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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

vor Vierzehn Jahren!" bedeutet ein Selbstlob, das die Brave sich auszustellen
nicht umhin kann. Es heißt: "Fürwahr, wir sind thätig gewesen. Hände voll
Sand haben wir in die Augen unsrer Leser gestreut, sie tappen nunmehr alle
im Dunkeln!"

Es ist dies aufs tiefste zu bedauern, da das Gros der 400000 Deutschen
in Newyork und den Schwesterstädten geradezu auf dieses Blatt augewiesen ist,
das allein den Ansprüchen eines großstädtischen Lesers Genüge leistet. Die armen
Pennhzeitungen, die nebenbei ans den allerbescheidensten Leserkreis wirken, kommen,
auch wo sie prinzipiell nicht gegen unsre Heimat Front machen, nicht in Betracht,
und so muß deun auch hier, wahrscheinlich noch lange, die Wahrheit auf der
Straße herumlaufen, obdachlos wie eine Prostituirte, und betteln, daß sich um
Himmelswillen jemand ihrer erbarme.

Es ist uicht die einzige Frau, die heutzutage weint. Es steht eine andre
aus dem Niederwald am Rhein; sie blickt stolzen Auges in die Welt, wenn
tags der Fremde kommt, um ihr zu huldigen. Aber wenn abends die Schatten
sinken, dann richtet sie sich ängstlich auf und späht mit Geisteraugen über den
weiten Ozean nach Westen, nach jenem fernen Lande, wo ihre Verlornen Kinder
noch immer mit abgewandtem Gesichte stehen und ihre Mutter verläugnen und
verlästern.


R. h.


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
9.

arlamentsferien sind mir stets als eine sehr bedenkliche Einrich¬
tung erschiene". Nehmen wir mir die Hauptsache bei dem gauzen
"Verfassungslebcn," nämlich die parlamentarischen Wortführer,
so muß einleuchten, daß jemand, der gewohnt ist, täglich ein ge¬
wisses Quantum Rede von sich zu geben, uicht ohne Nachteil für
sein Gesamtbefinden genötigt werden kann, sich plötzlich Enthaltsamkeit aufzu¬
erlegen. Allerdings braucht der feiernde Parlamentarier uicht zum Trappisten
zu werden, er wird im engeren Kreise oder auch in dem weiteren einer Wählcr-
versammluug sein Ncdcbedürfnis zu befriedigen suchen. Allein, meine Herren,
das ist nur ein schwacher Ersatz, etwa so, wie wenn der norddeutsche (um, mit
gütiger Erlaubnis der Herren Sozialdemokraten, einen "pommerschen Guts¬
besitzer" zu zitiren) für "sein naturgemäßes Getränk, den Rotwein von Bor¬
deaux, sich mit den sauern Neben von der Ahr und Nahe" behelfen muß: es
fehlt die milde Kraft und Wärme, welche den Organismus beleben. Zudem


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

vor Vierzehn Jahren!" bedeutet ein Selbstlob, das die Brave sich auszustellen
nicht umhin kann. Es heißt: „Fürwahr, wir sind thätig gewesen. Hände voll
Sand haben wir in die Augen unsrer Leser gestreut, sie tappen nunmehr alle
im Dunkeln!"

Es ist dies aufs tiefste zu bedauern, da das Gros der 400000 Deutschen
in Newyork und den Schwesterstädten geradezu auf dieses Blatt augewiesen ist,
das allein den Ansprüchen eines großstädtischen Lesers Genüge leistet. Die armen
Pennhzeitungen, die nebenbei ans den allerbescheidensten Leserkreis wirken, kommen,
auch wo sie prinzipiell nicht gegen unsre Heimat Front machen, nicht in Betracht,
und so muß deun auch hier, wahrscheinlich noch lange, die Wahrheit auf der
Straße herumlaufen, obdachlos wie eine Prostituirte, und betteln, daß sich um
Himmelswillen jemand ihrer erbarme.

Es ist uicht die einzige Frau, die heutzutage weint. Es steht eine andre
aus dem Niederwald am Rhein; sie blickt stolzen Auges in die Welt, wenn
tags der Fremde kommt, um ihr zu huldigen. Aber wenn abends die Schatten
sinken, dann richtet sie sich ängstlich auf und späht mit Geisteraugen über den
weiten Ozean nach Westen, nach jenem fernen Lande, wo ihre Verlornen Kinder
noch immer mit abgewandtem Gesichte stehen und ihre Mutter verläugnen und
verlästern.


R. h.


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.
9.

arlamentsferien sind mir stets als eine sehr bedenkliche Einrich¬
tung erschiene». Nehmen wir mir die Hauptsache bei dem gauzen
„Verfassungslebcn," nämlich die parlamentarischen Wortführer,
so muß einleuchten, daß jemand, der gewohnt ist, täglich ein ge¬
wisses Quantum Rede von sich zu geben, uicht ohne Nachteil für
sein Gesamtbefinden genötigt werden kann, sich plötzlich Enthaltsamkeit aufzu¬
erlegen. Allerdings braucht der feiernde Parlamentarier uicht zum Trappisten
zu werden, er wird im engeren Kreise oder auch in dem weiteren einer Wählcr-
versammluug sein Ncdcbedürfnis zu befriedigen suchen. Allein, meine Herren,
das ist nur ein schwacher Ersatz, etwa so, wie wenn der norddeutsche (um, mit
gütiger Erlaubnis der Herren Sozialdemokraten, einen „pommerschen Guts¬
besitzer" zu zitiren) für „sein naturgemäßes Getränk, den Rotwein von Bor¬
deaux, sich mit den sauern Neben von der Ahr und Nahe" behelfen muß: es
fehlt die milde Kraft und Wärme, welche den Organismus beleben. Zudem


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[0265] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. vor Vierzehn Jahren!" bedeutet ein Selbstlob, das die Brave sich auszustellen nicht umhin kann. Es heißt: „Fürwahr, wir sind thätig gewesen. Hände voll Sand haben wir in die Augen unsrer Leser gestreut, sie tappen nunmehr alle im Dunkeln!" Es ist dies aufs tiefste zu bedauern, da das Gros der 400000 Deutschen in Newyork und den Schwesterstädten geradezu auf dieses Blatt augewiesen ist, das allein den Ansprüchen eines großstädtischen Lesers Genüge leistet. Die armen Pennhzeitungen, die nebenbei ans den allerbescheidensten Leserkreis wirken, kommen, auch wo sie prinzipiell nicht gegen unsre Heimat Front machen, nicht in Betracht, und so muß deun auch hier, wahrscheinlich noch lange, die Wahrheit auf der Straße herumlaufen, obdachlos wie eine Prostituirte, und betteln, daß sich um Himmelswillen jemand ihrer erbarme. Es ist uicht die einzige Frau, die heutzutage weint. Es steht eine andre aus dem Niederwald am Rhein; sie blickt stolzen Auges in die Welt, wenn tags der Fremde kommt, um ihr zu huldigen. Aber wenn abends die Schatten sinken, dann richtet sie sich ängstlich auf und späht mit Geisteraugen über den weiten Ozean nach Westen, nach jenem fernen Lande, wo ihre Verlornen Kinder noch immer mit abgewandtem Gesichte stehen und ihre Mutter verläugnen und verlästern. R. h. Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. 9. arlamentsferien sind mir stets als eine sehr bedenkliche Einrich¬ tung erschiene». Nehmen wir mir die Hauptsache bei dem gauzen „Verfassungslebcn," nämlich die parlamentarischen Wortführer, so muß einleuchten, daß jemand, der gewohnt ist, täglich ein ge¬ wisses Quantum Rede von sich zu geben, uicht ohne Nachteil für sein Gesamtbefinden genötigt werden kann, sich plötzlich Enthaltsamkeit aufzu¬ erlegen. Allerdings braucht der feiernde Parlamentarier uicht zum Trappisten zu werden, er wird im engeren Kreise oder auch in dem weiteren einer Wählcr- versammluug sein Ncdcbedürfnis zu befriedigen suchen. Allein, meine Herren, das ist nur ein schwacher Ersatz, etwa so, wie wenn der norddeutsche (um, mit gütiger Erlaubnis der Herren Sozialdemokraten, einen „pommerschen Guts¬ besitzer" zu zitiren) für „sein naturgemäßes Getränk, den Rotwein von Bor¬ deaux, sich mit den sauern Neben von der Ahr und Nahe" behelfen muß: es fehlt die milde Kraft und Wärme, welche den Organismus beleben. Zudem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/265>, abgerufen am 22.07.2024.