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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Ans dem Jahre ^3^3,

märzlichteit" gegen sich wachgerufen; denn in der neuen Zeit hieß es
nur noch: Bürger! Selbst die Anrede: Mitbürger! oder gar: Verehrte
Mitbürger! war nicht ganz zweifelfrei, denn so hätte man auch vor dein
März sagen können; jetzt war es nur uoch modern, schlechtweg zu sagen:
Bürger!

Nach der damals herrschenden Lehre stand es auch fest, daß die Bürgerwehr
ein notwendiges Erfordernis jedes freien Staates und die beste Gestalt der
Landesverteidigung sei, ja zeitweilig trat die Meinung hervor, daß die Souveränität
im Staate eigentlich bei der Bürgerwehr beruhe. Eine mir vorliegende Festschrift,
welche die Fahnenweihe einer Bürgerwehr beschreibt, führt ans, daß der alte deutsche
Heerbann sich in verschönter und veredelter Form in der Bürgerwehr verjüngt
habe, nachdem er im Laufe der Zeiten verfallen und im Landsturm und in der
Landwehr nur schwache und einseitige Schößlinge aus seinem veralteten Stamme
getrieben habe. Kein Ort war so klein, der nicht seine Bürgerwehr gehabt und
deren Fahne mit großem Pomp und vielen Reden eingeweiht hätte, als ob es
gelte, ein Werk für die Ewigkeit zu gründen. Nach wenigen Monaten war die
ganze Herrlichkeit vorbei.

Zu den immer wiederkehrenden Illusionen, an die jeder glauben mußte
und die kaum jemand anzugreifen wagte, obgleich sie mit den klaren Gesetzes¬
buchstaben in Widerspruch standen, gehörte es auch, daß die Frankfurter
Nationalversammlung für sich allein die Macht besitze, Deutschland eine beliebige
Verfassung zu geben, Reichsverweser und Kaiser zu wählen und allen deutschen
Regierungen zu gebieten, und daß die Berliner Nationalversammlung eine ver-
fassnngsgcbende Versammlung sei, die auch Ministerien absetzen und Steuern
verweigern könne, Irrtümer, die später manches treue Herz, das daran auch
dann noch festhielt, als wieder andre Luft in Deutschland wehte, in tiefe
Verbitterung getrieben oder gar gebrochen haben. Nur wenigen eisenfesteu
Männern war es gegeben, in dieser allgemeinen Gedankenverwirrung fest und
unbewegt auf dem Boden des Rechtes zu stehen; der wenigen einer war der
damals viel geschmähte Junker, jetzt Fürst Bismarck, der fast allein auf dem
schnell berufenen "Vereinigten Landtage" sein Nein gegen die Berufung der
Nationalversammlung und gegen die Gewährung eines Kredits von vielen
Millionen zur Befriedigung der Bedürfnisse der neuen Zeit aussprach.

Ja, es war eine wunderbare Zeit, und ich weiß die Schilderung derselben
nicht besser zusammen zu fassen, als indem ich die Worte anführe, mit denen
Fritz Reuter seine mehrfach zitirten Erzählungen aus Nahnstedt abschließt.
Er schreibt, wenn wir seine plattdeutschen Worte hier hochdeutsch wieder¬
geben (Stromtid III, S. 108): "So war es denu überall im Lande schlimm
bestellt, jeder erhob seine Hand gegen den andern. Die Welt war wie um¬
gekehrt. Diejenigen, welche Vermögen hatten und sonst hochmütig drein gesehen
hatten, waren jetzt klein geworden, und die garnichts hatten, waren gar dreist


Ans dem Jahre ^3^3,

märzlichteit" gegen sich wachgerufen; denn in der neuen Zeit hieß es
nur noch: Bürger! Selbst die Anrede: Mitbürger! oder gar: Verehrte
Mitbürger! war nicht ganz zweifelfrei, denn so hätte man auch vor dein
März sagen können; jetzt war es nur uoch modern, schlechtweg zu sagen:
Bürger!

Nach der damals herrschenden Lehre stand es auch fest, daß die Bürgerwehr
ein notwendiges Erfordernis jedes freien Staates und die beste Gestalt der
Landesverteidigung sei, ja zeitweilig trat die Meinung hervor, daß die Souveränität
im Staate eigentlich bei der Bürgerwehr beruhe. Eine mir vorliegende Festschrift,
welche die Fahnenweihe einer Bürgerwehr beschreibt, führt ans, daß der alte deutsche
Heerbann sich in verschönter und veredelter Form in der Bürgerwehr verjüngt
habe, nachdem er im Laufe der Zeiten verfallen und im Landsturm und in der
Landwehr nur schwache und einseitige Schößlinge aus seinem veralteten Stamme
getrieben habe. Kein Ort war so klein, der nicht seine Bürgerwehr gehabt und
deren Fahne mit großem Pomp und vielen Reden eingeweiht hätte, als ob es
gelte, ein Werk für die Ewigkeit zu gründen. Nach wenigen Monaten war die
ganze Herrlichkeit vorbei.

Zu den immer wiederkehrenden Illusionen, an die jeder glauben mußte
und die kaum jemand anzugreifen wagte, obgleich sie mit den klaren Gesetzes¬
buchstaben in Widerspruch standen, gehörte es auch, daß die Frankfurter
Nationalversammlung für sich allein die Macht besitze, Deutschland eine beliebige
Verfassung zu geben, Reichsverweser und Kaiser zu wählen und allen deutschen
Regierungen zu gebieten, und daß die Berliner Nationalversammlung eine ver-
fassnngsgcbende Versammlung sei, die auch Ministerien absetzen und Steuern
verweigern könne, Irrtümer, die später manches treue Herz, das daran auch
dann noch festhielt, als wieder andre Luft in Deutschland wehte, in tiefe
Verbitterung getrieben oder gar gebrochen haben. Nur wenigen eisenfesteu
Männern war es gegeben, in dieser allgemeinen Gedankenverwirrung fest und
unbewegt auf dem Boden des Rechtes zu stehen; der wenigen einer war der
damals viel geschmähte Junker, jetzt Fürst Bismarck, der fast allein auf dem
schnell berufenen „Vereinigten Landtage" sein Nein gegen die Berufung der
Nationalversammlung und gegen die Gewährung eines Kredits von vielen
Millionen zur Befriedigung der Bedürfnisse der neuen Zeit aussprach.

Ja, es war eine wunderbare Zeit, und ich weiß die Schilderung derselben
nicht besser zusammen zu fassen, als indem ich die Worte anführe, mit denen
Fritz Reuter seine mehrfach zitirten Erzählungen aus Nahnstedt abschließt.
Er schreibt, wenn wir seine plattdeutschen Worte hier hochdeutsch wieder¬
geben (Stromtid III, S. 108): „So war es denu überall im Lande schlimm
bestellt, jeder erhob seine Hand gegen den andern. Die Welt war wie um¬
gekehrt. Diejenigen, welche Vermögen hatten und sonst hochmütig drein gesehen
hatten, waren jetzt klein geworden, und die garnichts hatten, waren gar dreist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/579>, abgerufen am 23.07.2024.