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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Moriz Larriere über die Poesie.

hat hierin eine auffallende Ähnlichkeit mit Friedrich Bischer, von dem er sich
sonst in seinen allgemein philosophischen und in den speziell ästhetischen Fragen
erheblich unterscheidet: beide, der Münchener und der Stuttgarter Ästhetiker,
haben durch eigne poetische Thätigkeit ihren Beruf zur Kunstwissenschaft glänzend
dargethan. Aber während Bischer ans sein Lebenswerk, auf seine Ästhetik, als
auf ein dem Prinzip nach verfehltes Werk mit gemischten Gefühlen zurücksieht,
darf Carriere auf sein großes Lebenswerk: "Die Kunst im Zusammenhange der
Kulturentwicklung und die Ideale der Menschheit" mit wahrer und siegcsfreu-
diger Zufriedenheit zurückblicken; ist dies Werk doch trotz seiner Bändezahl in
immer neuen Auflagen erschienen und zu einem Standardwerk der deutschen
Literatur geworden. So ist noch vor kurzem der vierte Band dieses grandiosen
Sammelwerkes in dritter, neu durchgesehener Auflage erschienen, es ist der
Band, welcher auch den Spezialtitel führt: "Renaissance und Reformation in
Bildung, Kunst und Literatur. Ein Veitrag zur Geschichte des menschlichen
Geistes" (Leipzig. F. A. Brockhaus, 1884). Dieser Band, allein über sieben¬
hundert Seiten stark, behandelt jene wichtige Periode der Menschheit, über
welche Carriere mehr als jeder andre berufen ist, sein Votum abzugeben; hat
er doch gerade in diesem Gebiet die eindringendsten Detailstudien gemacht in
dem noch immer maßgebenden Werke: "Die philosophische Weltanschauung der
Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart" (1847). Im Wechsel¬
verhältnis zu dem großen historisch-philosophischen Werke, das die Geschichte
aller Künste im Zusammenhange mit der gesamten Kulturentwicklung der Mensch¬
heit darstellt, stehen die systematisch-philosophischen Werke Carricrcs, welche die
Theorie der Künste zum Gegenstande haben: die "Ästhetik" (2. Auflage, 1873)
und die "Poesie" (2. Auflage, 1834). Das große "Kunstbuch" in seinen fünf
Bänden giebt den Längsdurchschnitt, diese beiden Werke stellen den Querdurch¬
schnitt dar. Die "Ästhetik" behandelt "die Idee des Schönen und ihre Ver¬
wirklichung im Leben und in der Kunst"; sie sucht die bleibende Errungenschaft
der seitherigen ästhetischen und kunstgeschichtlichen Forschung der Zukunft zu
übergeben. Der erste Teil behandelt den Begriff des Schönen und seine Spezi-
sizirungen im Erhabenen und Anmntigeu, im Tragischen, Komischen und Humori¬
stischen. Der zweite Teil ist den einzelnen Künsten gewidmet: ihre Gesetze
werden von den größten Meisterwerken in den einzelnen Gebieten abgeleitet
oder an ihnen geprüft; aus der anschaulichen und liebevollen Schilderung der
Meisterwerke geht die systematische Darstellung der allgemeinen Prinzipien hier
induktiv hervor und verbindet sich so harmonisch mit der mehr deduktiven Ab¬
leitung derselben im ersten Bande. Als die Kunst der Künste erscheint Carriere
aber mit Recht die Poesie, und so ist es denn nicht zu verwundern, daß er
ihr ein eignes Werk gewidmet hat, dessen jüngst erschienene zweite Auflage hier
noch etwas eingehender betrachtet werden soll.


Moriz Larriere über die Poesie.

hat hierin eine auffallende Ähnlichkeit mit Friedrich Bischer, von dem er sich
sonst in seinen allgemein philosophischen und in den speziell ästhetischen Fragen
erheblich unterscheidet: beide, der Münchener und der Stuttgarter Ästhetiker,
haben durch eigne poetische Thätigkeit ihren Beruf zur Kunstwissenschaft glänzend
dargethan. Aber während Bischer ans sein Lebenswerk, auf seine Ästhetik, als
auf ein dem Prinzip nach verfehltes Werk mit gemischten Gefühlen zurücksieht,
darf Carriere auf sein großes Lebenswerk: „Die Kunst im Zusammenhange der
Kulturentwicklung und die Ideale der Menschheit" mit wahrer und siegcsfreu-
diger Zufriedenheit zurückblicken; ist dies Werk doch trotz seiner Bändezahl in
immer neuen Auflagen erschienen und zu einem Standardwerk der deutschen
Literatur geworden. So ist noch vor kurzem der vierte Band dieses grandiosen
Sammelwerkes in dritter, neu durchgesehener Auflage erschienen, es ist der
Band, welcher auch den Spezialtitel führt: „Renaissance und Reformation in
Bildung, Kunst und Literatur. Ein Veitrag zur Geschichte des menschlichen
Geistes" (Leipzig. F. A. Brockhaus, 1884). Dieser Band, allein über sieben¬
hundert Seiten stark, behandelt jene wichtige Periode der Menschheit, über
welche Carriere mehr als jeder andre berufen ist, sein Votum abzugeben; hat
er doch gerade in diesem Gebiet die eindringendsten Detailstudien gemacht in
dem noch immer maßgebenden Werke: „Die philosophische Weltanschauung der
Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart" (1847). Im Wechsel¬
verhältnis zu dem großen historisch-philosophischen Werke, das die Geschichte
aller Künste im Zusammenhange mit der gesamten Kulturentwicklung der Mensch¬
heit darstellt, stehen die systematisch-philosophischen Werke Carricrcs, welche die
Theorie der Künste zum Gegenstande haben: die „Ästhetik" (2. Auflage, 1873)
und die „Poesie" (2. Auflage, 1834). Das große „Kunstbuch" in seinen fünf
Bänden giebt den Längsdurchschnitt, diese beiden Werke stellen den Querdurch¬
schnitt dar. Die „Ästhetik" behandelt „die Idee des Schönen und ihre Ver¬
wirklichung im Leben und in der Kunst"; sie sucht die bleibende Errungenschaft
der seitherigen ästhetischen und kunstgeschichtlichen Forschung der Zukunft zu
übergeben. Der erste Teil behandelt den Begriff des Schönen und seine Spezi-
sizirungen im Erhabenen und Anmntigeu, im Tragischen, Komischen und Humori¬
stischen. Der zweite Teil ist den einzelnen Künsten gewidmet: ihre Gesetze
werden von den größten Meisterwerken in den einzelnen Gebieten abgeleitet
oder an ihnen geprüft; aus der anschaulichen und liebevollen Schilderung der
Meisterwerke geht die systematische Darstellung der allgemeinen Prinzipien hier
induktiv hervor und verbindet sich so harmonisch mit der mehr deduktiven Ab¬
leitung derselben im ersten Bande. Als die Kunst der Künste erscheint Carriere
aber mit Recht die Poesie, und so ist es denn nicht zu verwundern, daß er
ihr ein eignes Werk gewidmet hat, dessen jüngst erschienene zweite Auflage hier
noch etwas eingehender betrachtet werden soll.


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[0144] Moriz Larriere über die Poesie. hat hierin eine auffallende Ähnlichkeit mit Friedrich Bischer, von dem er sich sonst in seinen allgemein philosophischen und in den speziell ästhetischen Fragen erheblich unterscheidet: beide, der Münchener und der Stuttgarter Ästhetiker, haben durch eigne poetische Thätigkeit ihren Beruf zur Kunstwissenschaft glänzend dargethan. Aber während Bischer ans sein Lebenswerk, auf seine Ästhetik, als auf ein dem Prinzip nach verfehltes Werk mit gemischten Gefühlen zurücksieht, darf Carriere auf sein großes Lebenswerk: „Die Kunst im Zusammenhange der Kulturentwicklung und die Ideale der Menschheit" mit wahrer und siegcsfreu- diger Zufriedenheit zurückblicken; ist dies Werk doch trotz seiner Bändezahl in immer neuen Auflagen erschienen und zu einem Standardwerk der deutschen Literatur geworden. So ist noch vor kurzem der vierte Band dieses grandiosen Sammelwerkes in dritter, neu durchgesehener Auflage erschienen, es ist der Band, welcher auch den Spezialtitel führt: „Renaissance und Reformation in Bildung, Kunst und Literatur. Ein Veitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes" (Leipzig. F. A. Brockhaus, 1884). Dieser Band, allein über sieben¬ hundert Seiten stark, behandelt jene wichtige Periode der Menschheit, über welche Carriere mehr als jeder andre berufen ist, sein Votum abzugeben; hat er doch gerade in diesem Gebiet die eindringendsten Detailstudien gemacht in dem noch immer maßgebenden Werke: „Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart" (1847). Im Wechsel¬ verhältnis zu dem großen historisch-philosophischen Werke, das die Geschichte aller Künste im Zusammenhange mit der gesamten Kulturentwicklung der Mensch¬ heit darstellt, stehen die systematisch-philosophischen Werke Carricrcs, welche die Theorie der Künste zum Gegenstande haben: die „Ästhetik" (2. Auflage, 1873) und die „Poesie" (2. Auflage, 1834). Das große „Kunstbuch" in seinen fünf Bänden giebt den Längsdurchschnitt, diese beiden Werke stellen den Querdurch¬ schnitt dar. Die „Ästhetik" behandelt „die Idee des Schönen und ihre Ver¬ wirklichung im Leben und in der Kunst"; sie sucht die bleibende Errungenschaft der seitherigen ästhetischen und kunstgeschichtlichen Forschung der Zukunft zu übergeben. Der erste Teil behandelt den Begriff des Schönen und seine Spezi- sizirungen im Erhabenen und Anmntigeu, im Tragischen, Komischen und Humori¬ stischen. Der zweite Teil ist den einzelnen Künsten gewidmet: ihre Gesetze werden von den größten Meisterwerken in den einzelnen Gebieten abgeleitet oder an ihnen geprüft; aus der anschaulichen und liebevollen Schilderung der Meisterwerke geht die systematische Darstellung der allgemeinen Prinzipien hier induktiv hervor und verbindet sich so harmonisch mit der mehr deduktiven Ab¬ leitung derselben im ersten Bande. Als die Kunst der Künste erscheint Carriere aber mit Recht die Poesie, und so ist es denn nicht zu verwundern, daß er ihr ein eignes Werk gewidmet hat, dessen jüngst erschienene zweite Auflage hier noch etwas eingehender betrachtet werden soll.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/144>, abgerufen am 22.07.2024.