jahre entwickelte sich einerseits ein unbestimmter Liberalismus,
andrerseits eine unversöhnliche, zum Äußersten entschlossene Opposition — der
Nihilismus.

Als Turgenjew in der Mitte der siebziger Jahre seine künstlerische Anf-
merksamkeit von neuem dem sozialen Leben der Heimat zuwandte und, dnrch
den Umschlag der öffentlichen Meinung ermutigt, den Plan zu einem neuen
großen Sittengemälde faßte, war der Nihilismus, obgleich in seiner grellsten
Erscheinung noch latent, bereits ein bedeutungsvoller Faktor des russischen
Lebens geworden. Er nistete tief in den Gemütern der gebildeten und halb¬
gebildeter Jugend, die, um ihre Hoffnungen betrogen, mit einem verzweifelten
liMeiuö! die Bande der in stehenden Ordnung sprengen wollte. Der Radi¬
kalismus der Nihilisten hatte etwas Asiatisch-Rohes angenommen, das sie selber
nicht nnr nicht verleugneten, sondern in ihren terroristischen Programmen offen
zum Ausdruck brachten. Während sowohl die große Litcratnrepoche der Puschkin,
Lermontvw, Gogol, Belinsti, als auch die Sturm- und Drangperiode der fünfziger
Jahre ein durchaus europäisches Gepräge hatte, drang im Nihilismus das
orientalische, fanatisch-starre Element, das im Rnssentum enthalten ist, an die
Oberfläche. Diese Seite des Nihilismus durfte von einem Schilderer desselben
nicht übersehen werden, und auch Turgenjew mußte sie, wenn er tren zeichnen
wollte, gehörig berücksichtigen. Aber Turgenjew hatte sich, zumal in den letzten
Jahrzehnten seines Lebens, so sehr in die europäischen Knltnrtraditionen ein¬
gelebt, daß ihm das volle Verständnis für jenes rohe und urwüchsige, durch
eine nuderthalbhuudertjährige Kultur nicht ausgerottete Element fehlen mußte.

Dieser Mangel zeigte sich denn auch an dem neuen Roman, den der Dichter
im Jahre 1877 unter dem Titel „Die neue Generation" (eigentlich „Now,"
„Neuland") veröffentlichte. Turgenjew wollte in diesem Romane ein Bild des
revolutionären Jung-Rußlands geben, die Hinfälligkeit seiner Theorien beweisen
und die solide, langsame Kulturarbeit auf den praktischen Gebieten des Lebens
als einziges Mittel für die Hebung des russischen Volkstums darstellen. Wie
in allen Dichtungen Turgenjews, so sind auch in der „Neuen Generation" alle
Ingredienzien der Turgenjcwschcn Muse vertreten. Die Spannung und glatte
Entwicklung, die knappe, packende Zeichnung, der poetische WvlMcmg der
Sprache, alles findet sich in derselben wieder. Auch die Typen sind echt:
Neschdanvw, Markelow, Solomin, Marianne, die Maschurin u. s. w. — sie alle
sind ohne Zweifel nach dem Leben gezeichnet. Aber sie alle sind keine Ver¬
treter des Nihilismus, wie er sich gegen Ende der siebziger Jahre in der
Praxis offenbart hat. Sie sind viel zu liebenswürdig, viel zu delikat, sie sind
eben — Europäer. So war denn auch der Erfolg des Romans ein ziemlich


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[0416] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. von Gesellschaft und Negierung begonnen hatte, wurde jäh unterbrochen, und die jungen demokratischen Kräfte, die eine Zeit lang die öffentliche Meinung bestimmt hatten, fielen hekatombenweise zum Opfer. Aus dem Radikalismus der fünfziger Jahre entwickelte sich einerseits ein unbestimmter Liberalismus, andrerseits eine unversöhnliche, zum Äußersten entschlossene Opposition — der Nihilismus. Als Turgenjew in der Mitte der siebziger Jahre seine künstlerische Anf- merksamkeit von neuem dem sozialen Leben der Heimat zuwandte und, dnrch den Umschlag der öffentlichen Meinung ermutigt, den Plan zu einem neuen großen Sittengemälde faßte, war der Nihilismus, obgleich in seiner grellsten Erscheinung noch latent, bereits ein bedeutungsvoller Faktor des russischen Lebens geworden. Er nistete tief in den Gemütern der gebildeten und halb¬ gebildeter Jugend, die, um ihre Hoffnungen betrogen, mit einem verzweifelten liMeiuö! die Bande der in stehenden Ordnung sprengen wollte. Der Radi¬ kalismus der Nihilisten hatte etwas Asiatisch-Rohes angenommen, das sie selber nicht nnr nicht verleugneten, sondern in ihren terroristischen Programmen offen zum Ausdruck brachten. Während sowohl die große Litcratnrepoche der Puschkin, Lermontvw, Gogol, Belinsti, als auch die Sturm- und Drangperiode der fünfziger Jahre ein durchaus europäisches Gepräge hatte, drang im Nihilismus das orientalische, fanatisch-starre Element, das im Rnssentum enthalten ist, an die Oberfläche. Diese Seite des Nihilismus durfte von einem Schilderer desselben nicht übersehen werden, und auch Turgenjew mußte sie, wenn er tren zeichnen wollte, gehörig berücksichtigen. Aber Turgenjew hatte sich, zumal in den letzten Jahrzehnten seines Lebens, so sehr in die europäischen Knltnrtraditionen ein¬ gelebt, daß ihm das volle Verständnis für jenes rohe und urwüchsige, durch eine nuderthalbhuudertjährige Kultur nicht ausgerottete Element fehlen mußte. Dieser Mangel zeigte sich denn auch an dem neuen Roman, den der Dichter im Jahre 1877 unter dem Titel „Die neue Generation" (eigentlich „Now," „Neuland") veröffentlichte. Turgenjew wollte in diesem Romane ein Bild des revolutionären Jung-Rußlands geben, die Hinfälligkeit seiner Theorien beweisen und die solide, langsame Kulturarbeit auf den praktischen Gebieten des Lebens als einziges Mittel für die Hebung des russischen Volkstums darstellen. Wie in allen Dichtungen Turgenjews, so sind auch in der „Neuen Generation" alle Ingredienzien der Turgenjcwschcn Muse vertreten. Die Spannung und glatte Entwicklung, die knappe, packende Zeichnung, der poetische WvlMcmg der Sprache, alles findet sich in derselben wieder. Auch die Typen sind echt: Neschdanvw, Markelow, Solomin, Marianne, die Maschurin u. s. w. — sie alle sind ohne Zweifel nach dem Leben gezeichnet. Aber sie alle sind keine Ver¬ treter des Nihilismus, wie er sich gegen Ende der siebziger Jahre in der Praxis offenbart hat. Sie sind viel zu liebenswürdig, viel zu delikat, sie sind eben — Europäer. So war denn auch der Erfolg des Romans ein ziemlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/416>, abgerufen am 22.07.2024.