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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Freunde Englands.

mit dem Frieden Europas verfahren sind." Dann folgt ein Lob der Ehrlich¬
keit, Ehrenhaftigkeit und Offenheit des liberalen Rhetors, der jetzt am Ruder
des englischen Staatsschiffes steht, und eine Verurteilung der tückischen russischen
Sphinx, die nicht sagt, was sie denkt und will. Daß die liberale Wiener Presse
überhaupt gar keine Gesinnung hat, daß sie Rußland vorzüglich deshalb haßt,
weil es bei sich die Juden nicht nach Belieben schalten läßt, scheint der Ver¬
fasser dieser Korrespondenz nicht zu wissen, und hätte jene Presse wirklich eine
feste Meinung und einen ernsten Willen, so könnte ihre Freundschaft den Eng¬
ländern in ihrer dermaligen Verlegenheit so wenig nützen als die Sympathie,
welche hin und wieder norddeutsche liberale Blätter Herrn Gladstone und seiner
Politik bezeugen.

Was die letzte große Rede des englischen Premiers betrifft, so erscheint
sie uns nicht als geeignet, ihm unter wirklichen Politikern Freunde zu ver¬
schaffen. Er sprach sehr entschlossen und sehr edel. Man hörte einen Moral-
Prediger, fast wie von der Kanzel. Es war aber bei genauerem Zuhören nichts
als Gaukelei und Phrasenspiel zu dem Zwecke, Einfältige zu berücken. Wenn
er die Debatte auf das Gebiet der Ehre hinüberspielte, so hätte er das besser
gelassen, denn Europa hat ein gutes Gedächtnis, und wenn er sein und Eng¬
lands stets billiges Verfahren rühmte, so war das mehr als kühn, so war es
dreist bis zum Exzeß. Entsprach es den Gesetzen der Billigkeit, als man
Nlexandrien in Trümmer schoß? Vertrug sichs mit dem, was Ehre heißt, als
man einen Preis auf den Kopf eines Patrioten im Sudan setzte? War das
Verhalten Englands gegen die Franzosen in Sachen Chinas und Madagaskars
von strenger Moral eingegeben? Es muß befremden, den Redner, der hier halb
Predigt und halb plaidirt, sich geberden zu sehen, als ob die Engländer die
Ehre und Rechtlichkeit gepachtet hätten, sie, die überall und immer an ihren
Vorteil, ihren Kredit, ihr Ansehen, ihr Geschäft und ihre Zinsen dachten, und
dabei ein Lot Gold für erstrebenswerter ansahen als einen Zentner Ehre. Herr
Gladstone schien zu meinen, man wisse das auf dem Festlande nicht, und werde
sich von ihm das Gegenteil einreden lassen. Einfältige Leute mögen ihm glaube,?,
die Verständigen aber nicht, und die Verständigen regieren glücklicherweise in
der Regel die Welt.




Grenzboten II, IZM.-i"
Die Freunde Englands.

mit dem Frieden Europas verfahren sind." Dann folgt ein Lob der Ehrlich¬
keit, Ehrenhaftigkeit und Offenheit des liberalen Rhetors, der jetzt am Ruder
des englischen Staatsschiffes steht, und eine Verurteilung der tückischen russischen
Sphinx, die nicht sagt, was sie denkt und will. Daß die liberale Wiener Presse
überhaupt gar keine Gesinnung hat, daß sie Rußland vorzüglich deshalb haßt,
weil es bei sich die Juden nicht nach Belieben schalten läßt, scheint der Ver¬
fasser dieser Korrespondenz nicht zu wissen, und hätte jene Presse wirklich eine
feste Meinung und einen ernsten Willen, so könnte ihre Freundschaft den Eng¬
ländern in ihrer dermaligen Verlegenheit so wenig nützen als die Sympathie,
welche hin und wieder norddeutsche liberale Blätter Herrn Gladstone und seiner
Politik bezeugen.

Was die letzte große Rede des englischen Premiers betrifft, so erscheint
sie uns nicht als geeignet, ihm unter wirklichen Politikern Freunde zu ver¬
schaffen. Er sprach sehr entschlossen und sehr edel. Man hörte einen Moral-
Prediger, fast wie von der Kanzel. Es war aber bei genauerem Zuhören nichts
als Gaukelei und Phrasenspiel zu dem Zwecke, Einfältige zu berücken. Wenn
er die Debatte auf das Gebiet der Ehre hinüberspielte, so hätte er das besser
gelassen, denn Europa hat ein gutes Gedächtnis, und wenn er sein und Eng¬
lands stets billiges Verfahren rühmte, so war das mehr als kühn, so war es
dreist bis zum Exzeß. Entsprach es den Gesetzen der Billigkeit, als man
Nlexandrien in Trümmer schoß? Vertrug sichs mit dem, was Ehre heißt, als
man einen Preis auf den Kopf eines Patrioten im Sudan setzte? War das
Verhalten Englands gegen die Franzosen in Sachen Chinas und Madagaskars
von strenger Moral eingegeben? Es muß befremden, den Redner, der hier halb
Predigt und halb plaidirt, sich geberden zu sehen, als ob die Engländer die
Ehre und Rechtlichkeit gepachtet hätten, sie, die überall und immer an ihren
Vorteil, ihren Kredit, ihr Ansehen, ihr Geschäft und ihre Zinsen dachten, und
dabei ein Lot Gold für erstrebenswerter ansahen als einen Zentner Ehre. Herr
Gladstone schien zu meinen, man wisse das auf dem Festlande nicht, und werde
sich von ihm das Gegenteil einreden lassen. Einfältige Leute mögen ihm glaube,?,
die Verständigen aber nicht, und die Verständigen regieren glücklicherweise in
der Regel die Welt.




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[0286] Die Freunde Englands. mit dem Frieden Europas verfahren sind." Dann folgt ein Lob der Ehrlich¬ keit, Ehrenhaftigkeit und Offenheit des liberalen Rhetors, der jetzt am Ruder des englischen Staatsschiffes steht, und eine Verurteilung der tückischen russischen Sphinx, die nicht sagt, was sie denkt und will. Daß die liberale Wiener Presse überhaupt gar keine Gesinnung hat, daß sie Rußland vorzüglich deshalb haßt, weil es bei sich die Juden nicht nach Belieben schalten läßt, scheint der Ver¬ fasser dieser Korrespondenz nicht zu wissen, und hätte jene Presse wirklich eine feste Meinung und einen ernsten Willen, so könnte ihre Freundschaft den Eng¬ ländern in ihrer dermaligen Verlegenheit so wenig nützen als die Sympathie, welche hin und wieder norddeutsche liberale Blätter Herrn Gladstone und seiner Politik bezeugen. Was die letzte große Rede des englischen Premiers betrifft, so erscheint sie uns nicht als geeignet, ihm unter wirklichen Politikern Freunde zu ver¬ schaffen. Er sprach sehr entschlossen und sehr edel. Man hörte einen Moral- Prediger, fast wie von der Kanzel. Es war aber bei genauerem Zuhören nichts als Gaukelei und Phrasenspiel zu dem Zwecke, Einfältige zu berücken. Wenn er die Debatte auf das Gebiet der Ehre hinüberspielte, so hätte er das besser gelassen, denn Europa hat ein gutes Gedächtnis, und wenn er sein und Eng¬ lands stets billiges Verfahren rühmte, so war das mehr als kühn, so war es dreist bis zum Exzeß. Entsprach es den Gesetzen der Billigkeit, als man Nlexandrien in Trümmer schoß? Vertrug sichs mit dem, was Ehre heißt, als man einen Preis auf den Kopf eines Patrioten im Sudan setzte? War das Verhalten Englands gegen die Franzosen in Sachen Chinas und Madagaskars von strenger Moral eingegeben? Es muß befremden, den Redner, der hier halb Predigt und halb plaidirt, sich geberden zu sehen, als ob die Engländer die Ehre und Rechtlichkeit gepachtet hätten, sie, die überall und immer an ihren Vorteil, ihren Kredit, ihr Ansehen, ihr Geschäft und ihre Zinsen dachten, und dabei ein Lot Gold für erstrebenswerter ansahen als einen Zentner Ehre. Herr Gladstone schien zu meinen, man wisse das auf dem Festlande nicht, und werde sich von ihm das Gegenteil einreden lassen. Einfältige Leute mögen ihm glaube,?, die Verständigen aber nicht, und die Verständigen regieren glücklicherweise in der Regel die Welt. Grenzboten II, IZM.-i«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/286>, abgerufen am 25.08.2024.