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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die musikalischen Jubiläen des Jahres ^835.

sein Wesen mit dem Pietismus nichts gemein hat, und daß, wenn Bach not¬
gedrungen ab und zu einen pietistischen Text komponirt hat, er diese süßlichen
poetischen Wässer durch das Medium seiner Musik immer in kräftigen Wein
verwandelt hat. Aber daß dieser klaren Thatsache gegenüber jener falsche
Vorwurf doch gemacht und aufrecht erhalten werden konnte, giebt zu denken.
Und dieser Punkt ist es, der uns ans das Verhältnis der Ästhetik und der
Kritik zu unsern Meistern sührt. Dieses Verhältnis aber läßt sehr viel zu
wünschen übrig. In Büchern und Blättern sollten sich über Kunst und Künstler
nur diejenigen das Wort erlauben, welche mit der Sache vollständig vertraut
und imstande sind, das allgemeine Verständnis um einen Schritt weiter zu
fördern. Diejenigen welche über Händel und Bach schreiben, müßten nicht nur
in den Werken dieser Meister genau Bescheid wissen, sondern auch deren Zu¬
sammenhang mit der ältern Kunst im Ange haben und sich das Ziel setzen,
einer bessern Erkenntnis und Ausnützung dieser ältern Kunst selbst eine Bahn
zu brechen. Denn wer nicht ahnt und begreift, daß die Renaissance von Bach
und Händel uns weiter führen muß und nur der Anfang einer Bewegung ist,
die noch ein großes Stück aus der Tonkunst vergangner Zeiten in unsre gegen¬
wärtige und zukünftige Mnsikpflege zurücklciteu wird, der versteht den Gang der
Geschichte nicht. Wie weit ab, wie kläglich weit ab von diesem Ideale einer
würdigen Kritik war das meiste, was bei Gelegenheit dieser Jubiläen geschrieben
worden ist! Von weitern Zielen bei dem Durchschnitte dieser Schreibereien keine
Spur -- bei vielen die erbärmlichste Unwissenheit in den einfachsten Dingen!
Unkenntnis in den Namen und Daten der alten Meister, über welche diese
Herren andre belehren wollen. In den "Signalen," einem weitverbreiteten
Musikblatte, lasen wir von einem "Hermann" Schütz, eine Anzahl von Zeitungen
machte Bach zum Organisten in Leipzig, der Breslauer "Hausfreund" läßt dem
Aufenthalt Händels in Hamburg einen Spielraum von 1696 bis 1716. Doch
genug vou diesem vulgg.ri8 grex! Leider ist es in deu Büchern der Ästhetiker
kaum viel besser bestellt. Wenig Wissen und sehr viel Worte. Von einer einzigen
kleinen treffenden Beobachtung machen sie ein Aufheben wie gackernde Hennen,
bestreiten positive Vorzüge von Bedeutung und bauschen allgemein menschliche
Charakterseiten zu staunenswerten Eigentümlichkeiten auf. Man lese den Artikel
"Bach und Mendelssohn aus dem sozialen Gesichtspunkte" in Nichts "Musi¬
kalischen Charakterköpfen." Und nicht gehört noch zu den Besseren! Im Hinblick
auf solche Erscheinungen können wir unsre Betrachtung nur mit den Worten
schließen: "Es bleibt noch viel zu thun!"




Die musikalischen Jubiläen des Jahres ^835.

sein Wesen mit dem Pietismus nichts gemein hat, und daß, wenn Bach not¬
gedrungen ab und zu einen pietistischen Text komponirt hat, er diese süßlichen
poetischen Wässer durch das Medium seiner Musik immer in kräftigen Wein
verwandelt hat. Aber daß dieser klaren Thatsache gegenüber jener falsche
Vorwurf doch gemacht und aufrecht erhalten werden konnte, giebt zu denken.
Und dieser Punkt ist es, der uns ans das Verhältnis der Ästhetik und der
Kritik zu unsern Meistern sührt. Dieses Verhältnis aber läßt sehr viel zu
wünschen übrig. In Büchern und Blättern sollten sich über Kunst und Künstler
nur diejenigen das Wort erlauben, welche mit der Sache vollständig vertraut
und imstande sind, das allgemeine Verständnis um einen Schritt weiter zu
fördern. Diejenigen welche über Händel und Bach schreiben, müßten nicht nur
in den Werken dieser Meister genau Bescheid wissen, sondern auch deren Zu¬
sammenhang mit der ältern Kunst im Ange haben und sich das Ziel setzen,
einer bessern Erkenntnis und Ausnützung dieser ältern Kunst selbst eine Bahn
zu brechen. Denn wer nicht ahnt und begreift, daß die Renaissance von Bach
und Händel uns weiter führen muß und nur der Anfang einer Bewegung ist,
die noch ein großes Stück aus der Tonkunst vergangner Zeiten in unsre gegen¬
wärtige und zukünftige Mnsikpflege zurücklciteu wird, der versteht den Gang der
Geschichte nicht. Wie weit ab, wie kläglich weit ab von diesem Ideale einer
würdigen Kritik war das meiste, was bei Gelegenheit dieser Jubiläen geschrieben
worden ist! Von weitern Zielen bei dem Durchschnitte dieser Schreibereien keine
Spur — bei vielen die erbärmlichste Unwissenheit in den einfachsten Dingen!
Unkenntnis in den Namen und Daten der alten Meister, über welche diese
Herren andre belehren wollen. In den „Signalen," einem weitverbreiteten
Musikblatte, lasen wir von einem „Hermann" Schütz, eine Anzahl von Zeitungen
machte Bach zum Organisten in Leipzig, der Breslauer „Hausfreund" läßt dem
Aufenthalt Händels in Hamburg einen Spielraum von 1696 bis 1716. Doch
genug vou diesem vulgg.ri8 grex! Leider ist es in deu Büchern der Ästhetiker
kaum viel besser bestellt. Wenig Wissen und sehr viel Worte. Von einer einzigen
kleinen treffenden Beobachtung machen sie ein Aufheben wie gackernde Hennen,
bestreiten positive Vorzüge von Bedeutung und bauschen allgemein menschliche
Charakterseiten zu staunenswerten Eigentümlichkeiten auf. Man lese den Artikel
„Bach und Mendelssohn aus dem sozialen Gesichtspunkte" in Nichts „Musi¬
kalischen Charakterköpfen." Und nicht gehört noch zu den Besseren! Im Hinblick
auf solche Erscheinungen können wir unsre Betrachtung nur mit den Worten
schließen: „Es bleibt noch viel zu thun!"




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/211>, abgerufen am 22.07.2024.