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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Freunde Englands.

nicht Unrecht haben, wenn sie das Wort "Freunde" im gewöhnlichen diploma¬
tischen Sinne verstünden, wie es etwa in Thranreden und ähnlichen Kund¬
gebungen zur Bezeichnung der Stellung gebraucht wird, die man zu seinen
Nachbarn augenblicklich einnimmt, wo es positiv nicht viel bedeutet. Sie
meinen es aber wesentlich anders, und damit täuschen sie sich und ihre Leser.
Sie denken an hilfreiche Freunde, solche, die im englischen Interesse thätig sein,
dessen Vertreter direkt oder mindestens indirekt unterstützen, ihnen Lasten ab¬
nehmen, ihnen die Hände freimachen würden. Sie haben andre Mächte entdeckt,
die zu Englands gunsten vermitteln, sich zum Schiedsrichter hergeben, in
Petersburg Vorstellungen erheben würden. Sie glauben, daß es solche Mächte
giebt, die bereit wären, im Notfalle dort Störung des Friedens zu verbiete",
zu drohen, zu demonstriren, ja in letzter Stunde als Bundesgenossen Gro߬
britanniens zu kämpfen. Wir nennen das eine sehr sanguinische Auffassung der
Lage und halten auch die am wenigste" nnbeschciduen unter den hier bezeichneten
Erwartungen für problematisch. Wer sie hegt, muß voraussetzen, daß die Welt
außerhalb Englands kein Gedächtnis und kein Ange für ihre wahren Bedürfnisse
habe, und daß man Wohlwollen ernten könne, wo man es nicht gesäet hat. Es
heißt, Unmögliches erwarten, es heißt, die Dinge auf den Kopf stellen, wenn
man sie sich wie jene Blätter in ihrer egoistischen Verblendung zurechtmacht.
Nicht Nußland, sondern England steht im jetzigen Streite isolirt.

Beginnen wir auf der Suche nach den Freunden, den hilfsbereiten Freunden,
auf die England nach der limss und ihren Glaubensgenossen in der gegen¬
wärtigen Krisis zu rechnen befugt wäre, mit Deutschland und dem ihm eng-
verbündeten Österreich-Ungarn, so kann zunächst nicht der geringste Zweifel
darüber obwalten, daß diese Mächte sich bei einem zwischen Rußland und
England in Asien ausbrechenden Kriege neutral verhalten würden. Ein vou
Gladstone und Genossen regiertes England ist keine Macht, die Vertrauen
einflößt und mit der man sich gern auf ein Zusammenwirken einläßt. Unent-
schlossenheit und Ungeschick begleiteten bisher alle seine Schritte, und die Folge
war, daß es fast nur Niederlagen erlebte und vorbereitete.

Seitdem die Koalition der Liberalen und Radikalen Englands dessen
Politik betreibt, ist auf die Debetseite der Firma John Bulls folgendes einge¬
tragen: Abänderung des Wahlgesetzes in demokratischen Sinne, Gefährdung
des Oberhauses und Schwächung der monarchischen Gewalt, Aufhebung der
Nepressivnsgesetze in Irland und daraufhin ein Zustand der Verwirrung, der
ärger als offener Aufstand ist, Lostrennuug der Republik der Boers von der
Kapkolonie, welche den Verlust ganz Südafrikas in sich tragen kann, politischer
und finanzieller Bankerott Ägyptens, schwerer Schade des militärischen Prestiges
Englands dort und in der ganzen muhammedanischen Welt, desgleichen Ent¬
fremdung Frankreichs wegen desselben Landes, Verfeindnng mit Rußland in
Asien infolge von Ansprüchen, die man cnglischerseits nicht zu erzwingen vermag,


Die Freunde Englands.

nicht Unrecht haben, wenn sie das Wort „Freunde" im gewöhnlichen diploma¬
tischen Sinne verstünden, wie es etwa in Thranreden und ähnlichen Kund¬
gebungen zur Bezeichnung der Stellung gebraucht wird, die man zu seinen
Nachbarn augenblicklich einnimmt, wo es positiv nicht viel bedeutet. Sie
meinen es aber wesentlich anders, und damit täuschen sie sich und ihre Leser.
Sie denken an hilfreiche Freunde, solche, die im englischen Interesse thätig sein,
dessen Vertreter direkt oder mindestens indirekt unterstützen, ihnen Lasten ab¬
nehmen, ihnen die Hände freimachen würden. Sie haben andre Mächte entdeckt,
die zu Englands gunsten vermitteln, sich zum Schiedsrichter hergeben, in
Petersburg Vorstellungen erheben würden. Sie glauben, daß es solche Mächte
giebt, die bereit wären, im Notfalle dort Störung des Friedens zu verbiete»,
zu drohen, zu demonstriren, ja in letzter Stunde als Bundesgenossen Gro߬
britanniens zu kämpfen. Wir nennen das eine sehr sanguinische Auffassung der
Lage und halten auch die am wenigste» nnbeschciduen unter den hier bezeichneten
Erwartungen für problematisch. Wer sie hegt, muß voraussetzen, daß die Welt
außerhalb Englands kein Gedächtnis und kein Ange für ihre wahren Bedürfnisse
habe, und daß man Wohlwollen ernten könne, wo man es nicht gesäet hat. Es
heißt, Unmögliches erwarten, es heißt, die Dinge auf den Kopf stellen, wenn
man sie sich wie jene Blätter in ihrer egoistischen Verblendung zurechtmacht.
Nicht Nußland, sondern England steht im jetzigen Streite isolirt.

Beginnen wir auf der Suche nach den Freunden, den hilfsbereiten Freunden,
auf die England nach der limss und ihren Glaubensgenossen in der gegen¬
wärtigen Krisis zu rechnen befugt wäre, mit Deutschland und dem ihm eng-
verbündeten Österreich-Ungarn, so kann zunächst nicht der geringste Zweifel
darüber obwalten, daß diese Mächte sich bei einem zwischen Rußland und
England in Asien ausbrechenden Kriege neutral verhalten würden. Ein vou
Gladstone und Genossen regiertes England ist keine Macht, die Vertrauen
einflößt und mit der man sich gern auf ein Zusammenwirken einläßt. Unent-
schlossenheit und Ungeschick begleiteten bisher alle seine Schritte, und die Folge
war, daß es fast nur Niederlagen erlebte und vorbereitete.

Seitdem die Koalition der Liberalen und Radikalen Englands dessen
Politik betreibt, ist auf die Debetseite der Firma John Bulls folgendes einge¬
tragen: Abänderung des Wahlgesetzes in demokratischen Sinne, Gefährdung
des Oberhauses und Schwächung der monarchischen Gewalt, Aufhebung der
Nepressivnsgesetze in Irland und daraufhin ein Zustand der Verwirrung, der
ärger als offener Aufstand ist, Lostrennuug der Republik der Boers von der
Kapkolonie, welche den Verlust ganz Südafrikas in sich tragen kann, politischer
und finanzieller Bankerott Ägyptens, schwerer Schade des militärischen Prestiges
Englands dort und in der ganzen muhammedanischen Welt, desgleichen Ent¬
fremdung Frankreichs wegen desselben Landes, Verfeindnng mit Rußland in
Asien infolge von Ansprüchen, die man cnglischerseits nicht zu erzwingen vermag,


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[0282] Die Freunde Englands. nicht Unrecht haben, wenn sie das Wort „Freunde" im gewöhnlichen diploma¬ tischen Sinne verstünden, wie es etwa in Thranreden und ähnlichen Kund¬ gebungen zur Bezeichnung der Stellung gebraucht wird, die man zu seinen Nachbarn augenblicklich einnimmt, wo es positiv nicht viel bedeutet. Sie meinen es aber wesentlich anders, und damit täuschen sie sich und ihre Leser. Sie denken an hilfreiche Freunde, solche, die im englischen Interesse thätig sein, dessen Vertreter direkt oder mindestens indirekt unterstützen, ihnen Lasten ab¬ nehmen, ihnen die Hände freimachen würden. Sie haben andre Mächte entdeckt, die zu Englands gunsten vermitteln, sich zum Schiedsrichter hergeben, in Petersburg Vorstellungen erheben würden. Sie glauben, daß es solche Mächte giebt, die bereit wären, im Notfalle dort Störung des Friedens zu verbiete», zu drohen, zu demonstriren, ja in letzter Stunde als Bundesgenossen Gro߬ britanniens zu kämpfen. Wir nennen das eine sehr sanguinische Auffassung der Lage und halten auch die am wenigste» nnbeschciduen unter den hier bezeichneten Erwartungen für problematisch. Wer sie hegt, muß voraussetzen, daß die Welt außerhalb Englands kein Gedächtnis und kein Ange für ihre wahren Bedürfnisse habe, und daß man Wohlwollen ernten könne, wo man es nicht gesäet hat. Es heißt, Unmögliches erwarten, es heißt, die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man sie sich wie jene Blätter in ihrer egoistischen Verblendung zurechtmacht. Nicht Nußland, sondern England steht im jetzigen Streite isolirt. Beginnen wir auf der Suche nach den Freunden, den hilfsbereiten Freunden, auf die England nach der limss und ihren Glaubensgenossen in der gegen¬ wärtigen Krisis zu rechnen befugt wäre, mit Deutschland und dem ihm eng- verbündeten Österreich-Ungarn, so kann zunächst nicht der geringste Zweifel darüber obwalten, daß diese Mächte sich bei einem zwischen Rußland und England in Asien ausbrechenden Kriege neutral verhalten würden. Ein vou Gladstone und Genossen regiertes England ist keine Macht, die Vertrauen einflößt und mit der man sich gern auf ein Zusammenwirken einläßt. Unent- schlossenheit und Ungeschick begleiteten bisher alle seine Schritte, und die Folge war, daß es fast nur Niederlagen erlebte und vorbereitete. Seitdem die Koalition der Liberalen und Radikalen Englands dessen Politik betreibt, ist auf die Debetseite der Firma John Bulls folgendes einge¬ tragen: Abänderung des Wahlgesetzes in demokratischen Sinne, Gefährdung des Oberhauses und Schwächung der monarchischen Gewalt, Aufhebung der Nepressivnsgesetze in Irland und daraufhin ein Zustand der Verwirrung, der ärger als offener Aufstand ist, Lostrennuug der Republik der Boers von der Kapkolonie, welche den Verlust ganz Südafrikas in sich tragen kann, politischer und finanzieller Bankerott Ägyptens, schwerer Schade des militärischen Prestiges Englands dort und in der ganzen muhammedanischen Welt, desgleichen Ent¬ fremdung Frankreichs wegen desselben Landes, Verfeindnng mit Rußland in Asien infolge von Ansprüchen, die man cnglischerseits nicht zu erzwingen vermag,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/282>, abgerufen am 22.07.2024.