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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Neue Erzählungen von K, <L. Franzos.

aufzusuchen und ihn auf Ehre und Gewissen zu fragen, ob er wirklich sein
Sohn sei, denn nach all dem Vorgefallenen hat Stefan dem Pater Arkadins
garnichts glauben wollen, so leidenschaftlich auch seine Beteuerung der Wahrheit
war. Und nun treffen wir den aufs furchtbarste erregten jungen Mann,
der sich an den letzten Strohhalm einer Hoffnung klammert, seine geliebte
Mitla und sich selber dem Leben zu erhalten, im Eiseubahnknpee auf
der Fahrt von Lemberg uach Wien. Hier im Wagen trifft er auf einen Lands¬
mann, den Direktor einer Maschinenfabrik in Meldung, Gregor von Tarbcscn,
und hier im Eisenbahnkupee ist es auch, wo während einer fechzehnstündigen
Kourierfahrt demselben diese ganze Geschichte erzählt wird. Das tolle Fieber, in
dem sich der unglückliche junge Barletta befindet, der einer Entscheidung auf Leben
und Tod entgegenfährt, der fast bei jeder Station Telegramme an das Sterbelager
seiner Geliebten aufgiebt und empfängt, der immer in der Angst schwebt, sie
könnte ihm noch vor der entscheidenden Antwort des alten Grafen wegsterben,
der entschlossen ist, im Falle dieser ihn als seinen Sohn erkennt, sich unter
die Räder einer Lokomotive zu werfen -- diese ganze Aufregung, die anfänglich
noch unterbrochen ist durch die idyllischen Bilder der Jugendzeit, des Landwirts¬
und Liebeslebens, welche der erzählende junge Mann seinem Gegenüber aufrollt,
die sich aber nervös steigert, je näher die Reisenden Wien und der Ent¬
scheidung kommen, diesen furchtbaren Zustand erlebt der Leser bis zur Pein¬
lichkeit. Auch Tarbeseu wird von ihm angesteckt, er läßt sich, so fremd er
ist, in die Handlung mit hineinreißen, das Problem tritt ihm selbst nahe
und -- ein realistischer Mann wie er ist, seine Maxime lautet: Im übrigen
wäg mich jeder beurteilen, wie es sein eignes Wesen gebietet, welches ja
schließlich doch der einzige Maßstab menschlichen Richters ist -- Tarbeseu über¬
nimmt es, den etwas schwächlichen Vater nach seiner eignen Überzeugung
zu lenken, die dahin geht, es dürfe Stefan nicht erfahren, daß Mitla in der
That seine Schwester sei. Diese Lüge gebiete die Menschlichkeit, die zwei schlechthin
schuldlose Wesen nicht in den Tod schicken könne. Den Schuldigen, den Grafen,
treffe die Vergeltung ohnehin, in dem Augenblicke, da er den gesuchten Sohn
finde, ihn verleugnen zu müssen. Den noch Schuldigern Arkadius wird sein
eignes Gewissen richten, wie er in der That schon ein gebrochener Mann ist. Und
so geschieht es auch: der durch die Ankunft seines Sohnes vernichtete Graf
Hallsee stammelt ein Nein auf die verhängnisvolle Frage; aber kurz nachdem
Stefan die Freudenbotschaft der sterbenden Geliebten telegraphirt hat, kaum
daß sie noch klar genug bei Bewußtsein war, diese erlösende Mitteilung zu ver¬
stehen, stirbt auch sie.

So endet alles in lauter Zufriedenheit. Daß hier eine schreiende Disso¬
nanz zwischen dem Ideengange und dem der Ereignisse existirt, haben wir oben
schon angedeutet. Die Mache aber ist, bis auf einige Längen und durch das
Theoretistren tote Stellen, brillant. Wie im "Präsidenten" spielt auch in der


Grenzboten II. I88S. 40
Neue Erzählungen von K, <L. Franzos.

aufzusuchen und ihn auf Ehre und Gewissen zu fragen, ob er wirklich sein
Sohn sei, denn nach all dem Vorgefallenen hat Stefan dem Pater Arkadins
garnichts glauben wollen, so leidenschaftlich auch seine Beteuerung der Wahrheit
war. Und nun treffen wir den aufs furchtbarste erregten jungen Mann,
der sich an den letzten Strohhalm einer Hoffnung klammert, seine geliebte
Mitla und sich selber dem Leben zu erhalten, im Eiseubahnknpee auf
der Fahrt von Lemberg uach Wien. Hier im Wagen trifft er auf einen Lands¬
mann, den Direktor einer Maschinenfabrik in Meldung, Gregor von Tarbcscn,
und hier im Eisenbahnkupee ist es auch, wo während einer fechzehnstündigen
Kourierfahrt demselben diese ganze Geschichte erzählt wird. Das tolle Fieber, in
dem sich der unglückliche junge Barletta befindet, der einer Entscheidung auf Leben
und Tod entgegenfährt, der fast bei jeder Station Telegramme an das Sterbelager
seiner Geliebten aufgiebt und empfängt, der immer in der Angst schwebt, sie
könnte ihm noch vor der entscheidenden Antwort des alten Grafen wegsterben,
der entschlossen ist, im Falle dieser ihn als seinen Sohn erkennt, sich unter
die Räder einer Lokomotive zu werfen — diese ganze Aufregung, die anfänglich
noch unterbrochen ist durch die idyllischen Bilder der Jugendzeit, des Landwirts¬
und Liebeslebens, welche der erzählende junge Mann seinem Gegenüber aufrollt,
die sich aber nervös steigert, je näher die Reisenden Wien und der Ent¬
scheidung kommen, diesen furchtbaren Zustand erlebt der Leser bis zur Pein¬
lichkeit. Auch Tarbeseu wird von ihm angesteckt, er läßt sich, so fremd er
ist, in die Handlung mit hineinreißen, das Problem tritt ihm selbst nahe
und — ein realistischer Mann wie er ist, seine Maxime lautet: Im übrigen
wäg mich jeder beurteilen, wie es sein eignes Wesen gebietet, welches ja
schließlich doch der einzige Maßstab menschlichen Richters ist — Tarbeseu über¬
nimmt es, den etwas schwächlichen Vater nach seiner eignen Überzeugung
zu lenken, die dahin geht, es dürfe Stefan nicht erfahren, daß Mitla in der
That seine Schwester sei. Diese Lüge gebiete die Menschlichkeit, die zwei schlechthin
schuldlose Wesen nicht in den Tod schicken könne. Den Schuldigen, den Grafen,
treffe die Vergeltung ohnehin, in dem Augenblicke, da er den gesuchten Sohn
finde, ihn verleugnen zu müssen. Den noch Schuldigern Arkadius wird sein
eignes Gewissen richten, wie er in der That schon ein gebrochener Mann ist. Und
so geschieht es auch: der durch die Ankunft seines Sohnes vernichtete Graf
Hallsee stammelt ein Nein auf die verhängnisvolle Frage; aber kurz nachdem
Stefan die Freudenbotschaft der sterbenden Geliebten telegraphirt hat, kaum
daß sie noch klar genug bei Bewußtsein war, diese erlösende Mitteilung zu ver¬
stehen, stirbt auch sie.

So endet alles in lauter Zufriedenheit. Daß hier eine schreiende Disso¬
nanz zwischen dem Ideengange und dem der Ereignisse existirt, haben wir oben
schon angedeutet. Die Mache aber ist, bis auf einige Längen und durch das
Theoretistren tote Stellen, brillant. Wie im „Präsidenten" spielt auch in der


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[0318] Neue Erzählungen von K, <L. Franzos. aufzusuchen und ihn auf Ehre und Gewissen zu fragen, ob er wirklich sein Sohn sei, denn nach all dem Vorgefallenen hat Stefan dem Pater Arkadins garnichts glauben wollen, so leidenschaftlich auch seine Beteuerung der Wahrheit war. Und nun treffen wir den aufs furchtbarste erregten jungen Mann, der sich an den letzten Strohhalm einer Hoffnung klammert, seine geliebte Mitla und sich selber dem Leben zu erhalten, im Eiseubahnknpee auf der Fahrt von Lemberg uach Wien. Hier im Wagen trifft er auf einen Lands¬ mann, den Direktor einer Maschinenfabrik in Meldung, Gregor von Tarbcscn, und hier im Eisenbahnkupee ist es auch, wo während einer fechzehnstündigen Kourierfahrt demselben diese ganze Geschichte erzählt wird. Das tolle Fieber, in dem sich der unglückliche junge Barletta befindet, der einer Entscheidung auf Leben und Tod entgegenfährt, der fast bei jeder Station Telegramme an das Sterbelager seiner Geliebten aufgiebt und empfängt, der immer in der Angst schwebt, sie könnte ihm noch vor der entscheidenden Antwort des alten Grafen wegsterben, der entschlossen ist, im Falle dieser ihn als seinen Sohn erkennt, sich unter die Räder einer Lokomotive zu werfen — diese ganze Aufregung, die anfänglich noch unterbrochen ist durch die idyllischen Bilder der Jugendzeit, des Landwirts¬ und Liebeslebens, welche der erzählende junge Mann seinem Gegenüber aufrollt, die sich aber nervös steigert, je näher die Reisenden Wien und der Ent¬ scheidung kommen, diesen furchtbaren Zustand erlebt der Leser bis zur Pein¬ lichkeit. Auch Tarbeseu wird von ihm angesteckt, er läßt sich, so fremd er ist, in die Handlung mit hineinreißen, das Problem tritt ihm selbst nahe und — ein realistischer Mann wie er ist, seine Maxime lautet: Im übrigen wäg mich jeder beurteilen, wie es sein eignes Wesen gebietet, welches ja schließlich doch der einzige Maßstab menschlichen Richters ist — Tarbeseu über¬ nimmt es, den etwas schwächlichen Vater nach seiner eignen Überzeugung zu lenken, die dahin geht, es dürfe Stefan nicht erfahren, daß Mitla in der That seine Schwester sei. Diese Lüge gebiete die Menschlichkeit, die zwei schlechthin schuldlose Wesen nicht in den Tod schicken könne. Den Schuldigen, den Grafen, treffe die Vergeltung ohnehin, in dem Augenblicke, da er den gesuchten Sohn finde, ihn verleugnen zu müssen. Den noch Schuldigern Arkadius wird sein eignes Gewissen richten, wie er in der That schon ein gebrochener Mann ist. Und so geschieht es auch: der durch die Ankunft seines Sohnes vernichtete Graf Hallsee stammelt ein Nein auf die verhängnisvolle Frage; aber kurz nachdem Stefan die Freudenbotschaft der sterbenden Geliebten telegraphirt hat, kaum daß sie noch klar genug bei Bewußtsein war, diese erlösende Mitteilung zu ver¬ stehen, stirbt auch sie. So endet alles in lauter Zufriedenheit. Daß hier eine schreiende Disso¬ nanz zwischen dem Ideengange und dem der Ereignisse existirt, haben wir oben schon angedeutet. Die Mache aber ist, bis auf einige Längen und durch das Theoretistren tote Stellen, brillant. Wie im „Präsidenten" spielt auch in der Grenzboten II. I88S. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/318>, abgerufen am 25.08.2024.