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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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der bedeutenden, in ihrer Art einzigen Frau, sondern auch zur französischen
Literatur- und Kulturgeschichte der letzten Jahrzehnte, zur Kenntnis der
Stimmungen und Urteile in den bedeutendsten französischen Lebenskreisen, bietet
gleichwohl diese Korrespondenz vom ersten bis zum letzten Teil! Eine besondre
und sehr charakteristische Episode, welche sich ans George Sands Briefen er¬
giebt, bilden die Erlebnisse der Dichterin im Kriegsjahre von 1870 zu 1871.
Je weniger wir im ganzen noch von den Wirkungen wissen, welche der deutsch-
französische Krieg auf das Dasein der Einzelnen und der Familien in Frankreich
gehabt hat, je einseitiger gewisse Darstellungen ihre eignen Tendenzen der
gesamten französischen Gesellschaft unterlegen, umso anziehender und wichtiger
erscheinen uns die Briefe, welche George Sand zwischen dem Juli 1870 und dein
März 1871 von ihrem stillen Landsitz Nohant aus geschrieben hat, unmittelbare
Zeugnisse aus stnrmvoller und dunkler Zeit, uicht ohne leidenschaftliche Auf¬
wallungen und falsche Gesichtspunkte in der Beurteilung der Dinge, aber aus
der vollen Wahrheit einer großen und unverlümmerten Natur stammend.

George Sand, welche in den dem Kriege unmittelbar vorausgcgangnen Jahren
ihre unverminderte Schöpfungskraft durch eine ganze Reihe von neuen Romanen,
unter ihnen "Der Marquis von Villcmer," "Mademoiselle La Quiutinie,"
"Laura," "Herr Sylvester," "Die letzte Liebe," "Malgretout," bewährt und
auch einige späte Thcatcrerfvlge errungen hatte, lebte im Juni und Juli 1870
auf ihrem vielgenannten Landgute Nohant. Dies Gut, im alten Herzogtum
Berry, in der Nähe des Städtchens La ClMre gelegen, von dem George Sand
selbst sagt, daß sie daselbst aufgewachsen sei, fast ihr ganzes Leben dort zugebracht
habe und dereinst dort zu sterben wünsche (ein Wunsch, der bekanntlich am
7. Juni 1376 in Erfüllung gegangen ist), hat in der Entwicklung der französischen
Dichterin vollständig die Rolle eines Jungbrunnens gespielt. Dem Aufenthalt
aus diesem Gute, dem Besitz desselben hatte es George Sand vorzugsweise zu
denken, daß in ihr, neben den Einflüssen einer gährenden, wildverworruen Zeit,
ein ewiges, allgiltiges Element lebendig blieb, daß sie sich, trotz aller Leidenschaft
und Reflexion, der Natur und den einfachsten Grundempfindungen des Daseins
niemals völlig entfremdete, daß sie jederzeit einen Blick für gewisse gesunde
Realitäten bewahrte. Die innige Liebe, die sie für den ererbten Fleck Erde in
alleu Lagen ihres Lebens bethätigte, hing mit den besten Seiten des Naturells
der großherzigen und phantnsievollcn Frau zusammen. Sie war mit dem Hanse
und der Landschaft, den Schauplätzen ihrer Kindheit verwachsen. "Der Ertrag
des Gutes ist gering, die Wohnung ist einfach und bequem, und die Umgebungen
sind ohne Schönheit, obwohl Nohant im Mittelpunkt der VÄIvo noirs, einer
weiten, schönen Thallandschaft, gelegen ist. Aber gerade diese Lage in dem
flachsten, niedrigsten Teile des Thales, inmitten eines fruchtbaren Weizenbodeus,
beraubt uns der reichen Abwechslung und der umfassenden Aussicht, welche die
Abhänge und Höhen gewähren. Aber wie dem auch sei, sie gefällt uns, und


der bedeutenden, in ihrer Art einzigen Frau, sondern auch zur französischen
Literatur- und Kulturgeschichte der letzten Jahrzehnte, zur Kenntnis der
Stimmungen und Urteile in den bedeutendsten französischen Lebenskreisen, bietet
gleichwohl diese Korrespondenz vom ersten bis zum letzten Teil! Eine besondre
und sehr charakteristische Episode, welche sich ans George Sands Briefen er¬
giebt, bilden die Erlebnisse der Dichterin im Kriegsjahre von 1870 zu 1871.
Je weniger wir im ganzen noch von den Wirkungen wissen, welche der deutsch-
französische Krieg auf das Dasein der Einzelnen und der Familien in Frankreich
gehabt hat, je einseitiger gewisse Darstellungen ihre eignen Tendenzen der
gesamten französischen Gesellschaft unterlegen, umso anziehender und wichtiger
erscheinen uns die Briefe, welche George Sand zwischen dem Juli 1870 und dein
März 1871 von ihrem stillen Landsitz Nohant aus geschrieben hat, unmittelbare
Zeugnisse aus stnrmvoller und dunkler Zeit, uicht ohne leidenschaftliche Auf¬
wallungen und falsche Gesichtspunkte in der Beurteilung der Dinge, aber aus
der vollen Wahrheit einer großen und unverlümmerten Natur stammend.

George Sand, welche in den dem Kriege unmittelbar vorausgcgangnen Jahren
ihre unverminderte Schöpfungskraft durch eine ganze Reihe von neuen Romanen,
unter ihnen „Der Marquis von Villcmer," „Mademoiselle La Quiutinie,"
„Laura," „Herr Sylvester," „Die letzte Liebe," „Malgretout," bewährt und
auch einige späte Thcatcrerfvlge errungen hatte, lebte im Juni und Juli 1870
auf ihrem vielgenannten Landgute Nohant. Dies Gut, im alten Herzogtum
Berry, in der Nähe des Städtchens La ClMre gelegen, von dem George Sand
selbst sagt, daß sie daselbst aufgewachsen sei, fast ihr ganzes Leben dort zugebracht
habe und dereinst dort zu sterben wünsche (ein Wunsch, der bekanntlich am
7. Juni 1376 in Erfüllung gegangen ist), hat in der Entwicklung der französischen
Dichterin vollständig die Rolle eines Jungbrunnens gespielt. Dem Aufenthalt
aus diesem Gute, dem Besitz desselben hatte es George Sand vorzugsweise zu
denken, daß in ihr, neben den Einflüssen einer gährenden, wildverworruen Zeit,
ein ewiges, allgiltiges Element lebendig blieb, daß sie sich, trotz aller Leidenschaft
und Reflexion, der Natur und den einfachsten Grundempfindungen des Daseins
niemals völlig entfremdete, daß sie jederzeit einen Blick für gewisse gesunde
Realitäten bewahrte. Die innige Liebe, die sie für den ererbten Fleck Erde in
alleu Lagen ihres Lebens bethätigte, hing mit den besten Seiten des Naturells
der großherzigen und phantnsievollcn Frau zusammen. Sie war mit dem Hanse
und der Landschaft, den Schauplätzen ihrer Kindheit verwachsen. „Der Ertrag
des Gutes ist gering, die Wohnung ist einfach und bequem, und die Umgebungen
sind ohne Schönheit, obwohl Nohant im Mittelpunkt der VÄIvo noirs, einer
weiten, schönen Thallandschaft, gelegen ist. Aber gerade diese Lage in dem
flachsten, niedrigsten Teile des Thales, inmitten eines fruchtbaren Weizenbodeus,
beraubt uns der reichen Abwechslung und der umfassenden Aussicht, welche die
Abhänge und Höhen gewähren. Aber wie dem auch sei, sie gefällt uns, und


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[0252] der bedeutenden, in ihrer Art einzigen Frau, sondern auch zur französischen Literatur- und Kulturgeschichte der letzten Jahrzehnte, zur Kenntnis der Stimmungen und Urteile in den bedeutendsten französischen Lebenskreisen, bietet gleichwohl diese Korrespondenz vom ersten bis zum letzten Teil! Eine besondre und sehr charakteristische Episode, welche sich ans George Sands Briefen er¬ giebt, bilden die Erlebnisse der Dichterin im Kriegsjahre von 1870 zu 1871. Je weniger wir im ganzen noch von den Wirkungen wissen, welche der deutsch- französische Krieg auf das Dasein der Einzelnen und der Familien in Frankreich gehabt hat, je einseitiger gewisse Darstellungen ihre eignen Tendenzen der gesamten französischen Gesellschaft unterlegen, umso anziehender und wichtiger erscheinen uns die Briefe, welche George Sand zwischen dem Juli 1870 und dein März 1871 von ihrem stillen Landsitz Nohant aus geschrieben hat, unmittelbare Zeugnisse aus stnrmvoller und dunkler Zeit, uicht ohne leidenschaftliche Auf¬ wallungen und falsche Gesichtspunkte in der Beurteilung der Dinge, aber aus der vollen Wahrheit einer großen und unverlümmerten Natur stammend. George Sand, welche in den dem Kriege unmittelbar vorausgcgangnen Jahren ihre unverminderte Schöpfungskraft durch eine ganze Reihe von neuen Romanen, unter ihnen „Der Marquis von Villcmer," „Mademoiselle La Quiutinie," „Laura," „Herr Sylvester," „Die letzte Liebe," „Malgretout," bewährt und auch einige späte Thcatcrerfvlge errungen hatte, lebte im Juni und Juli 1870 auf ihrem vielgenannten Landgute Nohant. Dies Gut, im alten Herzogtum Berry, in der Nähe des Städtchens La ClMre gelegen, von dem George Sand selbst sagt, daß sie daselbst aufgewachsen sei, fast ihr ganzes Leben dort zugebracht habe und dereinst dort zu sterben wünsche (ein Wunsch, der bekanntlich am 7. Juni 1376 in Erfüllung gegangen ist), hat in der Entwicklung der französischen Dichterin vollständig die Rolle eines Jungbrunnens gespielt. Dem Aufenthalt aus diesem Gute, dem Besitz desselben hatte es George Sand vorzugsweise zu denken, daß in ihr, neben den Einflüssen einer gährenden, wildverworruen Zeit, ein ewiges, allgiltiges Element lebendig blieb, daß sie sich, trotz aller Leidenschaft und Reflexion, der Natur und den einfachsten Grundempfindungen des Daseins niemals völlig entfremdete, daß sie jederzeit einen Blick für gewisse gesunde Realitäten bewahrte. Die innige Liebe, die sie für den ererbten Fleck Erde in alleu Lagen ihres Lebens bethätigte, hing mit den besten Seiten des Naturells der großherzigen und phantnsievollcn Frau zusammen. Sie war mit dem Hanse und der Landschaft, den Schauplätzen ihrer Kindheit verwachsen. „Der Ertrag des Gutes ist gering, die Wohnung ist einfach und bequem, und die Umgebungen sind ohne Schönheit, obwohl Nohant im Mittelpunkt der VÄIvo noirs, einer weiten, schönen Thallandschaft, gelegen ist. Aber gerade diese Lage in dem flachsten, niedrigsten Teile des Thales, inmitten eines fruchtbaren Weizenbodeus, beraubt uns der reichen Abwechslung und der umfassenden Aussicht, welche die Abhänge und Höhen gewähren. Aber wie dem auch sei, sie gefällt uns, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/252>, abgerufen am 22.07.2024.