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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Berge zusammen und sehen das Meer mit dem Rücken an." Damit ist die
Vinnenlandlagc von Thüringen klassisch bezeichnet. Aber wer möchte wohl glauben,
daß in diesem Augenblicke das Binnenland Thüringen von deutschen Gelehrten
ebenso eifrig durchforscht wird wie der schwarze Kontinent! Will man denn auf
den Bergen, die alljährlich von taufenden von Touristen besucht werden, noch
Entdeckungen machen? Eine jüngst erschienene Habilitationsschrift des Jenaer
Privatdozenten für Geographie, I)r. Fr. Negel, "Entwicklung der Ortschaften
im Thüringerwald" (Gotha, Perthes) legt allerdings Zeugnis dafür ab, daß man
über Land und Volk auf dem Thüringerwalde noch erfolgreich Studien anstellen
kann. Es ist hier nicht der Ort, über die nach vielen Seiten hin höchst an-
regende Abhandlung ein fachwissenschaftliches Urteil abzugeben, aber die
Motive, aus denen diese Gclehrtenarbeit entsprungen ist, beanspruchen ein all¬
gemeines Interesse, denn sie ist ein Veitrag zur wissenschaftlichen Landeskunde
von Deutschland.

Wenn uus heute ein Ausländer nach einem guten wissenschaftlich-geo¬
graphischen Werke über Gesäme-Deutschland fragte, so könnten wir ihm keine
Antwort darauf geben. Nur einzelne Teile unsers Vaterlandes sind einer ge¬
nauen Durchforschung nach allen Seiten hin unterzogen worden; namentlich hat
auf diesem Gebiete Süddeutschland mit anerkennenswerten Eifer gearbeitet, was
um besten ein in München von 1860 bis 1867 erschienenes Werk beweist, die
"Bavaria, eine Landes- und Volkskunde des Königreichs Baiern," herausgegeben
von einem Kreise bairischer Gelehrten. Auch dürfte hierher das Werk ven
H. Guthe zu rechnen sein: "Die Lande Braunschweig und Hannover," Han¬
nover, 1867.

Nicht als einen Zufall, sondern als eine natürliche Folge unsers erstarkten
Nationalbewußtseins ist es wohl anzusehen, wenn auf dem Geographentage zu
Halle im Jahre 1882 der Privatdozent der Geographie Oberlehrer or. Leh¬
mami es als eine nationale Pflicht und Sühne bezeichnete, nach den großen
Jahren 1870/71 an die Begründung einer wissenschaftlichen Landeskunde von
Deutschland heranzutreten, und in einem trefflichen Vortrage -- derselbe ist als
Separatabdruck erschienen (Berlin, Reimer, 1882) -- zur Ernennung einer
Kommission für diesen Zweck aufforderte.

Seine Worte zündeten. Bereits ein Jahr darnach, auf dem Geographen¬
tage in Frankfurt a. M., berichtete derselbe Gelehrte über die Schritte, welche die
auf dem Hallischen Gevgraphentage eingesetzte Zeutralkommission gethan hatte.
Diese Kommission, bestehend aus den Herren Dr. Lehmann in Halle, Professor
Ratzel in München und Professor Zöppritz in Königsberg, begann ihre Thätigkeit
mit dem Erlaß eines Aufrufes, der in vierzehnhundert Exemplaren nach allen
Teilen des deutschen Reiches, nach Österreich, nach der Schweiz, den Nieder¬
landen und Belgien, ja selbst nach den deutschen Sprachinseln in Sieben¬
bürgen und den russischen Ostseeprovinzen versandt wurde. In diesem Ausrufe


Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Berge zusammen und sehen das Meer mit dem Rücken an." Damit ist die
Vinnenlandlagc von Thüringen klassisch bezeichnet. Aber wer möchte wohl glauben,
daß in diesem Augenblicke das Binnenland Thüringen von deutschen Gelehrten
ebenso eifrig durchforscht wird wie der schwarze Kontinent! Will man denn auf
den Bergen, die alljährlich von taufenden von Touristen besucht werden, noch
Entdeckungen machen? Eine jüngst erschienene Habilitationsschrift des Jenaer
Privatdozenten für Geographie, I)r. Fr. Negel, „Entwicklung der Ortschaften
im Thüringerwald" (Gotha, Perthes) legt allerdings Zeugnis dafür ab, daß man
über Land und Volk auf dem Thüringerwalde noch erfolgreich Studien anstellen
kann. Es ist hier nicht der Ort, über die nach vielen Seiten hin höchst an-
regende Abhandlung ein fachwissenschaftliches Urteil abzugeben, aber die
Motive, aus denen diese Gclehrtenarbeit entsprungen ist, beanspruchen ein all¬
gemeines Interesse, denn sie ist ein Veitrag zur wissenschaftlichen Landeskunde
von Deutschland.

Wenn uus heute ein Ausländer nach einem guten wissenschaftlich-geo¬
graphischen Werke über Gesäme-Deutschland fragte, so könnten wir ihm keine
Antwort darauf geben. Nur einzelne Teile unsers Vaterlandes sind einer ge¬
nauen Durchforschung nach allen Seiten hin unterzogen worden; namentlich hat
auf diesem Gebiete Süddeutschland mit anerkennenswerten Eifer gearbeitet, was
um besten ein in München von 1860 bis 1867 erschienenes Werk beweist, die
„Bavaria, eine Landes- und Volkskunde des Königreichs Baiern," herausgegeben
von einem Kreise bairischer Gelehrten. Auch dürfte hierher das Werk ven
H. Guthe zu rechnen sein: „Die Lande Braunschweig und Hannover," Han¬
nover, 1867.

Nicht als einen Zufall, sondern als eine natürliche Folge unsers erstarkten
Nationalbewußtseins ist es wohl anzusehen, wenn auf dem Geographentage zu
Halle im Jahre 1882 der Privatdozent der Geographie Oberlehrer or. Leh¬
mami es als eine nationale Pflicht und Sühne bezeichnete, nach den großen
Jahren 1870/71 an die Begründung einer wissenschaftlichen Landeskunde von
Deutschland heranzutreten, und in einem trefflichen Vortrage — derselbe ist als
Separatabdruck erschienen (Berlin, Reimer, 1882) — zur Ernennung einer
Kommission für diesen Zweck aufforderte.

Seine Worte zündeten. Bereits ein Jahr darnach, auf dem Geographen¬
tage in Frankfurt a. M., berichtete derselbe Gelehrte über die Schritte, welche die
auf dem Hallischen Gevgraphentage eingesetzte Zeutralkommission gethan hatte.
Diese Kommission, bestehend aus den Herren Dr. Lehmann in Halle, Professor
Ratzel in München und Professor Zöppritz in Königsberg, begann ihre Thätigkeit
mit dem Erlaß eines Aufrufes, der in vierzehnhundert Exemplaren nach allen
Teilen des deutschen Reiches, nach Österreich, nach der Schweiz, den Nieder¬
landen und Belgien, ja selbst nach den deutschen Sprachinseln in Sieben¬
bürgen und den russischen Ostseeprovinzen versandt wurde. In diesem Ausrufe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/24>, abgerufen am 07.01.2025.