Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

sich nächst Gott zu ihrem Vater aufgeblickt? Und wohin war, seit die Liebe
ihr ganzes Wesen wie mit einem neuen Blut erfüllt hatte, die Herrschaft, die
bis dahin ihr Kopf geübt hatte? Wohin, wohin hatte sich die stumme Ehr¬
furcht vor ihrem Vater verkrochen? Fast empfand sie ihm gegenüber nur noch
Furcht! Hatte alles das nicht die deutlichen Kennzeichen eines Wunders --
soweit es ihr die Welt in ein blühendes Eden verwandelte, dem Himmel sei
Dank: eines holden Wunders!

So, sagte sie sich, löst sich die reife Frucht vom Baume los, und ein
Wunder Gottes läßt ans ihrem Kern den Keim hervorbrechen, aus dem ein
neuer Baun, geu Himmel schießt. So entflattert dem Neste das Vöglein, wenn
seine Stunde gekommen ist, und durch ein Wunder Gottes siudet es in der
ihm wildfremden Welt allgemach sein Futter, erlernt ohne Unterweisung sein
Lied, verlernt und vergißt, wer seine Eltern waren, baut ohne Unterweisung
selbst sein Nest und setzt das andre Vöglein, seine Genossin, hinein, die durch
ein Wunder weiß, mit welchen Federn oder Gräsern oder Moosen das Nest für
die Eierchen ausgepolstert werden und wie lange Tage in geduldigen Brüten
ans ihnen ausgeharrt werden muß.

Trunkenen Blickes sah sie mit gefalteten Händen himmelan und dann
ringsum, wo alles vom Nachtthnu und vom Spiel der noch niedrig über die
Erde hinstreifenden Sonnenstrahlen glänzte und leuchtete. Und inmitten des
lauter und lauter werdenden Vogelgesanges, der aus feuchten Wiesen weißlich
aufsteigenden Nebel, der Lämmlein, die jetzt am Enter der Mutter sogen und
jetzt wieder mit neugierigen Augen nach den Reitern auf der Heerstraße herüber
staunten, überkam sie nach und nach ein so maßloses Entzücken und ein so in¬
brünstiges Dankgefühl für das Wunder, dessen auch sie gewürdigt worden war,
daß sie Mühe hatte, nicht jauchzend die Stimme zu erheben.

Während sie so, vom Drucke der Wirklichkeit befreit, sich von unklaren
Glücksempfindungeu wie ein Kind auf den Armen der Mutter schaukeln ließ,
war Eufemia etwas zurückgeblieben, denn sie hatte im Rücken Hufschlag ver¬
nommen und beim Anblicken den gestern in Villafrancci früh morgens im
Albergo della Scala von ihr über den Namen und das Reiseziel ihrer Herr¬
schaft belehrten Diener des Principe erkannt.

Mein Herr ist des Teufels, sagte er, als er die auf ihrem Schecken hinter
ihrer Herrin Zurückgebliebene erreicht hatte, er hat mich ans dem Dienste ge¬
jagt; er behauptet, mein Gesicht und meine Gesellschaft nicht mehr ertragen zu
können.

Mir geht es, fürchte ich, nächstens nicht besser, gab Enfemia zur Antwort,
meine besten Ratschläge hört man seit gestern mit tauben Ohren an. Aber was
wollt Ihr denn mit mir hier auf der Landstraße? Wenn der mißtrauische alte
Herr sich umschaut und mich mit einem Fremden plaudern sieht, so verliere ich
bei ihm alles Vertrauen.


Grenzboten I. 1885- 87

sich nächst Gott zu ihrem Vater aufgeblickt? Und wohin war, seit die Liebe
ihr ganzes Wesen wie mit einem neuen Blut erfüllt hatte, die Herrschaft, die
bis dahin ihr Kopf geübt hatte? Wohin, wohin hatte sich die stumme Ehr¬
furcht vor ihrem Vater verkrochen? Fast empfand sie ihm gegenüber nur noch
Furcht! Hatte alles das nicht die deutlichen Kennzeichen eines Wunders —
soweit es ihr die Welt in ein blühendes Eden verwandelte, dem Himmel sei
Dank: eines holden Wunders!

So, sagte sie sich, löst sich die reife Frucht vom Baume los, und ein
Wunder Gottes läßt ans ihrem Kern den Keim hervorbrechen, aus dem ein
neuer Baun, geu Himmel schießt. So entflattert dem Neste das Vöglein, wenn
seine Stunde gekommen ist, und durch ein Wunder Gottes siudet es in der
ihm wildfremden Welt allgemach sein Futter, erlernt ohne Unterweisung sein
Lied, verlernt und vergißt, wer seine Eltern waren, baut ohne Unterweisung
selbst sein Nest und setzt das andre Vöglein, seine Genossin, hinein, die durch
ein Wunder weiß, mit welchen Federn oder Gräsern oder Moosen das Nest für
die Eierchen ausgepolstert werden und wie lange Tage in geduldigen Brüten
ans ihnen ausgeharrt werden muß.

Trunkenen Blickes sah sie mit gefalteten Händen himmelan und dann
ringsum, wo alles vom Nachtthnu und vom Spiel der noch niedrig über die
Erde hinstreifenden Sonnenstrahlen glänzte und leuchtete. Und inmitten des
lauter und lauter werdenden Vogelgesanges, der aus feuchten Wiesen weißlich
aufsteigenden Nebel, der Lämmlein, die jetzt am Enter der Mutter sogen und
jetzt wieder mit neugierigen Augen nach den Reitern auf der Heerstraße herüber
staunten, überkam sie nach und nach ein so maßloses Entzücken und ein so in¬
brünstiges Dankgefühl für das Wunder, dessen auch sie gewürdigt worden war,
daß sie Mühe hatte, nicht jauchzend die Stimme zu erheben.

Während sie so, vom Drucke der Wirklichkeit befreit, sich von unklaren
Glücksempfindungeu wie ein Kind auf den Armen der Mutter schaukeln ließ,
war Eufemia etwas zurückgeblieben, denn sie hatte im Rücken Hufschlag ver¬
nommen und beim Anblicken den gestern in Villafrancci früh morgens im
Albergo della Scala von ihr über den Namen und das Reiseziel ihrer Herr¬
schaft belehrten Diener des Principe erkannt.

Mein Herr ist des Teufels, sagte er, als er die auf ihrem Schecken hinter
ihrer Herrin Zurückgebliebene erreicht hatte, er hat mich ans dem Dienste ge¬
jagt; er behauptet, mein Gesicht und meine Gesellschaft nicht mehr ertragen zu
können.

Mir geht es, fürchte ich, nächstens nicht besser, gab Enfemia zur Antwort,
meine besten Ratschläge hört man seit gestern mit tauben Ohren an. Aber was
wollt Ihr denn mit mir hier auf der Landstraße? Wenn der mißtrauische alte
Herr sich umschaut und mich mit einem Fremden plaudern sieht, so verliere ich
bei ihm alles Vertrauen.


Grenzboten I. 1885- 87
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0701" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195377"/>
            <p xml:id="ID_2697" prev="#ID_2696"> sich nächst Gott zu ihrem Vater aufgeblickt? Und wohin war, seit die Liebe<lb/>
ihr ganzes Wesen wie mit einem neuen Blut erfüllt hatte, die Herrschaft, die<lb/>
bis dahin ihr Kopf geübt hatte? Wohin, wohin hatte sich die stumme Ehr¬<lb/>
furcht vor ihrem Vater verkrochen? Fast empfand sie ihm gegenüber nur noch<lb/>
Furcht! Hatte alles das nicht die deutlichen Kennzeichen eines Wunders &#x2014;<lb/>
soweit es ihr die Welt in ein blühendes Eden verwandelte, dem Himmel sei<lb/>
Dank: eines holden Wunders!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2698"> So, sagte sie sich, löst sich die reife Frucht vom Baume los, und ein<lb/>
Wunder Gottes läßt ans ihrem Kern den Keim hervorbrechen, aus dem ein<lb/>
neuer Baun, geu Himmel schießt. So entflattert dem Neste das Vöglein, wenn<lb/>
seine Stunde gekommen ist, und durch ein Wunder Gottes siudet es in der<lb/>
ihm wildfremden Welt allgemach sein Futter, erlernt ohne Unterweisung sein<lb/>
Lied, verlernt und vergißt, wer seine Eltern waren, baut ohne Unterweisung<lb/>
selbst sein Nest und setzt das andre Vöglein, seine Genossin, hinein, die durch<lb/>
ein Wunder weiß, mit welchen Federn oder Gräsern oder Moosen das Nest für<lb/>
die Eierchen ausgepolstert werden und wie lange Tage in geduldigen Brüten<lb/>
ans ihnen ausgeharrt werden muß.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2699"> Trunkenen Blickes sah sie mit gefalteten Händen himmelan und dann<lb/>
ringsum, wo alles vom Nachtthnu und vom Spiel der noch niedrig über die<lb/>
Erde hinstreifenden Sonnenstrahlen glänzte und leuchtete. Und inmitten des<lb/>
lauter und lauter werdenden Vogelgesanges, der aus feuchten Wiesen weißlich<lb/>
aufsteigenden Nebel, der Lämmlein, die jetzt am Enter der Mutter sogen und<lb/>
jetzt wieder mit neugierigen Augen nach den Reitern auf der Heerstraße herüber<lb/>
staunten, überkam sie nach und nach ein so maßloses Entzücken und ein so in¬<lb/>
brünstiges Dankgefühl für das Wunder, dessen auch sie gewürdigt worden war,<lb/>
daß sie Mühe hatte, nicht jauchzend die Stimme zu erheben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2700"> Während sie so, vom Drucke der Wirklichkeit befreit, sich von unklaren<lb/>
Glücksempfindungeu wie ein Kind auf den Armen der Mutter schaukeln ließ,<lb/>
war Eufemia etwas zurückgeblieben, denn sie hatte im Rücken Hufschlag ver¬<lb/>
nommen und beim Anblicken den gestern in Villafrancci früh morgens im<lb/>
Albergo della Scala von ihr über den Namen und das Reiseziel ihrer Herr¬<lb/>
schaft belehrten Diener des Principe erkannt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2701"> Mein Herr ist des Teufels, sagte er, als er die auf ihrem Schecken hinter<lb/>
ihrer Herrin Zurückgebliebene erreicht hatte, er hat mich ans dem Dienste ge¬<lb/>
jagt; er behauptet, mein Gesicht und meine Gesellschaft nicht mehr ertragen zu<lb/>
können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2702"> Mir geht es, fürchte ich, nächstens nicht besser, gab Enfemia zur Antwort,<lb/>
meine besten Ratschläge hört man seit gestern mit tauben Ohren an. Aber was<lb/>
wollt Ihr denn mit mir hier auf der Landstraße? Wenn der mißtrauische alte<lb/>
Herr sich umschaut und mich mit einem Fremden plaudern sieht, so verliere ich<lb/>
bei ihm alles Vertrauen.</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1885- 87</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0701] sich nächst Gott zu ihrem Vater aufgeblickt? Und wohin war, seit die Liebe ihr ganzes Wesen wie mit einem neuen Blut erfüllt hatte, die Herrschaft, die bis dahin ihr Kopf geübt hatte? Wohin, wohin hatte sich die stumme Ehr¬ furcht vor ihrem Vater verkrochen? Fast empfand sie ihm gegenüber nur noch Furcht! Hatte alles das nicht die deutlichen Kennzeichen eines Wunders — soweit es ihr die Welt in ein blühendes Eden verwandelte, dem Himmel sei Dank: eines holden Wunders! So, sagte sie sich, löst sich die reife Frucht vom Baume los, und ein Wunder Gottes läßt ans ihrem Kern den Keim hervorbrechen, aus dem ein neuer Baun, geu Himmel schießt. So entflattert dem Neste das Vöglein, wenn seine Stunde gekommen ist, und durch ein Wunder Gottes siudet es in der ihm wildfremden Welt allgemach sein Futter, erlernt ohne Unterweisung sein Lied, verlernt und vergißt, wer seine Eltern waren, baut ohne Unterweisung selbst sein Nest und setzt das andre Vöglein, seine Genossin, hinein, die durch ein Wunder weiß, mit welchen Federn oder Gräsern oder Moosen das Nest für die Eierchen ausgepolstert werden und wie lange Tage in geduldigen Brüten ans ihnen ausgeharrt werden muß. Trunkenen Blickes sah sie mit gefalteten Händen himmelan und dann ringsum, wo alles vom Nachtthnu und vom Spiel der noch niedrig über die Erde hinstreifenden Sonnenstrahlen glänzte und leuchtete. Und inmitten des lauter und lauter werdenden Vogelgesanges, der aus feuchten Wiesen weißlich aufsteigenden Nebel, der Lämmlein, die jetzt am Enter der Mutter sogen und jetzt wieder mit neugierigen Augen nach den Reitern auf der Heerstraße herüber staunten, überkam sie nach und nach ein so maßloses Entzücken und ein so in¬ brünstiges Dankgefühl für das Wunder, dessen auch sie gewürdigt worden war, daß sie Mühe hatte, nicht jauchzend die Stimme zu erheben. Während sie so, vom Drucke der Wirklichkeit befreit, sich von unklaren Glücksempfindungeu wie ein Kind auf den Armen der Mutter schaukeln ließ, war Eufemia etwas zurückgeblieben, denn sie hatte im Rücken Hufschlag ver¬ nommen und beim Anblicken den gestern in Villafrancci früh morgens im Albergo della Scala von ihr über den Namen und das Reiseziel ihrer Herr¬ schaft belehrten Diener des Principe erkannt. Mein Herr ist des Teufels, sagte er, als er die auf ihrem Schecken hinter ihrer Herrin Zurückgebliebene erreicht hatte, er hat mich ans dem Dienste ge¬ jagt; er behauptet, mein Gesicht und meine Gesellschaft nicht mehr ertragen zu können. Mir geht es, fürchte ich, nächstens nicht besser, gab Enfemia zur Antwort, meine besten Ratschläge hört man seit gestern mit tauben Ohren an. Aber was wollt Ihr denn mit mir hier auf der Landstraße? Wenn der mißtrauische alte Herr sich umschaut und mich mit einem Fremden plaudern sieht, so verliere ich bei ihm alles Vertrauen. Grenzboten I. 1885- 87

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/701
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/701>, abgerufen am 22.07.2024.