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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

in der merkwürdigen Entwicklung der russischen Gesellschaft. Die westeuro¬
päische" Ideen und Bestrebungen, welche Peter der Große, Katharina und
Alexander der Erste dem russischen Volksgeiste eingeimpft hatten, waren nach
dem Aufstande der Dekabristen unter Nikolaus jäh in ihrer Entfaltung und
Wirkung gehemmt worden. Nachdem sie dreißig Jahre lang unter schwerem
Druck gelegen hatten, traten sie beim Zusammenbruch des nikolaitischen Systems
mit ungeahnter Gewalt wieder hervor und bemächtigten sich im Moment der
heißen Köpfe der Jugend. Zu den demokratischen Überlieferungen der Deka¬
bristen traten die freien Doktrinen der russischen Hegelianer und die Ideen der
Moskaner nationalen. Aus dem Westen drang eine Hochflut von republika¬
nischen, sozialistischen und materialistischen Gedanken herüber. In einer einzigen
Büchse gleichsam bekamen nun die Russen die Quintessenz aller modernen Ideen,
die seit der französischen Revolution sich allmählich im Westen Europas ent¬
wickelt hatten. Es war ein gefährliches, vorsichtig zu genießendes Elixir, die
Russen aber tranken es in übermäßigen Portionen, um seine Wundenvirkung
zu beschleunigen. Herzens Freiheitsmanifeste, Bakunins revolutionäre Tiraden,
Tschernyschewskis neuer materialistischer Moralkodex, Nekrassows klangvolle
Tendenzdichtungen, die "Enthüllungsromane" Dostojewskis, Gontscharvws,
Pissemskis und Reschetnikows, Schtschedrins Satiren und Dvbroljubows wie
Pissarews schneidige Kritiken -- das war ein Menü von pikanten Speisen, wie
sie nur einem russischen Magen zugemutet werden konnten. Auch Katkow und
die Aksakows zählten damals noch zu den liberalen Herolden, dazu ließen sich
aus Kleinrußland Kostomarow, die Marko Wowtschok und der aus Sibirien
zurückgekehrte Schewtschenko vernehmen. Es war eine Zeit des Sturmes und
Dranges, ebenso gewaltig wie jene, die achtzig Jahre früher über Deutschland
hereingebrochen war. Von deutscher Sentimentalität hatte freilich die russische
Bewegung keine Spur an sich. Hier war alles rauh und scharf, wie das
Klima von Wjätka, alles sinnlich, rücksichtslos, realistisch.

Turgenjew hatte diese Bewegung mit aufrichtiger Freude begrüßt. Sein
"Tagebuch eines Jägers" paßte durchaus in das jungrussische Programm, und
der damals vierzigjährige Dichter, der vermittelnd zwischen den "Neuen" und
der älteren Generation Puschkin-Gogol-Bjelinski stand, wurde mit Anerkennung
und Achtung, gleichsam als Ehrenmitglied in die Zunft der Neuen aufgenommen.
Die Briefe enthalten zahlreiche interessante Daten, die über Turgenjews Ver¬
hältnis zu der zeitgenössischen Literatur jener Jahre Aufschluß geben. Er war,
wie wir aus denselben ersehen, ein fleißiger Mitarbeiter des LowroinjsrmiK
("Zeitgenossen"), welcher das Hauptorgan der neuen Schule war. Er war mit
Nekrassow, dem Chorführer des literarischen jungen Rußlands, in engen Be¬
ziehungen und stand mit ihm in lebhafter Korrespondenz, Der Ton derselben
ist durchaus vertraulich. "Zürne mir nicht, lieber Nekrassow, schreibt er einmal
im Jahre 1857, wenn ich, wie ich hoffe, in Rom zum Arbeiten komme, so


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

in der merkwürdigen Entwicklung der russischen Gesellschaft. Die westeuro¬
päische» Ideen und Bestrebungen, welche Peter der Große, Katharina und
Alexander der Erste dem russischen Volksgeiste eingeimpft hatten, waren nach
dem Aufstande der Dekabristen unter Nikolaus jäh in ihrer Entfaltung und
Wirkung gehemmt worden. Nachdem sie dreißig Jahre lang unter schwerem
Druck gelegen hatten, traten sie beim Zusammenbruch des nikolaitischen Systems
mit ungeahnter Gewalt wieder hervor und bemächtigten sich im Moment der
heißen Köpfe der Jugend. Zu den demokratischen Überlieferungen der Deka¬
bristen traten die freien Doktrinen der russischen Hegelianer und die Ideen der
Moskaner nationalen. Aus dem Westen drang eine Hochflut von republika¬
nischen, sozialistischen und materialistischen Gedanken herüber. In einer einzigen
Büchse gleichsam bekamen nun die Russen die Quintessenz aller modernen Ideen,
die seit der französischen Revolution sich allmählich im Westen Europas ent¬
wickelt hatten. Es war ein gefährliches, vorsichtig zu genießendes Elixir, die
Russen aber tranken es in übermäßigen Portionen, um seine Wundenvirkung
zu beschleunigen. Herzens Freiheitsmanifeste, Bakunins revolutionäre Tiraden,
Tschernyschewskis neuer materialistischer Moralkodex, Nekrassows klangvolle
Tendenzdichtungen, die „Enthüllungsromane" Dostojewskis, Gontscharvws,
Pissemskis und Reschetnikows, Schtschedrins Satiren und Dvbroljubows wie
Pissarews schneidige Kritiken — das war ein Menü von pikanten Speisen, wie
sie nur einem russischen Magen zugemutet werden konnten. Auch Katkow und
die Aksakows zählten damals noch zu den liberalen Herolden, dazu ließen sich
aus Kleinrußland Kostomarow, die Marko Wowtschok und der aus Sibirien
zurückgekehrte Schewtschenko vernehmen. Es war eine Zeit des Sturmes und
Dranges, ebenso gewaltig wie jene, die achtzig Jahre früher über Deutschland
hereingebrochen war. Von deutscher Sentimentalität hatte freilich die russische
Bewegung keine Spur an sich. Hier war alles rauh und scharf, wie das
Klima von Wjätka, alles sinnlich, rücksichtslos, realistisch.

Turgenjew hatte diese Bewegung mit aufrichtiger Freude begrüßt. Sein
„Tagebuch eines Jägers" paßte durchaus in das jungrussische Programm, und
der damals vierzigjährige Dichter, der vermittelnd zwischen den „Neuen" und
der älteren Generation Puschkin-Gogol-Bjelinski stand, wurde mit Anerkennung
und Achtung, gleichsam als Ehrenmitglied in die Zunft der Neuen aufgenommen.
Die Briefe enthalten zahlreiche interessante Daten, die über Turgenjews Ver¬
hältnis zu der zeitgenössischen Literatur jener Jahre Aufschluß geben. Er war,
wie wir aus denselben ersehen, ein fleißiger Mitarbeiter des LowroinjsrmiK
(„Zeitgenossen"), welcher das Hauptorgan der neuen Schule war. Er war mit
Nekrassow, dem Chorführer des literarischen jungen Rußlands, in engen Be¬
ziehungen und stand mit ihm in lebhafter Korrespondenz, Der Ton derselben
ist durchaus vertraulich. „Zürne mir nicht, lieber Nekrassow, schreibt er einmal
im Jahre 1857, wenn ich, wie ich hoffe, in Rom zum Arbeiten komme, so


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[0409] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. in der merkwürdigen Entwicklung der russischen Gesellschaft. Die westeuro¬ päische» Ideen und Bestrebungen, welche Peter der Große, Katharina und Alexander der Erste dem russischen Volksgeiste eingeimpft hatten, waren nach dem Aufstande der Dekabristen unter Nikolaus jäh in ihrer Entfaltung und Wirkung gehemmt worden. Nachdem sie dreißig Jahre lang unter schwerem Druck gelegen hatten, traten sie beim Zusammenbruch des nikolaitischen Systems mit ungeahnter Gewalt wieder hervor und bemächtigten sich im Moment der heißen Köpfe der Jugend. Zu den demokratischen Überlieferungen der Deka¬ bristen traten die freien Doktrinen der russischen Hegelianer und die Ideen der Moskaner nationalen. Aus dem Westen drang eine Hochflut von republika¬ nischen, sozialistischen und materialistischen Gedanken herüber. In einer einzigen Büchse gleichsam bekamen nun die Russen die Quintessenz aller modernen Ideen, die seit der französischen Revolution sich allmählich im Westen Europas ent¬ wickelt hatten. Es war ein gefährliches, vorsichtig zu genießendes Elixir, die Russen aber tranken es in übermäßigen Portionen, um seine Wundenvirkung zu beschleunigen. Herzens Freiheitsmanifeste, Bakunins revolutionäre Tiraden, Tschernyschewskis neuer materialistischer Moralkodex, Nekrassows klangvolle Tendenzdichtungen, die „Enthüllungsromane" Dostojewskis, Gontscharvws, Pissemskis und Reschetnikows, Schtschedrins Satiren und Dvbroljubows wie Pissarews schneidige Kritiken — das war ein Menü von pikanten Speisen, wie sie nur einem russischen Magen zugemutet werden konnten. Auch Katkow und die Aksakows zählten damals noch zu den liberalen Herolden, dazu ließen sich aus Kleinrußland Kostomarow, die Marko Wowtschok und der aus Sibirien zurückgekehrte Schewtschenko vernehmen. Es war eine Zeit des Sturmes und Dranges, ebenso gewaltig wie jene, die achtzig Jahre früher über Deutschland hereingebrochen war. Von deutscher Sentimentalität hatte freilich die russische Bewegung keine Spur an sich. Hier war alles rauh und scharf, wie das Klima von Wjätka, alles sinnlich, rücksichtslos, realistisch. Turgenjew hatte diese Bewegung mit aufrichtiger Freude begrüßt. Sein „Tagebuch eines Jägers" paßte durchaus in das jungrussische Programm, und der damals vierzigjährige Dichter, der vermittelnd zwischen den „Neuen" und der älteren Generation Puschkin-Gogol-Bjelinski stand, wurde mit Anerkennung und Achtung, gleichsam als Ehrenmitglied in die Zunft der Neuen aufgenommen. Die Briefe enthalten zahlreiche interessante Daten, die über Turgenjews Ver¬ hältnis zu der zeitgenössischen Literatur jener Jahre Aufschluß geben. Er war, wie wir aus denselben ersehen, ein fleißiger Mitarbeiter des LowroinjsrmiK („Zeitgenossen"), welcher das Hauptorgan der neuen Schule war. Er war mit Nekrassow, dem Chorführer des literarischen jungen Rußlands, in engen Be¬ ziehungen und stand mit ihm in lebhafter Korrespondenz, Der Ton derselben ist durchaus vertraulich. „Zürne mir nicht, lieber Nekrassow, schreibt er einmal im Jahre 1857, wenn ich, wie ich hoffe, in Rom zum Arbeiten komme, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/409>, abgerufen am 22.07.2024.