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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Vstprenßische Skizzen.

(eine ganz in der Nähe stattfindende Abzweigung mitgerechnet) nicht weniger
als sechs Bahnlinien bei sich einmünden sehen wird. Bekanntlich ist Nllensteiu
zum Sitze eines von den Regierungsbezirken Königsberg und Gumbinnen ab¬
zuzweigenden neuen Regierungsbezirkes (Masuren und südliches Ermland) be¬
stimmt, und wird dann schnell genug einen mindestens ebenso großstädtischen
Charakter wie Jnsterburg annehmen. Einstweilen kleben ihm freilich die Eier¬
schalen des ermländischen Landstädtchens noch sehr stark an, und in Veamten-
kreisen ist es gefürchtet wegen seiner teuern Preise (diesem unliebsamen Begleiter
einer plötzlichen starken Entwicklung).

Jetzt erst kommt Memel. Es ist bedauerlich, daß dieser gute alte Hafen-
platz mehr und mehr zurückgeht, aber -- es ist nicht zu ändern. Wir
können doch die Russen nicht hindern, ihre Eisenbahnen und Häfen auszubauen,
und je mehr dies geschieht, desto mehr kommt Memel ins Hintertreffen. Eine
kleine Aussicht eröffnet sich neuerdings der Stadt insofern, als Riga sich dem
emporstrebenden Libau gegenüber in einer ähnlichen Lage wie Memel befindet
und sich Memels nun, wie es heißt, zur Führung des Konkurrenzkampfes be¬
dienen will; aber zur Erhaltung von Memel als eines selbständigen Handels¬
platzes wird das auch nicht sonderlich beitragen. Übrigens ist Memel eine
hübsche, freundliche Stadt mit vielem ererbten Wohlstande und manchen Annehm¬
lichkeiten. Die Regierung thut, was sie kauu, um ihm einen Ersatz für den lang¬
sam hinschwindenden Seehandel zu bieten, wie denn z. B. Memel. trotz des
abnorm kleinen Gebietes hierfür, sein eignes Landgericht erhalten hat.

So bleibt noch des "Regierungsdorfes" Gumbinnen zu gedenken. Aber nur
keine Übertreibungen! Gumbinnen ist allerdings, von den Markttagen abgesehen,
ein totes Nest, in welchem die Regierungsbeamten einen abgeschlossenen Gesell¬
schaftskreis für sich bilden und auf die übrigen städtischen Verhältnisse weder
Einfluß ausüben noch erstreben, und welches wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit
seit dem Tage nicht mehr besitzt, wo die Eisenbahnkreuzung einerseits nach
Tilsit und andrerseits nach Lyck, die an und für sich geradesogut zu Gum-
binnen hätte ausgeführt werden können, nach Jnsterburg verlegt wurde. Ja,
Gumbinnen hat seine Haltung zur Konfliktszeit (die übrigens in der That eine
solche war, daß einem pflichtgetreueu Regierungsbeamten ob derselben das Blut
sieden mußte) hart büßen müssen, und kann sich darüber bei seinen damaligen
Führern bedanken. Es wird zwar viel von einer Qnerbahu Darlehnen-Gum-
binnen gesprochen, aber nicht nur diese Bahn selbst, sondern auch ihre Nus-
mündnng ist sehr zweifelhaft, und keinesfalls wird sie schwer ins Gewicht
fallen. Aber bei alledem ist Gumbinnen doch kein Dorf, sondern es ist ein
weitgedehntes Landstädtchen mit prätentiös breiten Straßen, an denen hie und
da auch prätentiös große Hänser liegen, und mit all dem Apparat des
Wohllebens, wie einige Dutzend höherer Beamten seiner bedürfen. Auch die
Umgegend ist nicht ganz ohne hübsche Punkte. Bei alledem ist der längere


Vstprenßische Skizzen.

(eine ganz in der Nähe stattfindende Abzweigung mitgerechnet) nicht weniger
als sechs Bahnlinien bei sich einmünden sehen wird. Bekanntlich ist Nllensteiu
zum Sitze eines von den Regierungsbezirken Königsberg und Gumbinnen ab¬
zuzweigenden neuen Regierungsbezirkes (Masuren und südliches Ermland) be¬
stimmt, und wird dann schnell genug einen mindestens ebenso großstädtischen
Charakter wie Jnsterburg annehmen. Einstweilen kleben ihm freilich die Eier¬
schalen des ermländischen Landstädtchens noch sehr stark an, und in Veamten-
kreisen ist es gefürchtet wegen seiner teuern Preise (diesem unliebsamen Begleiter
einer plötzlichen starken Entwicklung).

Jetzt erst kommt Memel. Es ist bedauerlich, daß dieser gute alte Hafen-
platz mehr und mehr zurückgeht, aber — es ist nicht zu ändern. Wir
können doch die Russen nicht hindern, ihre Eisenbahnen und Häfen auszubauen,
und je mehr dies geschieht, desto mehr kommt Memel ins Hintertreffen. Eine
kleine Aussicht eröffnet sich neuerdings der Stadt insofern, als Riga sich dem
emporstrebenden Libau gegenüber in einer ähnlichen Lage wie Memel befindet
und sich Memels nun, wie es heißt, zur Führung des Konkurrenzkampfes be¬
dienen will; aber zur Erhaltung von Memel als eines selbständigen Handels¬
platzes wird das auch nicht sonderlich beitragen. Übrigens ist Memel eine
hübsche, freundliche Stadt mit vielem ererbten Wohlstande und manchen Annehm¬
lichkeiten. Die Regierung thut, was sie kauu, um ihm einen Ersatz für den lang¬
sam hinschwindenden Seehandel zu bieten, wie denn z. B. Memel. trotz des
abnorm kleinen Gebietes hierfür, sein eignes Landgericht erhalten hat.

So bleibt noch des „Regierungsdorfes" Gumbinnen zu gedenken. Aber nur
keine Übertreibungen! Gumbinnen ist allerdings, von den Markttagen abgesehen,
ein totes Nest, in welchem die Regierungsbeamten einen abgeschlossenen Gesell¬
schaftskreis für sich bilden und auf die übrigen städtischen Verhältnisse weder
Einfluß ausüben noch erstreben, und welches wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit
seit dem Tage nicht mehr besitzt, wo die Eisenbahnkreuzung einerseits nach
Tilsit und andrerseits nach Lyck, die an und für sich geradesogut zu Gum-
binnen hätte ausgeführt werden können, nach Jnsterburg verlegt wurde. Ja,
Gumbinnen hat seine Haltung zur Konfliktszeit (die übrigens in der That eine
solche war, daß einem pflichtgetreueu Regierungsbeamten ob derselben das Blut
sieden mußte) hart büßen müssen, und kann sich darüber bei seinen damaligen
Führern bedanken. Es wird zwar viel von einer Qnerbahu Darlehnen-Gum-
binnen gesprochen, aber nicht nur diese Bahn selbst, sondern auch ihre Nus-
mündnng ist sehr zweifelhaft, und keinesfalls wird sie schwer ins Gewicht
fallen. Aber bei alledem ist Gumbinnen doch kein Dorf, sondern es ist ein
weitgedehntes Landstädtchen mit prätentiös breiten Straßen, an denen hie und
da auch prätentiös große Hänser liegen, und mit all dem Apparat des
Wohllebens, wie einige Dutzend höherer Beamten seiner bedürfen. Auch die
Umgegend ist nicht ganz ohne hübsche Punkte. Bei alledem ist der längere


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[0239] Vstprenßische Skizzen. (eine ganz in der Nähe stattfindende Abzweigung mitgerechnet) nicht weniger als sechs Bahnlinien bei sich einmünden sehen wird. Bekanntlich ist Nllensteiu zum Sitze eines von den Regierungsbezirken Königsberg und Gumbinnen ab¬ zuzweigenden neuen Regierungsbezirkes (Masuren und südliches Ermland) be¬ stimmt, und wird dann schnell genug einen mindestens ebenso großstädtischen Charakter wie Jnsterburg annehmen. Einstweilen kleben ihm freilich die Eier¬ schalen des ermländischen Landstädtchens noch sehr stark an, und in Veamten- kreisen ist es gefürchtet wegen seiner teuern Preise (diesem unliebsamen Begleiter einer plötzlichen starken Entwicklung). Jetzt erst kommt Memel. Es ist bedauerlich, daß dieser gute alte Hafen- platz mehr und mehr zurückgeht, aber — es ist nicht zu ändern. Wir können doch die Russen nicht hindern, ihre Eisenbahnen und Häfen auszubauen, und je mehr dies geschieht, desto mehr kommt Memel ins Hintertreffen. Eine kleine Aussicht eröffnet sich neuerdings der Stadt insofern, als Riga sich dem emporstrebenden Libau gegenüber in einer ähnlichen Lage wie Memel befindet und sich Memels nun, wie es heißt, zur Führung des Konkurrenzkampfes be¬ dienen will; aber zur Erhaltung von Memel als eines selbständigen Handels¬ platzes wird das auch nicht sonderlich beitragen. Übrigens ist Memel eine hübsche, freundliche Stadt mit vielem ererbten Wohlstande und manchen Annehm¬ lichkeiten. Die Regierung thut, was sie kauu, um ihm einen Ersatz für den lang¬ sam hinschwindenden Seehandel zu bieten, wie denn z. B. Memel. trotz des abnorm kleinen Gebietes hierfür, sein eignes Landgericht erhalten hat. So bleibt noch des „Regierungsdorfes" Gumbinnen zu gedenken. Aber nur keine Übertreibungen! Gumbinnen ist allerdings, von den Markttagen abgesehen, ein totes Nest, in welchem die Regierungsbeamten einen abgeschlossenen Gesell¬ schaftskreis für sich bilden und auf die übrigen städtischen Verhältnisse weder Einfluß ausüben noch erstreben, und welches wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit seit dem Tage nicht mehr besitzt, wo die Eisenbahnkreuzung einerseits nach Tilsit und andrerseits nach Lyck, die an und für sich geradesogut zu Gum- binnen hätte ausgeführt werden können, nach Jnsterburg verlegt wurde. Ja, Gumbinnen hat seine Haltung zur Konfliktszeit (die übrigens in der That eine solche war, daß einem pflichtgetreueu Regierungsbeamten ob derselben das Blut sieden mußte) hart büßen müssen, und kann sich darüber bei seinen damaligen Führern bedanken. Es wird zwar viel von einer Qnerbahu Darlehnen-Gum- binnen gesprochen, aber nicht nur diese Bahn selbst, sondern auch ihre Nus- mündnng ist sehr zweifelhaft, und keinesfalls wird sie schwer ins Gewicht fallen. Aber bei alledem ist Gumbinnen doch kein Dorf, sondern es ist ein weitgedehntes Landstädtchen mit prätentiös breiten Straßen, an denen hie und da auch prätentiös große Hänser liegen, und mit all dem Apparat des Wohllebens, wie einige Dutzend höherer Beamten seiner bedürfen. Auch die Umgegend ist nicht ganz ohne hübsche Punkte. Bei alledem ist der längere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/239>, abgerufen am 22.07.2024.