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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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kreuzigten. Aber es ist wahre Dichtung; es ist auch wirklich, es ist leibhaft
und lebendig vorhanden. Es ist die bescheidenere, aber auch in ihrer Ermäßigung
für uns unermeßlich groß bleibende, nur umso wertvollere Wahrheit, welche das
Kirchcndogma vom allwissenden, allmächtigen, allgiitigen Gotte Jesus Christus
zum segensvollen Kern hat, und in der kindlichen Sprache der Symbolik aus¬
drückte, ausdrücken mußte. Denn in keiner andern Sprache können die höchsten
und tiefsten Wahrheiten sür die Menge wenigstens annähernd Mich und er¬
ziehungskräftig genug werden, um endlich nach vielen, vielen Generationen auch
die Erkenntnis ihres eigentlichen Sinnes zum Gemeingut zu machen. Mein
kolossalischer Jesus Christus lebt auf Erden in der Gegenwart der Christenheit.
Sie ist nicht Gott; aber das Göttliche hat in ihr die zur Zeit höchste Stufe
der Menschwerdung erreicht, Sie ist nicht allgütig, sondern mich im großen
und ganzen immer noch behaftet mit schlimmen Eigenschaften und argen Ge¬
bresten, Aber sie hat ein Wollen des Guten, eine Erfüllung der Pflichten
der Nächstenliebe, eine Erziehung dazu, eine Bändigung des Bösen, eine Unter-
drückung des Verbrechens, eine Annäherung zum Frieden, zur Aufgabe ihrer
Gesetze und Staatsordnung gemacht, wie nirgends sonst und niemals zuvor.
Sie ist uicht allwissend uoch allmächtig; aber sie verfügt mit der Gesamtheit
ihrer Wissenschaften über ein Maß von Kenntnissen, gegen welches die kindlichen
Vorstellungen früherer Jahrhunderte von der Allmacht und Allwissenheit der
Götter und Gottes weit zurückbleiben. Dieser Gesamtgcist der Christenheit, dies
den Erdball umraukende Ricsengewächs aus dem vom Sohne des Joseph und
der Maria gepflanzten Keim, ist mein lebendiger, gegenwärnger Jesus Christas.
Von seiner Weiöhcitsfülle und Heilskunde soviel zusammenfassen, als mit un¬
ermüdlichem Fleiß und hingebenden Eifer der Einzclmann (!) sich anzueignen
vermag, was denn freilich immer nur in bescheidener und schwächlicher An¬
näherung gelingen kann, um dann, so geklärt als möglich von der Trübung
dnrch die eigue Beschränktheit, dieses in sich erknnstete Nachbild des Menschheits¬
ideales aus sich heraus reden, die Gemeinde erbauen, belehren, den Rat
suchenden Einzelnen wegweisend führen zu lassen: das ist nach meiner Auf¬
fassung der Beruf des Geistliche"" -- eine Auffassung, die ihn. Ulrich Sebald,
dahin bringt, sich von seinem erbangcsessenen Pastoramte trennen zu müssen.
Eine Osterpredigt in diesem Stile wurde vou einem schurkischen Diener des
eignen Hauses, dem mit glücklichem Humor gezeichneten, dnrch seine beweglichen
Ohren nrdrolligen Küster spitzer, einem verlumpten Theologen, nachstenogravhirt.
ein Jesuit, der Historiker Professor Marpinger, half dabei, das Stenogramm
wurde als Broschüre gedruckt und verbreitet. Dazu kamen noch Verleumdungen,
wie die, daß Ulrich ein außereheliches Kind von einer Kunstreiterin besitze und
den Knaben, den er heimlich erziehen läßt, fälschlich für sein Mündel ausgebe;
dann der Vorwurf, daß er einer Jüdin, welche sich bei ihm taufen lassen wollte,
der schönen Bankierstochter Cäcilie Mendez, die Taufe verweigert habe -- das


Grenzboten II. 1L8S, 5

kreuzigten. Aber es ist wahre Dichtung; es ist auch wirklich, es ist leibhaft
und lebendig vorhanden. Es ist die bescheidenere, aber auch in ihrer Ermäßigung
für uns unermeßlich groß bleibende, nur umso wertvollere Wahrheit, welche das
Kirchcndogma vom allwissenden, allmächtigen, allgiitigen Gotte Jesus Christus
zum segensvollen Kern hat, und in der kindlichen Sprache der Symbolik aus¬
drückte, ausdrücken mußte. Denn in keiner andern Sprache können die höchsten
und tiefsten Wahrheiten sür die Menge wenigstens annähernd Mich und er¬
ziehungskräftig genug werden, um endlich nach vielen, vielen Generationen auch
die Erkenntnis ihres eigentlichen Sinnes zum Gemeingut zu machen. Mein
kolossalischer Jesus Christus lebt auf Erden in der Gegenwart der Christenheit.
Sie ist nicht Gott; aber das Göttliche hat in ihr die zur Zeit höchste Stufe
der Menschwerdung erreicht, Sie ist nicht allgütig, sondern mich im großen
und ganzen immer noch behaftet mit schlimmen Eigenschaften und argen Ge¬
bresten, Aber sie hat ein Wollen des Guten, eine Erfüllung der Pflichten
der Nächstenliebe, eine Erziehung dazu, eine Bändigung des Bösen, eine Unter-
drückung des Verbrechens, eine Annäherung zum Frieden, zur Aufgabe ihrer
Gesetze und Staatsordnung gemacht, wie nirgends sonst und niemals zuvor.
Sie ist uicht allwissend uoch allmächtig; aber sie verfügt mit der Gesamtheit
ihrer Wissenschaften über ein Maß von Kenntnissen, gegen welches die kindlichen
Vorstellungen früherer Jahrhunderte von der Allmacht und Allwissenheit der
Götter und Gottes weit zurückbleiben. Dieser Gesamtgcist der Christenheit, dies
den Erdball umraukende Ricsengewächs aus dem vom Sohne des Joseph und
der Maria gepflanzten Keim, ist mein lebendiger, gegenwärnger Jesus Christas.
Von seiner Weiöhcitsfülle und Heilskunde soviel zusammenfassen, als mit un¬
ermüdlichem Fleiß und hingebenden Eifer der Einzclmann (!) sich anzueignen
vermag, was denn freilich immer nur in bescheidener und schwächlicher An¬
näherung gelingen kann, um dann, so geklärt als möglich von der Trübung
dnrch die eigue Beschränktheit, dieses in sich erknnstete Nachbild des Menschheits¬
ideales aus sich heraus reden, die Gemeinde erbauen, belehren, den Rat
suchenden Einzelnen wegweisend führen zu lassen: das ist nach meiner Auf¬
fassung der Beruf des Geistliche»" — eine Auffassung, die ihn. Ulrich Sebald,
dahin bringt, sich von seinem erbangcsessenen Pastoramte trennen zu müssen.
Eine Osterpredigt in diesem Stile wurde vou einem schurkischen Diener des
eignen Hauses, dem mit glücklichem Humor gezeichneten, dnrch seine beweglichen
Ohren nrdrolligen Küster spitzer, einem verlumpten Theologen, nachstenogravhirt.
ein Jesuit, der Historiker Professor Marpinger, half dabei, das Stenogramm
wurde als Broschüre gedruckt und verbreitet. Dazu kamen noch Verleumdungen,
wie die, daß Ulrich ein außereheliches Kind von einer Kunstreiterin besitze und
den Knaben, den er heimlich erziehen läßt, fälschlich für sein Mündel ausgebe;
dann der Vorwurf, daß er einer Jüdin, welche sich bei ihm taufen lassen wollte,
der schönen Bankierstochter Cäcilie Mendez, die Taufe verweigert habe — das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/38>, abgerufen am 22.07.2024.