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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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geworden; wer sonst als klug gegolten hatte, wurde nun dumm gescholten, und
die Dummen waren über Nacht klug geworden. Vornehme wurden zu geringen
Leute", Edelleute gaben ihren Adel auf, und die Tagelöhner wollten "Herren"
genannt werden. Aber zwei Dinge liefen als sichtbare Fäden durch dies Gewühl
von Feigheit und Unverschämtheit und konnten den Menschen wieder trösten
und ermuntern. Der eine Faden war kunterbunt, und wer ihm nachging und
sich von der allgemeinen Angst und der allgemeinen Begehrlichkeit freimachen
konnte, der konnte soviel Vergnügen haben, als er irgend wollte. Das war die
Lächerlichkeit des menschlichen Treibens, die so recht zu tage trat. Der andre
Faden war rosenrot, und an ihm hing alles das, womit ein Mensch einen
andern glücklich machen kann, das Mitleid und das Erbarmen, der gesunde
Menschenverstand und die Vernunft, die treue Arbeit und das Entsagen, und
dieser Faden war die Liebe, die reine Menschenliebe, die von hilfreicher Hand
in das Gewebe von grauer Eigensucht eingewebt war, vorläufig nur nach dem
Ratschluß unsers Herrgotts als ein Zeichen, daß sie auch in den schlimmsten
Zeiten wirksam bleiben solle. Aber wer weiß, der feine Streifen kann einmal
breiter werden und das graue Gewebe kann noch einmal rosenrot leuchten, denn
der Faden ist, Gott sei Dank, nicht durchschnitten."

Diesen letzten Faden, von dem Reuter redet, können auch wir in dem wirren
Treiben des Revvlutivnsjahres erkennen, wenn wir ihn auch vielleicht in andern
Dingen finden, als worin ihn der Dichter gesehen hat. Mitten in den Stürmen
dieses Jahres gehen Samenkörner auf, die zwar längst gestreut waren, die aber
bis dahin unter der polizeilichen Bevormundung dürre dagelegen oder sich nnr
kümmerlich hatten entfalten können.

Jetzt drängte sich allen denen, welche unserm Volke den alten Glauben und
das alte Recht gewahrt haben wollten, die Überzeugung auf, daß es nicht genüge,
gehorsam die Befehle der Obrigkeit zu erwarten, sondern daß sie selbstthätig
für ihre Sache streiten und handeln müßten. Auch die erhaltenden Elemente
des Staates schlössen sich zu Parteien zusammen und traten in die Kämpfe des
Tages ein; eine selbständige konservative Presse entstand, und so heftig sie auch
im Anfang geschmäht und verhöhnt wurde, sie wußte sich zu behaupte" und
Boden zu gewinnen, sodaß sie jetzt zu eiuer auch von den Gegnern geachteten
Macht geworden ist. Die Frommen im Lande besannen sich darauf, daß es
ihre Aufgabe sei, das Wort der Wahrheit unter die wüsten Massen zu bringen
und die äußere und innere Not durch Werke der Barmherzigkeit zu überwinden,
und gar vieles von dem, was man mit dem Worte "innere Mission" bezeichnet,
hat seine Wurzeln im Jahre 1848. Auch das gehört zu den Wahrzeichen
dieses Jahres, daß darin im September der erste evangelische deutsche Kirchentag
in Wittenberg abgehalten wurde.

Und was dieserart einmal angeregt und in Thätigkeit getreten war, das
ist Gott sei Dank auch nicht wieder eingeschlafen und der alten Erstarrung ver-


geworden; wer sonst als klug gegolten hatte, wurde nun dumm gescholten, und
die Dummen waren über Nacht klug geworden. Vornehme wurden zu geringen
Leute», Edelleute gaben ihren Adel auf, und die Tagelöhner wollten „Herren"
genannt werden. Aber zwei Dinge liefen als sichtbare Fäden durch dies Gewühl
von Feigheit und Unverschämtheit und konnten den Menschen wieder trösten
und ermuntern. Der eine Faden war kunterbunt, und wer ihm nachging und
sich von der allgemeinen Angst und der allgemeinen Begehrlichkeit freimachen
konnte, der konnte soviel Vergnügen haben, als er irgend wollte. Das war die
Lächerlichkeit des menschlichen Treibens, die so recht zu tage trat. Der andre
Faden war rosenrot, und an ihm hing alles das, womit ein Mensch einen
andern glücklich machen kann, das Mitleid und das Erbarmen, der gesunde
Menschenverstand und die Vernunft, die treue Arbeit und das Entsagen, und
dieser Faden war die Liebe, die reine Menschenliebe, die von hilfreicher Hand
in das Gewebe von grauer Eigensucht eingewebt war, vorläufig nur nach dem
Ratschluß unsers Herrgotts als ein Zeichen, daß sie auch in den schlimmsten
Zeiten wirksam bleiben solle. Aber wer weiß, der feine Streifen kann einmal
breiter werden und das graue Gewebe kann noch einmal rosenrot leuchten, denn
der Faden ist, Gott sei Dank, nicht durchschnitten."

Diesen letzten Faden, von dem Reuter redet, können auch wir in dem wirren
Treiben des Revvlutivnsjahres erkennen, wenn wir ihn auch vielleicht in andern
Dingen finden, als worin ihn der Dichter gesehen hat. Mitten in den Stürmen
dieses Jahres gehen Samenkörner auf, die zwar längst gestreut waren, die aber
bis dahin unter der polizeilichen Bevormundung dürre dagelegen oder sich nnr
kümmerlich hatten entfalten können.

Jetzt drängte sich allen denen, welche unserm Volke den alten Glauben und
das alte Recht gewahrt haben wollten, die Überzeugung auf, daß es nicht genüge,
gehorsam die Befehle der Obrigkeit zu erwarten, sondern daß sie selbstthätig
für ihre Sache streiten und handeln müßten. Auch die erhaltenden Elemente
des Staates schlössen sich zu Parteien zusammen und traten in die Kämpfe des
Tages ein; eine selbständige konservative Presse entstand, und so heftig sie auch
im Anfang geschmäht und verhöhnt wurde, sie wußte sich zu behaupte» und
Boden zu gewinnen, sodaß sie jetzt zu eiuer auch von den Gegnern geachteten
Macht geworden ist. Die Frommen im Lande besannen sich darauf, daß es
ihre Aufgabe sei, das Wort der Wahrheit unter die wüsten Massen zu bringen
und die äußere und innere Not durch Werke der Barmherzigkeit zu überwinden,
und gar vieles von dem, was man mit dem Worte „innere Mission" bezeichnet,
hat seine Wurzeln im Jahre 1848. Auch das gehört zu den Wahrzeichen
dieses Jahres, daß darin im September der erste evangelische deutsche Kirchentag
in Wittenberg abgehalten wurde.

Und was dieserart einmal angeregt und in Thätigkeit getreten war, das
ist Gott sei Dank auch nicht wieder eingeschlafen und der alten Erstarrung ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/580>, abgerufen am 22.07.2024.