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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Peter der Große in neuer Beleuchtung.

weitherziger Duldung, der dem Russen eigen ist. Leicht aufbrausend und dann
gewaltthätig, folgte er in letzterer Beziehung nicht einer gebieterischen Natur,
als vielmehr einer Denkweise, die ihm durch die sklavische Unterwürfigkeit seiner
Umgebung allmählich anerzogen worden war. Hätte er, dem persönlicher Mut
nicht in hohem Maße eigen war, Widerstand fürchten müssen, so wäre er anders
aufgetreten. "Hierin wie in vielem andern machte die charakterlos weiche Masse
seines Volkes ihn zu dem Tyrannen, der er war." Seine ungewöhnlichen in¬
tellektuelle" Anlagen wurden durch unablässige Übung zu großer Schärfe der
Beobachtung, erstaunlicher Leichtigkeit der Auffassung und unermüdlicher Viel¬
seitigkeit und Anpassungskraft ausgebildet. Aber sein Verstand hatte verhältnis¬
mäßig enge Grenzen, er beherrschte als praktischer Kopf ein bestimmtes Gebiet
meisterhaft, aber er dachte zu wenig abstrakt, um weitverzweigte Dinge richtig
zu beurteilen und fern in die Zukunft hinauszublicken. Bewundernswerte Spann¬
kraft, Rührigkeit und Unermüdlichkeit des Geistes verband sich in ihm mit großer
Ausdauer der Körpers. "Wie er stets in körperlicher Bewegung war, so auch
in geistiger. Nichts von dem bequemen Gehenlassen, das der damalige Russe
wie der heutige zeigte. . . . Während er Krieg führte, Städte baute, nach hundert
Richtungen hin plante und ordnete, konnte er Übersetzungen fremder Bücher,
wovon er sich Proben vorlegen ließ, eingehend prüfen und mit sehr scharfsinnigen
Verbesserungen versehen. Kein Herrscher hat jemals so umfassend und aus¬
dauernd Dinge verrichtet, die oft Handlangerarbeiten zu sein schienen, und keiner
zugleich so viele und so wichtige staatliche Anordnungen erlassen und ausgeführt
wie er."

Mit siebzehn Jahren begann Peter sein Reformatorenwerk, seitdem war er
fast unausgesetzt in Thätigkeit und Bewegung, besonders in seinen reiferen
Jahren. Seine Ruhelosigkeit war maßlos. Hatte er nicht gerade Truppen zu
üben, Schlachten zu schlagen, Feldzüge zu entwerfen, bestechliche Minister zu
köpfen oder Kanalbcmten zu überwachen, so wurden neue Eisen gruben in Tula
oder Olvnetz angelegt, neue Häuser in Petersburg gebaut, zu Schiffe und die
Hand am Steuer der Ladogasee untersucht, es wurden Verordnungen ersonnen
und erlassen zur Auffindung neuer Einnahmen, zur Besserung der Verwaltung
oder Rechtspflege, oder es wurde zur Einweihung einer Kirche eine Orgie ver¬
anstaltet, von der niemand fortgehen durfte, der noch bei Sinnen war. "Ich
vermag mir, sagt der Verfasser, Peter sogar in einsamen Stunden, wo die
Staatsarbeit ruhte, nicht anders vorzustellen als wenigstens mit einem Hand¬
werkszeug ... hobelnd, bohrend, schnitzeud. Zähne ausziehend, in einer Schmiede
etliche Zentner Eisen verarbeitend, selbst im Getöse der Schlacht Verwundete
verbindend oder ampntirend -- uur nicht ruhend." Die europäische Kultur
schätzte er rein um der Vorteile willen, die sie dem praktischen Leben verhieß,
die ideale Seite derselben wußte er ebensowenig zu würdige" wie der heutige
Nüsse. Alle seine Unternehmungen tragen den Stempel des Mechanischen und


Peter der Große in neuer Beleuchtung.

weitherziger Duldung, der dem Russen eigen ist. Leicht aufbrausend und dann
gewaltthätig, folgte er in letzterer Beziehung nicht einer gebieterischen Natur,
als vielmehr einer Denkweise, die ihm durch die sklavische Unterwürfigkeit seiner
Umgebung allmählich anerzogen worden war. Hätte er, dem persönlicher Mut
nicht in hohem Maße eigen war, Widerstand fürchten müssen, so wäre er anders
aufgetreten. „Hierin wie in vielem andern machte die charakterlos weiche Masse
seines Volkes ihn zu dem Tyrannen, der er war." Seine ungewöhnlichen in¬
tellektuelle» Anlagen wurden durch unablässige Übung zu großer Schärfe der
Beobachtung, erstaunlicher Leichtigkeit der Auffassung und unermüdlicher Viel¬
seitigkeit und Anpassungskraft ausgebildet. Aber sein Verstand hatte verhältnis¬
mäßig enge Grenzen, er beherrschte als praktischer Kopf ein bestimmtes Gebiet
meisterhaft, aber er dachte zu wenig abstrakt, um weitverzweigte Dinge richtig
zu beurteilen und fern in die Zukunft hinauszublicken. Bewundernswerte Spann¬
kraft, Rührigkeit und Unermüdlichkeit des Geistes verband sich in ihm mit großer
Ausdauer der Körpers. „Wie er stets in körperlicher Bewegung war, so auch
in geistiger. Nichts von dem bequemen Gehenlassen, das der damalige Russe
wie der heutige zeigte. . . . Während er Krieg führte, Städte baute, nach hundert
Richtungen hin plante und ordnete, konnte er Übersetzungen fremder Bücher,
wovon er sich Proben vorlegen ließ, eingehend prüfen und mit sehr scharfsinnigen
Verbesserungen versehen. Kein Herrscher hat jemals so umfassend und aus¬
dauernd Dinge verrichtet, die oft Handlangerarbeiten zu sein schienen, und keiner
zugleich so viele und so wichtige staatliche Anordnungen erlassen und ausgeführt
wie er."

Mit siebzehn Jahren begann Peter sein Reformatorenwerk, seitdem war er
fast unausgesetzt in Thätigkeit und Bewegung, besonders in seinen reiferen
Jahren. Seine Ruhelosigkeit war maßlos. Hatte er nicht gerade Truppen zu
üben, Schlachten zu schlagen, Feldzüge zu entwerfen, bestechliche Minister zu
köpfen oder Kanalbcmten zu überwachen, so wurden neue Eisen gruben in Tula
oder Olvnetz angelegt, neue Häuser in Petersburg gebaut, zu Schiffe und die
Hand am Steuer der Ladogasee untersucht, es wurden Verordnungen ersonnen
und erlassen zur Auffindung neuer Einnahmen, zur Besserung der Verwaltung
oder Rechtspflege, oder es wurde zur Einweihung einer Kirche eine Orgie ver¬
anstaltet, von der niemand fortgehen durfte, der noch bei Sinnen war. „Ich
vermag mir, sagt der Verfasser, Peter sogar in einsamen Stunden, wo die
Staatsarbeit ruhte, nicht anders vorzustellen als wenigstens mit einem Hand¬
werkszeug ... hobelnd, bohrend, schnitzeud. Zähne ausziehend, in einer Schmiede
etliche Zentner Eisen verarbeitend, selbst im Getöse der Schlacht Verwundete
verbindend oder ampntirend — uur nicht ruhend." Die europäische Kultur
schätzte er rein um der Vorteile willen, die sie dem praktischen Leben verhieß,
die ideale Seite derselben wußte er ebensowenig zu würdige» wie der heutige
Nüsse. Alle seine Unternehmungen tragen den Stempel des Mechanischen und


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[0633] Peter der Große in neuer Beleuchtung. weitherziger Duldung, der dem Russen eigen ist. Leicht aufbrausend und dann gewaltthätig, folgte er in letzterer Beziehung nicht einer gebieterischen Natur, als vielmehr einer Denkweise, die ihm durch die sklavische Unterwürfigkeit seiner Umgebung allmählich anerzogen worden war. Hätte er, dem persönlicher Mut nicht in hohem Maße eigen war, Widerstand fürchten müssen, so wäre er anders aufgetreten. „Hierin wie in vielem andern machte die charakterlos weiche Masse seines Volkes ihn zu dem Tyrannen, der er war." Seine ungewöhnlichen in¬ tellektuelle» Anlagen wurden durch unablässige Übung zu großer Schärfe der Beobachtung, erstaunlicher Leichtigkeit der Auffassung und unermüdlicher Viel¬ seitigkeit und Anpassungskraft ausgebildet. Aber sein Verstand hatte verhältnis¬ mäßig enge Grenzen, er beherrschte als praktischer Kopf ein bestimmtes Gebiet meisterhaft, aber er dachte zu wenig abstrakt, um weitverzweigte Dinge richtig zu beurteilen und fern in die Zukunft hinauszublicken. Bewundernswerte Spann¬ kraft, Rührigkeit und Unermüdlichkeit des Geistes verband sich in ihm mit großer Ausdauer der Körpers. „Wie er stets in körperlicher Bewegung war, so auch in geistiger. Nichts von dem bequemen Gehenlassen, das der damalige Russe wie der heutige zeigte. . . . Während er Krieg führte, Städte baute, nach hundert Richtungen hin plante und ordnete, konnte er Übersetzungen fremder Bücher, wovon er sich Proben vorlegen ließ, eingehend prüfen und mit sehr scharfsinnigen Verbesserungen versehen. Kein Herrscher hat jemals so umfassend und aus¬ dauernd Dinge verrichtet, die oft Handlangerarbeiten zu sein schienen, und keiner zugleich so viele und so wichtige staatliche Anordnungen erlassen und ausgeführt wie er." Mit siebzehn Jahren begann Peter sein Reformatorenwerk, seitdem war er fast unausgesetzt in Thätigkeit und Bewegung, besonders in seinen reiferen Jahren. Seine Ruhelosigkeit war maßlos. Hatte er nicht gerade Truppen zu üben, Schlachten zu schlagen, Feldzüge zu entwerfen, bestechliche Minister zu köpfen oder Kanalbcmten zu überwachen, so wurden neue Eisen gruben in Tula oder Olvnetz angelegt, neue Häuser in Petersburg gebaut, zu Schiffe und die Hand am Steuer der Ladogasee untersucht, es wurden Verordnungen ersonnen und erlassen zur Auffindung neuer Einnahmen, zur Besserung der Verwaltung oder Rechtspflege, oder es wurde zur Einweihung einer Kirche eine Orgie ver¬ anstaltet, von der niemand fortgehen durfte, der noch bei Sinnen war. „Ich vermag mir, sagt der Verfasser, Peter sogar in einsamen Stunden, wo die Staatsarbeit ruhte, nicht anders vorzustellen als wenigstens mit einem Hand¬ werkszeug ... hobelnd, bohrend, schnitzeud. Zähne ausziehend, in einer Schmiede etliche Zentner Eisen verarbeitend, selbst im Getöse der Schlacht Verwundete verbindend oder ampntirend — uur nicht ruhend." Die europäische Kultur schätzte er rein um der Vorteile willen, die sie dem praktischen Leben verhieß, die ideale Seite derselben wußte er ebensowenig zu würdige» wie der heutige Nüsse. Alle seine Unternehmungen tragen den Stempel des Mechanischen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/633>, abgerufen am 22.07.2024.