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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Unpolitische Briefe aus Ivien.

den Tagen des Konkordatsabschlusses, der den Österreichern die immer noch
fortwirkende Kraft des römischen Papsttums zur unerfreulichen Anschauung
brachte; dann dem italienischen Feldzuge des Jahres 1859, den Saar als
Offizier mitgemacht hat; endlich vielleicht mich der Anregung Giesebrcchts, der
im Jahre 1855 den ersten Band seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit ver¬
öffentlichte. Neben Saar ist ja gerade in den fünfziger und sechziger Jahren
eine ganze Reihe von Dichtern auf denselben Stoff verfallen; die Bruno Arnim
und Weißbrvdt überragte er freilich an Gestaltungskraft bedeutend, und
namentlich der zweite Teil des Dramas, "Heinrichs Tod," ist ein durchaus
btthnenfühigcs Stück "Die beiden de Witt" dagegen, die vor etwa sieben
Jahren über die Bretter des Burgtheaters gingen, konnten sich nicht auf dem
Repertoire erhalten, und dem Trauerspiel "Tempesta," das erst 1881 erschien,
kann man wohl voraussagen, daß kein Direktor es mit ihm wird wagen wollen.
Indes behandeln sowohl "Die beiden de Witt" als auch "Tempesta" Konflikte,
die unsrer Zeit nicht unverständlich sind: dort sehen wir einen Jdealpolitiker
im Kampfe und den realen Mächten, die den Gang der Dinge auf der Welt¬
bühne bestimmen, untergehen; hier tötet ein Mann seine Fran, nicht weil sie
ihm untreu gewesen ist, sondern weil er in ihrem Herzen den ersten Keim einer
Leidenschaft zu einem andern entdeckt. "Und so hab ich sie mit Recht getötet,"
ruft er an der Leiche aus. Dieses Verlangen nach ganz unumschränktem Besitz,
nach einer Herrschaft selbst über das Wollen des geliebten Wesens ist doch nur
eine Spielart des "titanischen" Dranges, der in Hamerlings "Nero," in Lipiners
"Prometheus" wohnt, und der sich bei näherem Zusehen als ein Stück Faust¬
motiv entpuppt -- übrigens ein Motiv, das seit Lenau in der österreichischen
Literatur nicht wieder zur Ruhe gekommen ist, weshalb es uns auch garnicht
überrascht, wenn wir in Wnrzbachs Lexikon lesen, auch Ferdinand von Saar
habe in seiner Jugend an einem "Faust" gedichtet, der aber verloren ge¬
gangen sei.

Am entschiedensten als österreichischer Dichter tritt Saar in seinen Novellen
auf; hier hat er so manchen glücklichen Griff in unser Gesellschaftsleben gethan,
und auch die Ausführung läßt unter den früheren wenigstens nichts zu wünschen
übrig. Es sind kleine Genre- und Stimmungsbilder, die den Übergang von
der Neaktionsperiode der fünfziger Jahre zu der neuen, mit Konstitutionen be¬
glückten Zeit schildern, jedes derselben hat eine andre Lebenssphäre zum Hinter¬
grunde: so "Jnuozenz" den geistlichen Stand, "Marianne" das bürgerliche
Kleinleben, die "Geigerin" die dunkeln Existenzen Wiens, die "Steinklopfer"
den Arbeiterstand, das "Haus Reichegg" die Aristokratie, Va"z Vivtls den
Militärstand, der "Exzcllenzherr" die österreichische Büreaukratie und "Tambi"
literarische Zustände. Die letzten aber -- "Tambi" ausgenommen -- verraten
leider eine Abnahme an origineller Gestaltungskraft, die Figuren sind fast typisch
geworden, der Stil nicht bloß vornehm-kühl, sondern ausdruckslos-konventionell.


Grenzbot-in I. 188S, 66
Unpolitische Briefe aus Ivien.

den Tagen des Konkordatsabschlusses, der den Österreichern die immer noch
fortwirkende Kraft des römischen Papsttums zur unerfreulichen Anschauung
brachte; dann dem italienischen Feldzuge des Jahres 1859, den Saar als
Offizier mitgemacht hat; endlich vielleicht mich der Anregung Giesebrcchts, der
im Jahre 1855 den ersten Band seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit ver¬
öffentlichte. Neben Saar ist ja gerade in den fünfziger und sechziger Jahren
eine ganze Reihe von Dichtern auf denselben Stoff verfallen; die Bruno Arnim
und Weißbrvdt überragte er freilich an Gestaltungskraft bedeutend, und
namentlich der zweite Teil des Dramas, „Heinrichs Tod," ist ein durchaus
btthnenfühigcs Stück „Die beiden de Witt" dagegen, die vor etwa sieben
Jahren über die Bretter des Burgtheaters gingen, konnten sich nicht auf dem
Repertoire erhalten, und dem Trauerspiel „Tempesta," das erst 1881 erschien,
kann man wohl voraussagen, daß kein Direktor es mit ihm wird wagen wollen.
Indes behandeln sowohl „Die beiden de Witt" als auch „Tempesta" Konflikte,
die unsrer Zeit nicht unverständlich sind: dort sehen wir einen Jdealpolitiker
im Kampfe und den realen Mächten, die den Gang der Dinge auf der Welt¬
bühne bestimmen, untergehen; hier tötet ein Mann seine Fran, nicht weil sie
ihm untreu gewesen ist, sondern weil er in ihrem Herzen den ersten Keim einer
Leidenschaft zu einem andern entdeckt. „Und so hab ich sie mit Recht getötet,"
ruft er an der Leiche aus. Dieses Verlangen nach ganz unumschränktem Besitz,
nach einer Herrschaft selbst über das Wollen des geliebten Wesens ist doch nur
eine Spielart des „titanischen" Dranges, der in Hamerlings „Nero," in Lipiners
„Prometheus" wohnt, und der sich bei näherem Zusehen als ein Stück Faust¬
motiv entpuppt — übrigens ein Motiv, das seit Lenau in der österreichischen
Literatur nicht wieder zur Ruhe gekommen ist, weshalb es uns auch garnicht
überrascht, wenn wir in Wnrzbachs Lexikon lesen, auch Ferdinand von Saar
habe in seiner Jugend an einem „Faust" gedichtet, der aber verloren ge¬
gangen sei.

Am entschiedensten als österreichischer Dichter tritt Saar in seinen Novellen
auf; hier hat er so manchen glücklichen Griff in unser Gesellschaftsleben gethan,
und auch die Ausführung läßt unter den früheren wenigstens nichts zu wünschen
übrig. Es sind kleine Genre- und Stimmungsbilder, die den Übergang von
der Neaktionsperiode der fünfziger Jahre zu der neuen, mit Konstitutionen be¬
glückten Zeit schildern, jedes derselben hat eine andre Lebenssphäre zum Hinter¬
grunde: so „Jnuozenz" den geistlichen Stand, „Marianne" das bürgerliche
Kleinleben, die „Geigerin" die dunkeln Existenzen Wiens, die „Steinklopfer"
den Arbeiterstand, das „Haus Reichegg" die Aristokratie, Va«z Vivtls den
Militärstand, der „Exzcllenzherr" die österreichische Büreaukratie und „Tambi"
literarische Zustände. Die letzten aber — „Tambi" ausgenommen — verraten
leider eine Abnahme an origineller Gestaltungskraft, die Figuren sind fast typisch
geworden, der Stil nicht bloß vornehm-kühl, sondern ausdruckslos-konventionell.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/533>, abgerufen am 23.07.2024.