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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Unpoliüsche Briefe aus Wien.

Streben unsrer Nation ihr charakteristisches Merkmal verleiht; die beiden andern
treten völlig zurück. Auch betrachten sich jene allein als die berufenen Ver¬
treter der deutschen Dichterwelt. Hand in Hand mit dem Journalismus treten
sie voll Selbstbewußtsein auf und gehaben sich so recht als die unumschränkten
Herren und Meister auf dem deutscheu Parnaß.

Wie steht es nun um Inhalt und Form der deutscheu Dichtung in Öster¬
reich? Ist auch hier alles uur Reflex der literarischen Zustände jenseits der
schwarzgelben Pfähle? Kommt die bedeutsame Verschiedenheit von Landschaft
und Stammesart, von Geschichte und politischen Zuständen nicht auch in der
Literatureutwickuug zum Ausdruck?

Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß die spezifisch österreichische
Literatur, welche etwa mit Collin anhebt und in Grillparzer ihre höchste
Vollendung erreichte, keine Fortsetzung im modernen Osterreich gefunden
hat, wie denn überhaupt unser geistiges Dasein garnicht im alten Österreich
wurzelt. Weniger als irgendein andres Volk haben wir hier an unsre Väter
angeknüpft, vielmehr unsre Ideen und Meinungen aus der Fremde geholt und
höchstens hie und da leise verändert. Namentlich den charakteristischen Zug der
altösterreichischen Dichtung, den Staat Österreich mit Enthusiasmus zu um¬
fassen, dürfte man heute vergebens in unsrer schönen Literatur suchen, schon die
Revolution des Jahres 1848 hat ihn völlig verwischt. Seit "König Ottokars
Glück und Ende," das aus dem Jahre 1825 stammt, ist kein bedeutenderes
Dichterwerk erschienen, das von der österreichischen Staatsidee erfüllt gewesen
wäre, und wer wird behaupten wollen, daß jenes heute noch imstande sei, das
österreichische Publikum mit sich fortzureißen? Eine pietätvolle Teilnahme ist
alles, was man bei der Lektüre dieses Stückes -- denn zu scheu bekommt man
es ja garnicht mehr -- empfindet, und nur wenige werden dabei mit Enthu¬
siasmus und -- mit Wehmut jener alten Zeit gedenken, die ihren dichterischen
Ausdruck darin gefunden hat.*) Aber auch Raimunds harmlose Zauberwelt
berührt uns heute fremdartig und kühl, und vergebens suchen wir uns wciß-
zumachen, daß uns noch ein lebendiges Interesse erfülle, wenn wir sie betreten;
es ist doch nur antiquarische Feinschmeckerei, die uns bisweilen noch eine Stunde
in ihr festhält. Endlich hat auch Banernfeld keinen Nachfolger gefunden, und
unsre Lustspielbühne wird von Norddeutschland oder Paris her versorgt; öster¬
reichische Verhältnisse, die österreichische Gesellschaft finden wir fast niemals
auf ihr vorgeführt. Dafür hat sich eine ganze Generation von Dichtern ge¬
bildet, die einer fremden Richtung folgt. Robert Hamerling, Siegfried Lipiner,



Wir meinen damit nicht etwa die Zeit von 1825; "König Ottokars Glück und Ende"
ist eine verspätete poetische Frucht der klassischen Zeit deö österreichischen Staates, die durch
das Ministerium Stadion bezeichnet wird, so wie die Dichtungen des jüngern Collin noch
ganz der josefinischen Periode angehören.
Unpoliüsche Briefe aus Wien.

Streben unsrer Nation ihr charakteristisches Merkmal verleiht; die beiden andern
treten völlig zurück. Auch betrachten sich jene allein als die berufenen Ver¬
treter der deutschen Dichterwelt. Hand in Hand mit dem Journalismus treten
sie voll Selbstbewußtsein auf und gehaben sich so recht als die unumschränkten
Herren und Meister auf dem deutscheu Parnaß.

Wie steht es nun um Inhalt und Form der deutscheu Dichtung in Öster¬
reich? Ist auch hier alles uur Reflex der literarischen Zustände jenseits der
schwarzgelben Pfähle? Kommt die bedeutsame Verschiedenheit von Landschaft
und Stammesart, von Geschichte und politischen Zuständen nicht auch in der
Literatureutwickuug zum Ausdruck?

Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß die spezifisch österreichische
Literatur, welche etwa mit Collin anhebt und in Grillparzer ihre höchste
Vollendung erreichte, keine Fortsetzung im modernen Osterreich gefunden
hat, wie denn überhaupt unser geistiges Dasein garnicht im alten Österreich
wurzelt. Weniger als irgendein andres Volk haben wir hier an unsre Väter
angeknüpft, vielmehr unsre Ideen und Meinungen aus der Fremde geholt und
höchstens hie und da leise verändert. Namentlich den charakteristischen Zug der
altösterreichischen Dichtung, den Staat Österreich mit Enthusiasmus zu um¬
fassen, dürfte man heute vergebens in unsrer schönen Literatur suchen, schon die
Revolution des Jahres 1848 hat ihn völlig verwischt. Seit „König Ottokars
Glück und Ende," das aus dem Jahre 1825 stammt, ist kein bedeutenderes
Dichterwerk erschienen, das von der österreichischen Staatsidee erfüllt gewesen
wäre, und wer wird behaupten wollen, daß jenes heute noch imstande sei, das
österreichische Publikum mit sich fortzureißen? Eine pietätvolle Teilnahme ist
alles, was man bei der Lektüre dieses Stückes — denn zu scheu bekommt man
es ja garnicht mehr — empfindet, und nur wenige werden dabei mit Enthu¬
siasmus und — mit Wehmut jener alten Zeit gedenken, die ihren dichterischen
Ausdruck darin gefunden hat.*) Aber auch Raimunds harmlose Zauberwelt
berührt uns heute fremdartig und kühl, und vergebens suchen wir uns wciß-
zumachen, daß uns noch ein lebendiges Interesse erfülle, wenn wir sie betreten;
es ist doch nur antiquarische Feinschmeckerei, die uns bisweilen noch eine Stunde
in ihr festhält. Endlich hat auch Banernfeld keinen Nachfolger gefunden, und
unsre Lustspielbühne wird von Norddeutschland oder Paris her versorgt; öster¬
reichische Verhältnisse, die österreichische Gesellschaft finden wir fast niemals
auf ihr vorgeführt. Dafür hat sich eine ganze Generation von Dichtern ge¬
bildet, die einer fremden Richtung folgt. Robert Hamerling, Siegfried Lipiner,



Wir meinen damit nicht etwa die Zeit von 1825; „König Ottokars Glück und Ende"
ist eine verspätete poetische Frucht der klassischen Zeit deö österreichischen Staates, die durch
das Ministerium Stadion bezeichnet wird, so wie die Dichtungen des jüngern Collin noch
ganz der josefinischen Periode angehören.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/530>, abgerufen am 25.08.2024.