Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Noriz Tcirriere über die Poesie.

Die erste Auflage des Werkes, aus Aufsätzen über die "Formen der Poesie"
im Cottaschen Morgenblatte hervorgegangen, erschien schon im Jahre 1854, kurz
nach der Berufung Carrieres nach München durch König Max den Zweiten. Das
Buch enthält eine Beilage, welche für eine neue Wissenschaft geradezu bahnbrechend
geworden ist: für die vergleichende Literaturgeschichte, Jene Beilage führt den
Titel: "Ideen zu einer vergleichenden Darstellung des indischen, persischen,
griechischen und germanischen Volksepos." Carriere begriff -- und dies ist
z. V. einer seiner Vorzüge gegenüber dem mehr in abstrakten Spekulationen
sich verlierenden Bischer -- schon frühe, daß eine Theorie der Kunst überhaupt
und natürlich auch der Poesie speziell nur auf Grund einer genauen Kenntnis
des gesamten konkreten Materials aus allen Völkern gegeben werden kann.
Er erwarb sich daher eine historische Detailkenntnis aller Künste, wie sie außer
ihm in der Gegenwart ein Einzelner überhaupt nicht mehr besitzt. Was die
Hieher, zur Poesie gehörende, allgemeine Literaturgeschichte betrifft, so kann nur
Scherr neben ihn gestellt werden, den Carriere aber an philosophischem Weit¬
blick übertrifft. Dieser philosophische Blick befähigte ihn aber eben, die Idee
einer vergleichenden Literaturgeschichte zu erfassen und an die Ausführung der¬
selben zu gehen. Es ist ein im wesentlichen Goethischer Gedanke, der in seinen
mannichfachen Hinweisen auf die Weltliteratur (vor der der alte Arndt in ein¬
seitigem Patriotismus seine "lieben Deutschen" warnen zu müssen meinte) schon
Winke in dieser Richtung gegeben hatte. Es handelt sich bei dieser Wissenschaft
um ein Doppeltes: einmal müssen aus den unendlich vielen verschiednen Va¬
riationen der einzelnen Kunstformen bei den verschiedenen Völkern und zu ver-
schiednen Zeiten die gemeinsamen typischen Gesetze und Motive hcranspräparirt
werden, nach denen überall die epischen, lyrischen und dramatischen Erzeugnisse
entstehen; sodann aber muß nachgewiesen werden, wie sich die Abweichungen der
einzelnen Völker und Zeiten voneinander ans den besondern kulturhistorischen
und völkerpsychologischen Verhältnissen und Anlagen erklären. Carriere hat ganz
richtig erkannt, daß diese -- allerdings äußerst schwierige -- Wissenschaft das
notwendige Komplement einer wissenschaftlichen Ästhetik sein müsse, und so ist
er denn rüstig an dieselbe hinangeschrittcn. War doch auch niemand so wie er
dazu prcidestiuirt durch eine ganz unglaubliche Kenntnis des literaturgeschicht-
lichcn Details. So erklärt sich denn der Titel des Werkes: "Die Poesie. Ihr
Wesen und ihre Formeu mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte."

In dem gesamten Titel des Werkes ist auch der Einzelgang desselben an¬
gedeutet. Zuerst bespricht Carriere das allgemeine Wesen der Poesie in sechs
Abschnitten: I. Leben und Kunst; 2. Die Sprache und ihre Entwicklung;
3. Der Mythus; 4. Poesie und Prosa, Kunst und Wissenschaft; 5. Die Poesie
im Verhältnis zur bildenden Kunst und Musik; 6. Die poetischen Darstellungs-
mittel: Die Bildlichkeit der Rede, l.) Der Vers. Dann folgt nach einem
Übergangskapitel über den Unterschied der Volks- und der Kunstpoesie der große


Noriz Tcirriere über die Poesie.

Die erste Auflage des Werkes, aus Aufsätzen über die „Formen der Poesie"
im Cottaschen Morgenblatte hervorgegangen, erschien schon im Jahre 1854, kurz
nach der Berufung Carrieres nach München durch König Max den Zweiten. Das
Buch enthält eine Beilage, welche für eine neue Wissenschaft geradezu bahnbrechend
geworden ist: für die vergleichende Literaturgeschichte, Jene Beilage führt den
Titel: „Ideen zu einer vergleichenden Darstellung des indischen, persischen,
griechischen und germanischen Volksepos." Carriere begriff — und dies ist
z. V. einer seiner Vorzüge gegenüber dem mehr in abstrakten Spekulationen
sich verlierenden Bischer — schon frühe, daß eine Theorie der Kunst überhaupt
und natürlich auch der Poesie speziell nur auf Grund einer genauen Kenntnis
des gesamten konkreten Materials aus allen Völkern gegeben werden kann.
Er erwarb sich daher eine historische Detailkenntnis aller Künste, wie sie außer
ihm in der Gegenwart ein Einzelner überhaupt nicht mehr besitzt. Was die
Hieher, zur Poesie gehörende, allgemeine Literaturgeschichte betrifft, so kann nur
Scherr neben ihn gestellt werden, den Carriere aber an philosophischem Weit¬
blick übertrifft. Dieser philosophische Blick befähigte ihn aber eben, die Idee
einer vergleichenden Literaturgeschichte zu erfassen und an die Ausführung der¬
selben zu gehen. Es ist ein im wesentlichen Goethischer Gedanke, der in seinen
mannichfachen Hinweisen auf die Weltliteratur (vor der der alte Arndt in ein¬
seitigem Patriotismus seine „lieben Deutschen" warnen zu müssen meinte) schon
Winke in dieser Richtung gegeben hatte. Es handelt sich bei dieser Wissenschaft
um ein Doppeltes: einmal müssen aus den unendlich vielen verschiednen Va¬
riationen der einzelnen Kunstformen bei den verschiedenen Völkern und zu ver-
schiednen Zeiten die gemeinsamen typischen Gesetze und Motive hcranspräparirt
werden, nach denen überall die epischen, lyrischen und dramatischen Erzeugnisse
entstehen; sodann aber muß nachgewiesen werden, wie sich die Abweichungen der
einzelnen Völker und Zeiten voneinander ans den besondern kulturhistorischen
und völkerpsychologischen Verhältnissen und Anlagen erklären. Carriere hat ganz
richtig erkannt, daß diese — allerdings äußerst schwierige — Wissenschaft das
notwendige Komplement einer wissenschaftlichen Ästhetik sein müsse, und so ist
er denn rüstig an dieselbe hinangeschrittcn. War doch auch niemand so wie er
dazu prcidestiuirt durch eine ganz unglaubliche Kenntnis des literaturgeschicht-
lichcn Details. So erklärt sich denn der Titel des Werkes: „Die Poesie. Ihr
Wesen und ihre Formeu mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte."

In dem gesamten Titel des Werkes ist auch der Einzelgang desselben an¬
gedeutet. Zuerst bespricht Carriere das allgemeine Wesen der Poesie in sechs
Abschnitten: I. Leben und Kunst; 2. Die Sprache und ihre Entwicklung;
3. Der Mythus; 4. Poesie und Prosa, Kunst und Wissenschaft; 5. Die Poesie
im Verhältnis zur bildenden Kunst und Musik; 6. Die poetischen Darstellungs-
mittel: Die Bildlichkeit der Rede, l.) Der Vers. Dann folgt nach einem
Übergangskapitel über den Unterschied der Volks- und der Kunstpoesie der große


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0145" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195534"/>
          <fw type="header" place="top"> Noriz Tcirriere über die Poesie.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_485"> Die erste Auflage des Werkes, aus Aufsätzen über die &#x201E;Formen der Poesie"<lb/>
im Cottaschen Morgenblatte hervorgegangen, erschien schon im Jahre 1854, kurz<lb/>
nach der Berufung Carrieres nach München durch König Max den Zweiten. Das<lb/>
Buch enthält eine Beilage, welche für eine neue Wissenschaft geradezu bahnbrechend<lb/>
geworden ist: für die vergleichende Literaturgeschichte, Jene Beilage führt den<lb/>
Titel: &#x201E;Ideen zu einer vergleichenden Darstellung des indischen, persischen,<lb/>
griechischen und germanischen Volksepos." Carriere begriff &#x2014; und dies ist<lb/>
z. V. einer seiner Vorzüge gegenüber dem mehr in abstrakten Spekulationen<lb/>
sich verlierenden Bischer &#x2014; schon frühe, daß eine Theorie der Kunst überhaupt<lb/>
und natürlich auch der Poesie speziell nur auf Grund einer genauen Kenntnis<lb/>
des gesamten konkreten Materials aus allen Völkern gegeben werden kann.<lb/>
Er erwarb sich daher eine historische Detailkenntnis aller Künste, wie sie außer<lb/>
ihm in der Gegenwart ein Einzelner überhaupt nicht mehr besitzt. Was die<lb/>
Hieher, zur Poesie gehörende, allgemeine Literaturgeschichte betrifft, so kann nur<lb/>
Scherr neben ihn gestellt werden, den Carriere aber an philosophischem Weit¬<lb/>
blick übertrifft. Dieser philosophische Blick befähigte ihn aber eben, die Idee<lb/>
einer vergleichenden Literaturgeschichte zu erfassen und an die Ausführung der¬<lb/>
selben zu gehen. Es ist ein im wesentlichen Goethischer Gedanke, der in seinen<lb/>
mannichfachen Hinweisen auf die Weltliteratur (vor der der alte Arndt in ein¬<lb/>
seitigem Patriotismus seine &#x201E;lieben Deutschen" warnen zu müssen meinte) schon<lb/>
Winke in dieser Richtung gegeben hatte. Es handelt sich bei dieser Wissenschaft<lb/>
um ein Doppeltes: einmal müssen aus den unendlich vielen verschiednen Va¬<lb/>
riationen der einzelnen Kunstformen bei den verschiedenen Völkern und zu ver-<lb/>
schiednen Zeiten die gemeinsamen typischen Gesetze und Motive hcranspräparirt<lb/>
werden, nach denen überall die epischen, lyrischen und dramatischen Erzeugnisse<lb/>
entstehen; sodann aber muß nachgewiesen werden, wie sich die Abweichungen der<lb/>
einzelnen Völker und Zeiten voneinander ans den besondern kulturhistorischen<lb/>
und völkerpsychologischen Verhältnissen und Anlagen erklären. Carriere hat ganz<lb/>
richtig erkannt, daß diese &#x2014; allerdings äußerst schwierige &#x2014; Wissenschaft das<lb/>
notwendige Komplement einer wissenschaftlichen Ästhetik sein müsse, und so ist<lb/>
er denn rüstig an dieselbe hinangeschrittcn. War doch auch niemand so wie er<lb/>
dazu prcidestiuirt durch eine ganz unglaubliche Kenntnis des literaturgeschicht-<lb/>
lichcn Details. So erklärt sich denn der Titel des Werkes: &#x201E;Die Poesie. Ihr<lb/>
Wesen und ihre Formeu mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_486" next="#ID_487"> In dem gesamten Titel des Werkes ist auch der Einzelgang desselben an¬<lb/>
gedeutet. Zuerst bespricht Carriere das allgemeine Wesen der Poesie in sechs<lb/>
Abschnitten: I. Leben und Kunst; 2. Die Sprache und ihre Entwicklung;<lb/>
3. Der Mythus; 4. Poesie und Prosa, Kunst und Wissenschaft; 5. Die Poesie<lb/>
im Verhältnis zur bildenden Kunst und Musik; 6. Die poetischen Darstellungs-<lb/>
mittel: Die Bildlichkeit der Rede, l.) Der Vers. Dann folgt nach einem<lb/>
Übergangskapitel über den Unterschied der Volks- und der Kunstpoesie der große</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0145] Noriz Tcirriere über die Poesie. Die erste Auflage des Werkes, aus Aufsätzen über die „Formen der Poesie" im Cottaschen Morgenblatte hervorgegangen, erschien schon im Jahre 1854, kurz nach der Berufung Carrieres nach München durch König Max den Zweiten. Das Buch enthält eine Beilage, welche für eine neue Wissenschaft geradezu bahnbrechend geworden ist: für die vergleichende Literaturgeschichte, Jene Beilage führt den Titel: „Ideen zu einer vergleichenden Darstellung des indischen, persischen, griechischen und germanischen Volksepos." Carriere begriff — und dies ist z. V. einer seiner Vorzüge gegenüber dem mehr in abstrakten Spekulationen sich verlierenden Bischer — schon frühe, daß eine Theorie der Kunst überhaupt und natürlich auch der Poesie speziell nur auf Grund einer genauen Kenntnis des gesamten konkreten Materials aus allen Völkern gegeben werden kann. Er erwarb sich daher eine historische Detailkenntnis aller Künste, wie sie außer ihm in der Gegenwart ein Einzelner überhaupt nicht mehr besitzt. Was die Hieher, zur Poesie gehörende, allgemeine Literaturgeschichte betrifft, so kann nur Scherr neben ihn gestellt werden, den Carriere aber an philosophischem Weit¬ blick übertrifft. Dieser philosophische Blick befähigte ihn aber eben, die Idee einer vergleichenden Literaturgeschichte zu erfassen und an die Ausführung der¬ selben zu gehen. Es ist ein im wesentlichen Goethischer Gedanke, der in seinen mannichfachen Hinweisen auf die Weltliteratur (vor der der alte Arndt in ein¬ seitigem Patriotismus seine „lieben Deutschen" warnen zu müssen meinte) schon Winke in dieser Richtung gegeben hatte. Es handelt sich bei dieser Wissenschaft um ein Doppeltes: einmal müssen aus den unendlich vielen verschiednen Va¬ riationen der einzelnen Kunstformen bei den verschiedenen Völkern und zu ver- schiednen Zeiten die gemeinsamen typischen Gesetze und Motive hcranspräparirt werden, nach denen überall die epischen, lyrischen und dramatischen Erzeugnisse entstehen; sodann aber muß nachgewiesen werden, wie sich die Abweichungen der einzelnen Völker und Zeiten voneinander ans den besondern kulturhistorischen und völkerpsychologischen Verhältnissen und Anlagen erklären. Carriere hat ganz richtig erkannt, daß diese — allerdings äußerst schwierige — Wissenschaft das notwendige Komplement einer wissenschaftlichen Ästhetik sein müsse, und so ist er denn rüstig an dieselbe hinangeschrittcn. War doch auch niemand so wie er dazu prcidestiuirt durch eine ganz unglaubliche Kenntnis des literaturgeschicht- lichcn Details. So erklärt sich denn der Titel des Werkes: „Die Poesie. Ihr Wesen und ihre Formeu mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte." In dem gesamten Titel des Werkes ist auch der Einzelgang desselben an¬ gedeutet. Zuerst bespricht Carriere das allgemeine Wesen der Poesie in sechs Abschnitten: I. Leben und Kunst; 2. Die Sprache und ihre Entwicklung; 3. Der Mythus; 4. Poesie und Prosa, Kunst und Wissenschaft; 5. Die Poesie im Verhältnis zur bildenden Kunst und Musik; 6. Die poetischen Darstellungs- mittel: Die Bildlichkeit der Rede, l.) Der Vers. Dann folgt nach einem Übergangskapitel über den Unterschied der Volks- und der Kunstpoesie der große

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/145
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/145>, abgerufen am 22.07.2024.