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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage.

Ehe wir in unserm Rückblicke fortfahren, berichten wir über die Unter¬
handlungen, die vor Ausbruch dieses Krieges zwischen den Nüssen und dem
Emir stattgefunden hatten. Unsre Quelle ist dabei der Briefwechsel zwischen
den beiden Parteien, der den Engländern nach ihrem zweiten Einzuge in Kabul
in die Hände fiel.

Im April 1878 hatte Rußland in Scunarkand eine Armee von 20000 Mann
zusammengezogen, um Afghanistan "als Basis von Operationen gegen Indien"
zu besetzen. Am 13. Juni, demselben Tage, wo britische und russische Diplo¬
maten zum Kongreß in Berlin erschienen und die Aussichten auf eine Ver¬
ständigung zwischen deren Regierungen besser als bisher geworden waren, reiste
der General Stoljeteff mit einem Schreiben des Generalgouverneurs Kaufmann
an schir Ali nach Kabul ab, worin dem Emir die Vorteile eines Bündnisses
mit Nußland auseinandergesetzt waren, und einige Tage später wurde ein dahin
gehender Vertrag aufgesetzt und Stoljeteff drückte sein Siegel darunter. In
dieser Übereinkunft verpflichtete sich die russische Regierung u. ni. mit schir Ali,
"dem Emir von ganz Afghanistan," und nach dessen Ableben mit dem von ihm
gewählten Thronfolger dauernd Freundschaft zu halten und ihn, falls ein
fremder Feind ihn angreife, mit diplomatischen oder andern Mitteln zu ver¬
teidigen. Er dagegen versprach, mit keiner fremden Macht ohne vorherige Be¬
ratung mit der russischen Regierung und ohne deren Einwilligung Krieg zu
führen, der letzteren immer das in seinem Reiche Vorfallende zu berichten und
jeden seiner Wünsche in wichtigen Angelegenheiten dem Generalgouvemeur in
Turkestan mitzuteilen. Stoljeteff kehrte nach kurzem Aufenthalte nach Samar¬
kand zurück und ging dann nach Petersburg. Statt seiner unterhandelte der
Oberst Nosgonoff mit dem Emir und seinem Minister des Auswärtigen in
Kabul weiter, und welche Tendenzen Nußland dabei verfolgte, ergiebt sich
deutlich aus dem erwähnten Briefwechsel. Am 21. Dezember 1878 schreibt
Stoljeteff an Muhammed Chan, den Wessir schir Alis: "Ich versuche Tag
und Nacht unsre Ziele zu erreichen und hoffe damit Erfolg zu erzielen. Ich
gehe heute zum Kaiser, um Sr. Majestät persönlich über unsre Angelegenheiten
zu berichten. Wenn es Gott gefällt, so wird alles Notwendige gethan und
gutgeheißen werden. Hoffentlich werden die, welche von Osten her in die Thore
von Kabul einzudringen beabsichtigen, die Thür geschlossen finden, dann werden
sie, das wolle Gott, erzittern."

In einem zweiten Briefe Stoljeteffs an denselben afghanischen Minister,
der vom 8. Oktober datirt war, sagte der russische General: "Gott sei Dank,
meine Bemühungen sind nicht vergebens gewesen! Der große Kaiser ist ein
treuer Freund des Emirs und Afghanistans und wird alles thun, was ihm
notwendig erscheinen wird. Natürlich haben Sie nicht vergessen, was ich Ihnen
sagte, daß nämlich die Angelegenheiten der Königreiche einem Lande mit vielen
Bergen, Thälern und Strömen gleichen. Wer auf einem hohen Berge steht,


Beiträge zum Verständnis der mittelasiatischen Frage.

Ehe wir in unserm Rückblicke fortfahren, berichten wir über die Unter¬
handlungen, die vor Ausbruch dieses Krieges zwischen den Nüssen und dem
Emir stattgefunden hatten. Unsre Quelle ist dabei der Briefwechsel zwischen
den beiden Parteien, der den Engländern nach ihrem zweiten Einzuge in Kabul
in die Hände fiel.

Im April 1878 hatte Rußland in Scunarkand eine Armee von 20000 Mann
zusammengezogen, um Afghanistan „als Basis von Operationen gegen Indien"
zu besetzen. Am 13. Juni, demselben Tage, wo britische und russische Diplo¬
maten zum Kongreß in Berlin erschienen und die Aussichten auf eine Ver¬
ständigung zwischen deren Regierungen besser als bisher geworden waren, reiste
der General Stoljeteff mit einem Schreiben des Generalgouverneurs Kaufmann
an schir Ali nach Kabul ab, worin dem Emir die Vorteile eines Bündnisses
mit Nußland auseinandergesetzt waren, und einige Tage später wurde ein dahin
gehender Vertrag aufgesetzt und Stoljeteff drückte sein Siegel darunter. In
dieser Übereinkunft verpflichtete sich die russische Regierung u. ni. mit schir Ali,
„dem Emir von ganz Afghanistan," und nach dessen Ableben mit dem von ihm
gewählten Thronfolger dauernd Freundschaft zu halten und ihn, falls ein
fremder Feind ihn angreife, mit diplomatischen oder andern Mitteln zu ver¬
teidigen. Er dagegen versprach, mit keiner fremden Macht ohne vorherige Be¬
ratung mit der russischen Regierung und ohne deren Einwilligung Krieg zu
führen, der letzteren immer das in seinem Reiche Vorfallende zu berichten und
jeden seiner Wünsche in wichtigen Angelegenheiten dem Generalgouvemeur in
Turkestan mitzuteilen. Stoljeteff kehrte nach kurzem Aufenthalte nach Samar¬
kand zurück und ging dann nach Petersburg. Statt seiner unterhandelte der
Oberst Nosgonoff mit dem Emir und seinem Minister des Auswärtigen in
Kabul weiter, und welche Tendenzen Nußland dabei verfolgte, ergiebt sich
deutlich aus dem erwähnten Briefwechsel. Am 21. Dezember 1878 schreibt
Stoljeteff an Muhammed Chan, den Wessir schir Alis: „Ich versuche Tag
und Nacht unsre Ziele zu erreichen und hoffe damit Erfolg zu erzielen. Ich
gehe heute zum Kaiser, um Sr. Majestät persönlich über unsre Angelegenheiten
zu berichten. Wenn es Gott gefällt, so wird alles Notwendige gethan und
gutgeheißen werden. Hoffentlich werden die, welche von Osten her in die Thore
von Kabul einzudringen beabsichtigen, die Thür geschlossen finden, dann werden
sie, das wolle Gott, erzittern."

In einem zweiten Briefe Stoljeteffs an denselben afghanischen Minister,
der vom 8. Oktober datirt war, sagte der russische General: „Gott sei Dank,
meine Bemühungen sind nicht vergebens gewesen! Der große Kaiser ist ein
treuer Freund des Emirs und Afghanistans und wird alles thun, was ihm
notwendig erscheinen wird. Natürlich haben Sie nicht vergessen, was ich Ihnen
sagte, daß nämlich die Angelegenheiten der Königreiche einem Lande mit vielen
Bergen, Thälern und Strömen gleichen. Wer auf einem hohen Berge steht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/119>, abgerufen am 22.07.2024.