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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Menschenlebens führt, läßt er auch seinen Helden -- so unsittlich im gewöhn¬
lichen Sinne sein Verhältnis zur Frau eines andern ist -- sittlich besser werden.
Nicht wie bei Turgenjew zu schwachmütiger Entsagung und aussichtslosen Unter¬
gange führen bei Tolstoi die schweren Konflikte der Leidenschaft; der ganze Mensch
wird dabei aufgewühlt, er hat die Goldprobe zu bestehen, und selbst wenn er
untergeht, verläßt ihn nicht unsre Sympathie, da er die Grenzen der mensch¬
lichen Kraft erreicht hat.

Doch genug von diesen Allgemeinheiten, die den Versuch machen sollen,
ungefähr die Grundstimmung mitzuteilen, auf der sich alle die Vorgänge des
Romans abspielen. Es ist nichts schwerer, als von einem wahrhaft objektiven
Dichter und zumal nach einem einzigen Werke ein persönliches Bild zu ent¬
werfen.

Die Ehe und das Familienleben geben das Thema unsers Romans ab.
In drei Gruppen -- alle dem Stande der hohen, an Geld und Einfluß reichen
Aristokratie angehörig -- werden drei verschiedene, aber typische Verhältnisse
dargestellt. Die eine Gruppe bildet Stipcm Oblonsky mit seiner kinderreichen
Frau Darja. Er ist einer jener Durchschnittsmenschen, die gutmütig und schlau
zugleich das Leben sich so genußreich als möglich einzurichten bestrebt sind.
Grundsätze giebt es für sie nicht, aber da sie harmlos bloß auf materiellen
Genuß bedacht sind, richten sie auch nach außen keinen Schaden an. Solch
ein Mann schwimmt stets mit der Majorität und läßt sich von ihr tragen, von
den einflußreichen Verwandten beschützen. In seiner Ehe möchte Stipcm am
liebsten das Leben des Junggesellen fortführen; über rein animalische Liebe zu
seinen Kindern und zu seiner Frau, und zwar solange sie seine Sinne reizt,
kann er sich nie erheben. Was für ein Leben eine zarte, edle, selbstlose Frau
an seiner Seite führen muß, läßt sich leicht voraussehen. Sie kommt in der
That hinter seine Untreue, hinter ein Verhältnis zu einer Gouvernante seiner
Kinder; aber was soll die gute Darja machen? Ihr erster Zorn, in dein sie
das Haus verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren will, wird besänftigt,
und sie muß auch fortan ihren Kindern zuliebe die Augen zu dem Treiben
ihres Gatten zudrücken. Er ist nun einmal nicht anders zu machen; sie muß
es leiden.

Die zweite Gruppe umfaßt die Hauptgestalten des Romans. Stipans
schöne Schwester Anna, seit mehreren Jahren schon an den hohen politischen
Beamten Alexei Karmin in Petersburg verheiratet, war auf deu Lärm, der
durch jenen ehelichen Streit in der Familie entstanden war, zu ihrem Bruder
nach Moskau geeilt, und ihren Bemühungen gelang es, den häuslichen Frieden
wiederherzustellen. Doch eben da lernte sie den Freier ihrer Schwägerin Kitty
(Katharina), der Schwester Darjas, kennen. Es ist ein schöner Offizier mit
all den Vorzügen und Lastern der modernen russischen, adlichen Jugend, un¬
sittlich und doch nicht prinzipicnlos, denn die Prinzipien seiner Welt des Sports


Menschenlebens führt, läßt er auch seinen Helden — so unsittlich im gewöhn¬
lichen Sinne sein Verhältnis zur Frau eines andern ist — sittlich besser werden.
Nicht wie bei Turgenjew zu schwachmütiger Entsagung und aussichtslosen Unter¬
gange führen bei Tolstoi die schweren Konflikte der Leidenschaft; der ganze Mensch
wird dabei aufgewühlt, er hat die Goldprobe zu bestehen, und selbst wenn er
untergeht, verläßt ihn nicht unsre Sympathie, da er die Grenzen der mensch¬
lichen Kraft erreicht hat.

Doch genug von diesen Allgemeinheiten, die den Versuch machen sollen,
ungefähr die Grundstimmung mitzuteilen, auf der sich alle die Vorgänge des
Romans abspielen. Es ist nichts schwerer, als von einem wahrhaft objektiven
Dichter und zumal nach einem einzigen Werke ein persönliches Bild zu ent¬
werfen.

Die Ehe und das Familienleben geben das Thema unsers Romans ab.
In drei Gruppen — alle dem Stande der hohen, an Geld und Einfluß reichen
Aristokratie angehörig — werden drei verschiedene, aber typische Verhältnisse
dargestellt. Die eine Gruppe bildet Stipcm Oblonsky mit seiner kinderreichen
Frau Darja. Er ist einer jener Durchschnittsmenschen, die gutmütig und schlau
zugleich das Leben sich so genußreich als möglich einzurichten bestrebt sind.
Grundsätze giebt es für sie nicht, aber da sie harmlos bloß auf materiellen
Genuß bedacht sind, richten sie auch nach außen keinen Schaden an. Solch
ein Mann schwimmt stets mit der Majorität und läßt sich von ihr tragen, von
den einflußreichen Verwandten beschützen. In seiner Ehe möchte Stipcm am
liebsten das Leben des Junggesellen fortführen; über rein animalische Liebe zu
seinen Kindern und zu seiner Frau, und zwar solange sie seine Sinne reizt,
kann er sich nie erheben. Was für ein Leben eine zarte, edle, selbstlose Frau
an seiner Seite führen muß, läßt sich leicht voraussehen. Sie kommt in der
That hinter seine Untreue, hinter ein Verhältnis zu einer Gouvernante seiner
Kinder; aber was soll die gute Darja machen? Ihr erster Zorn, in dein sie
das Haus verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren will, wird besänftigt,
und sie muß auch fortan ihren Kindern zuliebe die Augen zu dem Treiben
ihres Gatten zudrücken. Er ist nun einmal nicht anders zu machen; sie muß
es leiden.

Die zweite Gruppe umfaßt die Hauptgestalten des Romans. Stipans
schöne Schwester Anna, seit mehreren Jahren schon an den hohen politischen
Beamten Alexei Karmin in Petersburg verheiratet, war auf deu Lärm, der
durch jenen ehelichen Streit in der Familie entstanden war, zu ihrem Bruder
nach Moskau geeilt, und ihren Bemühungen gelang es, den häuslichen Frieden
wiederherzustellen. Doch eben da lernte sie den Freier ihrer Schwägerin Kitty
(Katharina), der Schwester Darjas, kennen. Es ist ein schöner Offizier mit
all den Vorzügen und Lastern der modernen russischen, adlichen Jugend, un¬
sittlich und doch nicht prinzipicnlos, denn die Prinzipien seiner Welt des Sports


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[0584] Menschenlebens führt, läßt er auch seinen Helden — so unsittlich im gewöhn¬ lichen Sinne sein Verhältnis zur Frau eines andern ist — sittlich besser werden. Nicht wie bei Turgenjew zu schwachmütiger Entsagung und aussichtslosen Unter¬ gange führen bei Tolstoi die schweren Konflikte der Leidenschaft; der ganze Mensch wird dabei aufgewühlt, er hat die Goldprobe zu bestehen, und selbst wenn er untergeht, verläßt ihn nicht unsre Sympathie, da er die Grenzen der mensch¬ lichen Kraft erreicht hat. Doch genug von diesen Allgemeinheiten, die den Versuch machen sollen, ungefähr die Grundstimmung mitzuteilen, auf der sich alle die Vorgänge des Romans abspielen. Es ist nichts schwerer, als von einem wahrhaft objektiven Dichter und zumal nach einem einzigen Werke ein persönliches Bild zu ent¬ werfen. Die Ehe und das Familienleben geben das Thema unsers Romans ab. In drei Gruppen — alle dem Stande der hohen, an Geld und Einfluß reichen Aristokratie angehörig — werden drei verschiedene, aber typische Verhältnisse dargestellt. Die eine Gruppe bildet Stipcm Oblonsky mit seiner kinderreichen Frau Darja. Er ist einer jener Durchschnittsmenschen, die gutmütig und schlau zugleich das Leben sich so genußreich als möglich einzurichten bestrebt sind. Grundsätze giebt es für sie nicht, aber da sie harmlos bloß auf materiellen Genuß bedacht sind, richten sie auch nach außen keinen Schaden an. Solch ein Mann schwimmt stets mit der Majorität und läßt sich von ihr tragen, von den einflußreichen Verwandten beschützen. In seiner Ehe möchte Stipcm am liebsten das Leben des Junggesellen fortführen; über rein animalische Liebe zu seinen Kindern und zu seiner Frau, und zwar solange sie seine Sinne reizt, kann er sich nie erheben. Was für ein Leben eine zarte, edle, selbstlose Frau an seiner Seite führen muß, läßt sich leicht voraussehen. Sie kommt in der That hinter seine Untreue, hinter ein Verhältnis zu einer Gouvernante seiner Kinder; aber was soll die gute Darja machen? Ihr erster Zorn, in dein sie das Haus verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren will, wird besänftigt, und sie muß auch fortan ihren Kindern zuliebe die Augen zu dem Treiben ihres Gatten zudrücken. Er ist nun einmal nicht anders zu machen; sie muß es leiden. Die zweite Gruppe umfaßt die Hauptgestalten des Romans. Stipans schöne Schwester Anna, seit mehreren Jahren schon an den hohen politischen Beamten Alexei Karmin in Petersburg verheiratet, war auf deu Lärm, der durch jenen ehelichen Streit in der Familie entstanden war, zu ihrem Bruder nach Moskau geeilt, und ihren Bemühungen gelang es, den häuslichen Frieden wiederherzustellen. Doch eben da lernte sie den Freier ihrer Schwägerin Kitty (Katharina), der Schwester Darjas, kennen. Es ist ein schöner Offizier mit all den Vorzügen und Lastern der modernen russischen, adlichen Jugend, un¬ sittlich und doch nicht prinzipicnlos, denn die Prinzipien seiner Welt des Sports

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/584>, abgerufen am 22.07.2024.