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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Herren Mörder.

sie vergewaltigt. Von der Anklage wurde dargethan, daß Frau Frcmcey selbst
den Brisebard am 21. Dezember in ihre Wohnung bestellt hatte, angeblich um
ihm das schriftliche Geständnis seiner Unwürdigkeit abzuringen, und daß ein
junger Abbe mehrfach nächtlicher Weile sich bei der Angeklagten aufgehalten
und deren Wohnung gegen Morgen verlassen hatte. Von diesen Besuchen hatte
der Getötete Kenntnis gehabt, und es lag deshalb der Verdacht nahe, daß die
Angeklagte einen lästigen Mitwisser habe aus dem Wege schaffen wollen, da sie
nicht zu erklären vermochte, weshalb sie den Getöteten von Mitternacht bis
gegen zwei Uhr morgens bei sich behalten und nicht ihr anwesendes Dienst¬
mädchen zu Hilfe gerufen habe, als das angebliche Attentat auf ihre Ehre von
dem Getöteten unternommen wurde. Auch diese Angeklagte wurde von dem
Schwurgerichte freigesprochen und das Urteil von dem anwesenden Publikum
mit lautem Beifall aufgenommen.

Die in den sich häufenden derartigen Urteilssprüchen zu tage tretende Ver¬
wirrung der Rechtsbegriffe und die große dem Staate und der Gesellschaft aus
einem solchen rechtlosen Zustande drohende Gefahr hat den französischen Schrift¬
steller Alphonse Karr bewogen, eine im Jahre 1864 ans Nizza unter dem Titel
NeLsiLurs Iss u-sha-ssius von ihm veröffentlichte Broschüre in letzter Zeit wieder
abdrucken zu lassen, deren Inhalt in dem Satze gipfelt: "Schaffen wir die
Todesstrafe ab, aber die Herren Mörder mögen damit beginnen." Die Broschüre
ist zwar in erster Linie für die Landsleute Karrs geschrieben und entstanden
aus dem Unmut über die umsichgreifcndc Rührseligkeit für die Mörder, Brand¬
stifter n. s. w., sie berührt aber eine Frage, deren Ernst auch die deutsche Rechts¬
pflege nicht ignoriren darf.

Glücklicherweise ist ja die Strafrechtspflege im deutschen Reiche noch lange
nicht auf den Zustand der französischen Geschwornengerichte herabgesunken, es
hausen sich aber doch auch bei uns die Stimmen innerhalb und außerhalb des
Kreises der Praktiker, welche über einen krankhaften Zug der Milde gegen den
einzelnen Übelthäter in unsrer Rechtspflege klagen, und zwar nicht nur bei den
Laiengerichten (Schöffen und Geschwornen), sondern auch bei den rechtsgelehrten
Richtern; ein Zug, der hauptsächlich in der ungemein häufigen Zulassung
"mildernder Umstände" sich kundgiebt. Die Wahrnehmung, in den Strafen
sich möglichst nahe bei dem niedrigsten Maße zu halten, hatte schon im Jahre
1876 die Gesetzgebung zu einer Änderung des Strafgesetzbuches in der Richtung
veranlaßt, daß die Strafminima bei einer Reihe von Vergehen (von welchen
hier nur der Widerstand gegen die Vertreter der Staatsgewalt und die gefähr¬
liche Körperverletzung hervorgehoben werden sollen) erhöht wurden. Der Zweck
dieser Maßregel ist aber nicht erreicht worden, insofern für ganz besonders
leichte Fälle die Zulassung mildernder Umstände dem Richter gesetzlich frei¬
gegeben wurde und nunmehr diese Ansnahmemöglichtcit in ganzen Gebieten
beinahe zur Regel geworden ist. Dieselbe Erscheinung zeigt sich bei der Be-


Die Herren Mörder.

sie vergewaltigt. Von der Anklage wurde dargethan, daß Frau Frcmcey selbst
den Brisebard am 21. Dezember in ihre Wohnung bestellt hatte, angeblich um
ihm das schriftliche Geständnis seiner Unwürdigkeit abzuringen, und daß ein
junger Abbe mehrfach nächtlicher Weile sich bei der Angeklagten aufgehalten
und deren Wohnung gegen Morgen verlassen hatte. Von diesen Besuchen hatte
der Getötete Kenntnis gehabt, und es lag deshalb der Verdacht nahe, daß die
Angeklagte einen lästigen Mitwisser habe aus dem Wege schaffen wollen, da sie
nicht zu erklären vermochte, weshalb sie den Getöteten von Mitternacht bis
gegen zwei Uhr morgens bei sich behalten und nicht ihr anwesendes Dienst¬
mädchen zu Hilfe gerufen habe, als das angebliche Attentat auf ihre Ehre von
dem Getöteten unternommen wurde. Auch diese Angeklagte wurde von dem
Schwurgerichte freigesprochen und das Urteil von dem anwesenden Publikum
mit lautem Beifall aufgenommen.

Die in den sich häufenden derartigen Urteilssprüchen zu tage tretende Ver¬
wirrung der Rechtsbegriffe und die große dem Staate und der Gesellschaft aus
einem solchen rechtlosen Zustande drohende Gefahr hat den französischen Schrift¬
steller Alphonse Karr bewogen, eine im Jahre 1864 ans Nizza unter dem Titel
NeLsiLurs Iss u-sha-ssius von ihm veröffentlichte Broschüre in letzter Zeit wieder
abdrucken zu lassen, deren Inhalt in dem Satze gipfelt: „Schaffen wir die
Todesstrafe ab, aber die Herren Mörder mögen damit beginnen." Die Broschüre
ist zwar in erster Linie für die Landsleute Karrs geschrieben und entstanden
aus dem Unmut über die umsichgreifcndc Rührseligkeit für die Mörder, Brand¬
stifter n. s. w., sie berührt aber eine Frage, deren Ernst auch die deutsche Rechts¬
pflege nicht ignoriren darf.

Glücklicherweise ist ja die Strafrechtspflege im deutschen Reiche noch lange
nicht auf den Zustand der französischen Geschwornengerichte herabgesunken, es
hausen sich aber doch auch bei uns die Stimmen innerhalb und außerhalb des
Kreises der Praktiker, welche über einen krankhaften Zug der Milde gegen den
einzelnen Übelthäter in unsrer Rechtspflege klagen, und zwar nicht nur bei den
Laiengerichten (Schöffen und Geschwornen), sondern auch bei den rechtsgelehrten
Richtern; ein Zug, der hauptsächlich in der ungemein häufigen Zulassung
„mildernder Umstände" sich kundgiebt. Die Wahrnehmung, in den Strafen
sich möglichst nahe bei dem niedrigsten Maße zu halten, hatte schon im Jahre
1876 die Gesetzgebung zu einer Änderung des Strafgesetzbuches in der Richtung
veranlaßt, daß die Strafminima bei einer Reihe von Vergehen (von welchen
hier nur der Widerstand gegen die Vertreter der Staatsgewalt und die gefähr¬
liche Körperverletzung hervorgehoben werden sollen) erhöht wurden. Der Zweck
dieser Maßregel ist aber nicht erreicht worden, insofern für ganz besonders
leichte Fälle die Zulassung mildernder Umstände dem Richter gesetzlich frei¬
gegeben wurde und nunmehr diese Ansnahmemöglichtcit in ganzen Gebieten
beinahe zur Regel geworden ist. Dieselbe Erscheinung zeigt sich bei der Be-


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[0335] Die Herren Mörder. sie vergewaltigt. Von der Anklage wurde dargethan, daß Frau Frcmcey selbst den Brisebard am 21. Dezember in ihre Wohnung bestellt hatte, angeblich um ihm das schriftliche Geständnis seiner Unwürdigkeit abzuringen, und daß ein junger Abbe mehrfach nächtlicher Weile sich bei der Angeklagten aufgehalten und deren Wohnung gegen Morgen verlassen hatte. Von diesen Besuchen hatte der Getötete Kenntnis gehabt, und es lag deshalb der Verdacht nahe, daß die Angeklagte einen lästigen Mitwisser habe aus dem Wege schaffen wollen, da sie nicht zu erklären vermochte, weshalb sie den Getöteten von Mitternacht bis gegen zwei Uhr morgens bei sich behalten und nicht ihr anwesendes Dienst¬ mädchen zu Hilfe gerufen habe, als das angebliche Attentat auf ihre Ehre von dem Getöteten unternommen wurde. Auch diese Angeklagte wurde von dem Schwurgerichte freigesprochen und das Urteil von dem anwesenden Publikum mit lautem Beifall aufgenommen. Die in den sich häufenden derartigen Urteilssprüchen zu tage tretende Ver¬ wirrung der Rechtsbegriffe und die große dem Staate und der Gesellschaft aus einem solchen rechtlosen Zustande drohende Gefahr hat den französischen Schrift¬ steller Alphonse Karr bewogen, eine im Jahre 1864 ans Nizza unter dem Titel NeLsiLurs Iss u-sha-ssius von ihm veröffentlichte Broschüre in letzter Zeit wieder abdrucken zu lassen, deren Inhalt in dem Satze gipfelt: „Schaffen wir die Todesstrafe ab, aber die Herren Mörder mögen damit beginnen." Die Broschüre ist zwar in erster Linie für die Landsleute Karrs geschrieben und entstanden aus dem Unmut über die umsichgreifcndc Rührseligkeit für die Mörder, Brand¬ stifter n. s. w., sie berührt aber eine Frage, deren Ernst auch die deutsche Rechts¬ pflege nicht ignoriren darf. Glücklicherweise ist ja die Strafrechtspflege im deutschen Reiche noch lange nicht auf den Zustand der französischen Geschwornengerichte herabgesunken, es hausen sich aber doch auch bei uns die Stimmen innerhalb und außerhalb des Kreises der Praktiker, welche über einen krankhaften Zug der Milde gegen den einzelnen Übelthäter in unsrer Rechtspflege klagen, und zwar nicht nur bei den Laiengerichten (Schöffen und Geschwornen), sondern auch bei den rechtsgelehrten Richtern; ein Zug, der hauptsächlich in der ungemein häufigen Zulassung „mildernder Umstände" sich kundgiebt. Die Wahrnehmung, in den Strafen sich möglichst nahe bei dem niedrigsten Maße zu halten, hatte schon im Jahre 1876 die Gesetzgebung zu einer Änderung des Strafgesetzbuches in der Richtung veranlaßt, daß die Strafminima bei einer Reihe von Vergehen (von welchen hier nur der Widerstand gegen die Vertreter der Staatsgewalt und die gefähr¬ liche Körperverletzung hervorgehoben werden sollen) erhöht wurden. Der Zweck dieser Maßregel ist aber nicht erreicht worden, insofern für ganz besonders leichte Fälle die Zulassung mildernder Umstände dem Richter gesetzlich frei¬ gegeben wurde und nunmehr diese Ansnahmemöglichtcit in ganzen Gebieten beinahe zur Regel geworden ist. Dieselbe Erscheinung zeigt sich bei der Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/335>, abgerufen am 22.07.2024.