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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Wäldler. Das Volk ist im allgemeinen gesund, Kropf findet sich selten, häufig
nur in Wachdorf an der Werra, in Katzhütte und im obern Schwarzathal.*)

Die Einblicke in das Arbeitsleben der Gebirgsbevölkerung sind meist wohl¬
thuend. Trotz des nicht eben fruchtbaren Bodens im höhern Gebirge legt man
sich mit Vorliebe auf den Kartoffelbau; der oft geringe Ertrag, auch des Ge¬
treides, zwingt zu einer erstaunlichen Vielfältigkeit des gewerblichen Verdienstes.
Auch auf dem Walde ist der Kampf um die Existenz ein härterer geworden;
"vor dreißig und vierzig Jahren haben die Menschen nachts noch nicht gearbeitet,
jeht müssen die Kinder im zartesten Alter mit aushalten, da ist keine Rede
von zehnstündiger Arbeitszeit." Von Grümpen bei Svnneberg kommt die
Klage, daß die Hülste der Dorfschaft sich mit Anfertigung geringerer Artikel
der schlechtbezahlten Svnueberger Spielwaarenindustrie erucihren muß. In
Bohlen verdienen etwa achtzig Arbeiter in einer Spielwaaren- und Möbelfabrik
doch noch durchschnittlich zwei Mark täglich, während im nahen Wildenspring
die Weber nur die Hülste davon haben, weil durch die ausländische Maschinen¬
weberei die Preis- und Arbeitslöhne herabgedrückt sind. Trotzdem neigen die
wenigsten zur Auswanderung; sie leben bei der Doppeltugend des Fleißes und
der Genügsamkeit erträglich dahin. Hier können Nationalökonomen viel lernen.

Über der Förderung der Industrie scheint teilweise der Landwirtschafts¬
betrieb vergessen zu sein; in vielen Dorfschaften überläßt man ihn ausschließlich
den Frauen und Kindern, und trotz fleißiger Hackarbcit (der Pflug wird fast
nicht gebraucht) sind die Besitzverhältnisse nicht glänzend. "In Goldlcmter z. B.
kann zwar der Arme über Sommer seine Kuh oder seine Ziege umsonst durch¬
füttern, denn die Weide in den Forsten der Gemarkung ist unentgeltlich, aber
achtundachtzig Einwohner, d. y. ungefähr sechs Prozent der Gesamtzahl, sind
steuerfrei, weil sie nicht 420 Mark Jahreseinnahme haben, und die Gemeinde¬
abgaben betragen 120 Prozent der Klassensteuer. In Industrieorten wie Lauscha
oder Svnneberg kennt man trotzdem keine Bettelei; dabei hat Sonneberg,
eine Stadt von 10 000 Einwohnern, einen Armenetat von nicht mehr als
4500 Mark."

Der Güterbesitz ist in der Umgegend von Sonneberg sehr zersplittert,
Güter über hundert Morgen sind eine Seltenheit. Der Ernteertrag ist sehr
verschieden: in Solßdorf z. B. sechs- bis zehnmal so groß als die Aussaat,
aber auf den Höhen des Nennsteigs kaum den Anbau lohnend; in Jgelshieb,
dem höchsten Gebirgsdorfe, wird der Hafer kaum reif.

Natürlich sind bei solchen Verhältnissen die Bissen schmal. Im Thüringer
Vorland mit seinem Getreidebau giebt es neben Kartoffeln auch Mehlkoft,
aber oben auf dem Walde sind die Kartoffeln die Hauptnahrung. Eine schlechte
Kartoffelernte veranlaßt oft bedenklichen Notstand.



*)^pedem berichten die Zeitungen, daß Professor Kirchhofs anthropologische Messungen
durch ganz Thüringen anzustellen beabsichtigt.
Grenzboten II. 188S. ^
Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Wäldler. Das Volk ist im allgemeinen gesund, Kropf findet sich selten, häufig
nur in Wachdorf an der Werra, in Katzhütte und im obern Schwarzathal.*)

Die Einblicke in das Arbeitsleben der Gebirgsbevölkerung sind meist wohl¬
thuend. Trotz des nicht eben fruchtbaren Bodens im höhern Gebirge legt man
sich mit Vorliebe auf den Kartoffelbau; der oft geringe Ertrag, auch des Ge¬
treides, zwingt zu einer erstaunlichen Vielfältigkeit des gewerblichen Verdienstes.
Auch auf dem Walde ist der Kampf um die Existenz ein härterer geworden;
«vor dreißig und vierzig Jahren haben die Menschen nachts noch nicht gearbeitet,
jeht müssen die Kinder im zartesten Alter mit aushalten, da ist keine Rede
von zehnstündiger Arbeitszeit." Von Grümpen bei Svnneberg kommt die
Klage, daß die Hülste der Dorfschaft sich mit Anfertigung geringerer Artikel
der schlechtbezahlten Svnueberger Spielwaarenindustrie erucihren muß. In
Bohlen verdienen etwa achtzig Arbeiter in einer Spielwaaren- und Möbelfabrik
doch noch durchschnittlich zwei Mark täglich, während im nahen Wildenspring
die Weber nur die Hülste davon haben, weil durch die ausländische Maschinen¬
weberei die Preis- und Arbeitslöhne herabgedrückt sind. Trotzdem neigen die
wenigsten zur Auswanderung; sie leben bei der Doppeltugend des Fleißes und
der Genügsamkeit erträglich dahin. Hier können Nationalökonomen viel lernen.

Über der Förderung der Industrie scheint teilweise der Landwirtschafts¬
betrieb vergessen zu sein; in vielen Dorfschaften überläßt man ihn ausschließlich
den Frauen und Kindern, und trotz fleißiger Hackarbcit (der Pflug wird fast
nicht gebraucht) sind die Besitzverhältnisse nicht glänzend. „In Goldlcmter z. B.
kann zwar der Arme über Sommer seine Kuh oder seine Ziege umsonst durch¬
füttern, denn die Weide in den Forsten der Gemarkung ist unentgeltlich, aber
achtundachtzig Einwohner, d. y. ungefähr sechs Prozent der Gesamtzahl, sind
steuerfrei, weil sie nicht 420 Mark Jahreseinnahme haben, und die Gemeinde¬
abgaben betragen 120 Prozent der Klassensteuer. In Industrieorten wie Lauscha
oder Svnneberg kennt man trotzdem keine Bettelei; dabei hat Sonneberg,
eine Stadt von 10 000 Einwohnern, einen Armenetat von nicht mehr als
4500 Mark."

Der Güterbesitz ist in der Umgegend von Sonneberg sehr zersplittert,
Güter über hundert Morgen sind eine Seltenheit. Der Ernteertrag ist sehr
verschieden: in Solßdorf z. B. sechs- bis zehnmal so groß als die Aussaat,
aber auf den Höhen des Nennsteigs kaum den Anbau lohnend; in Jgelshieb,
dem höchsten Gebirgsdorfe, wird der Hafer kaum reif.

Natürlich sind bei solchen Verhältnissen die Bissen schmal. Im Thüringer
Vorland mit seinem Getreidebau giebt es neben Kartoffeln auch Mehlkoft,
aber oben auf dem Walde sind die Kartoffeln die Hauptnahrung. Eine schlechte
Kartoffelernte veranlaßt oft bedenklichen Notstand.



*)^pedem berichten die Zeitungen, daß Professor Kirchhofs anthropologische Messungen
durch ganz Thüringen anzustellen beabsichtigt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/30>, abgerufen am 07.01.2025.