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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchesterlicher Lehren.

Von diesen letzteren, deren Gedeihen allerdings von dem Zinsfuß ganz unab¬
hängig ist, weil sie nicht auf Rente, sondern auf Kapitalgewinn ausgehen, werde
ich an andrer Stelle sprechen. Ich verstehe hier unter Kapitalisten diejenigen,
welche einen Teil ihres Vermögens ausleihen, um Zinsen zu erhalten, und von
ihnen sage ich, daß sie sich in gedrückter Lage befinden.

Man denke sich einen Familienvater, der vor zwölf oder fünfzehn Jahren
aus einem Kapitalvermögen von 100 000 Mark 5 Prozent, also 5000 Mark
Rente zog. Wir nehmen an, daß er davon leben konnte, oder wenn er auf
höherer Gesellschaftsstufe stand, daß diese Zubuße zu seinem Erwerbseinkommen
genügte, um die Familie standesgemäß zu erhalten. Dieser Mann konnte sein
Kapital nicht vermehren, weil er weder spekulirte, noch auch etwas zurückzulegen
vermochte. Heute nun hat sich die Rente aus seinem Kapital von 5000 auf
weniger als 4000 vermindert. Er kann also nicht mehr auskommen, sondern
muß entweder, was bekanntlich sehr schwierig ist, die Bedürfnisse seiner Familie
beschränken, oder von seinem Kapital zusetzen.

Wenn von Kapitalisten gesprochen wird, so schwebt der Menge immer das
Bild eines Mannes vor, der morgens einige Stunden in seinem eleganten
Kabinet mit Kuponabschneiden beschäftigt ist, der dann in den Klub fährt, von
da zu einem üppigen Diner geht und abends gähnend in seiner Loge sitzt. Das
sind aber nur seltene Ausnahmen, und selbst diese werden, wenn sie nicht Gro߬
oder spekulirende Kapitalisten sind, den Rückgang des Zinses mit wenig Behagen
empfinden. Die große Menge der Kapitalisten aber sind Leute, die außerdem
sehr angestrengt arbeiten, ja arbeiten müssen, um auszukommen, oder solche,
die, nachdem sie aus irgendeinen: Grunde nicht mehr arbeiten und erwerben
können, mit ihrem Lebensbedarf auf die Erträgnisse ihres ersparten oder er¬
erbten Kapitals angewiesen sind. Alle diese Leute befinden sich in gedrückter
Lage, und es ist unter Umständen selbst der Besitzer einer halben Million nicht
ausgeschlossen, wenn 20000 Mark für den standesgemäßen Unterhalt seiner
Familie nicht ausreichen. Es ist eine arge Täuschung, wenn man, wie es ge¬
wöhnlich geschieht, die Not auf die unteren Klassen beschränkt glaubt. Nein,
sie steigt hoch hinauf in die höheren gesellschaftlichen Stufen. Jene Familie,
die an gebildete Geselligkeit, an ausgedehnte Lektüre, ein musikalische und andre
künstlerische Beschäftigungen gewöhnt ist, befindet sich nicht minder im sozialen
Elend, wenn sie diese geistigen Bedürfnisse einschränken muß, als eine Arbeiter¬
familie, die an Kleidung oder Nahrung ersparen muß. Das musikalische In¬
strument, das jene gebildete Familie etwa zu verkaufen genötigt wäre, würde
von größerem Elend zeugen als die Kommode, welche der Arbeiter ins Pfand¬
haus trägt.

Aber auch die kleinen und oft sehr kleine Leute sind Kapitalisten, und auch
sie haben unter dem Rückgange des Zinsfußes zu leiden. Werfen wir wieder
einen Blick aus die Sparkassen, denn dies sind Anstalten, wo eben nur kleinere


Zur Revision manchesterlicher Lehren.

Von diesen letzteren, deren Gedeihen allerdings von dem Zinsfuß ganz unab¬
hängig ist, weil sie nicht auf Rente, sondern auf Kapitalgewinn ausgehen, werde
ich an andrer Stelle sprechen. Ich verstehe hier unter Kapitalisten diejenigen,
welche einen Teil ihres Vermögens ausleihen, um Zinsen zu erhalten, und von
ihnen sage ich, daß sie sich in gedrückter Lage befinden.

Man denke sich einen Familienvater, der vor zwölf oder fünfzehn Jahren
aus einem Kapitalvermögen von 100 000 Mark 5 Prozent, also 5000 Mark
Rente zog. Wir nehmen an, daß er davon leben konnte, oder wenn er auf
höherer Gesellschaftsstufe stand, daß diese Zubuße zu seinem Erwerbseinkommen
genügte, um die Familie standesgemäß zu erhalten. Dieser Mann konnte sein
Kapital nicht vermehren, weil er weder spekulirte, noch auch etwas zurückzulegen
vermochte. Heute nun hat sich die Rente aus seinem Kapital von 5000 auf
weniger als 4000 vermindert. Er kann also nicht mehr auskommen, sondern
muß entweder, was bekanntlich sehr schwierig ist, die Bedürfnisse seiner Familie
beschränken, oder von seinem Kapital zusetzen.

Wenn von Kapitalisten gesprochen wird, so schwebt der Menge immer das
Bild eines Mannes vor, der morgens einige Stunden in seinem eleganten
Kabinet mit Kuponabschneiden beschäftigt ist, der dann in den Klub fährt, von
da zu einem üppigen Diner geht und abends gähnend in seiner Loge sitzt. Das
sind aber nur seltene Ausnahmen, und selbst diese werden, wenn sie nicht Gro߬
oder spekulirende Kapitalisten sind, den Rückgang des Zinses mit wenig Behagen
empfinden. Die große Menge der Kapitalisten aber sind Leute, die außerdem
sehr angestrengt arbeiten, ja arbeiten müssen, um auszukommen, oder solche,
die, nachdem sie aus irgendeinen: Grunde nicht mehr arbeiten und erwerben
können, mit ihrem Lebensbedarf auf die Erträgnisse ihres ersparten oder er¬
erbten Kapitals angewiesen sind. Alle diese Leute befinden sich in gedrückter
Lage, und es ist unter Umständen selbst der Besitzer einer halben Million nicht
ausgeschlossen, wenn 20000 Mark für den standesgemäßen Unterhalt seiner
Familie nicht ausreichen. Es ist eine arge Täuschung, wenn man, wie es ge¬
wöhnlich geschieht, die Not auf die unteren Klassen beschränkt glaubt. Nein,
sie steigt hoch hinauf in die höheren gesellschaftlichen Stufen. Jene Familie,
die an gebildete Geselligkeit, an ausgedehnte Lektüre, ein musikalische und andre
künstlerische Beschäftigungen gewöhnt ist, befindet sich nicht minder im sozialen
Elend, wenn sie diese geistigen Bedürfnisse einschränken muß, als eine Arbeiter¬
familie, die an Kleidung oder Nahrung ersparen muß. Das musikalische In¬
strument, das jene gebildete Familie etwa zu verkaufen genötigt wäre, würde
von größerem Elend zeugen als die Kommode, welche der Arbeiter ins Pfand¬
haus trägt.

Aber auch die kleinen und oft sehr kleine Leute sind Kapitalisten, und auch
sie haben unter dem Rückgange des Zinsfußes zu leiden. Werfen wir wieder
einen Blick aus die Sparkassen, denn dies sind Anstalten, wo eben nur kleinere


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[0464] Zur Revision manchesterlicher Lehren. Von diesen letzteren, deren Gedeihen allerdings von dem Zinsfuß ganz unab¬ hängig ist, weil sie nicht auf Rente, sondern auf Kapitalgewinn ausgehen, werde ich an andrer Stelle sprechen. Ich verstehe hier unter Kapitalisten diejenigen, welche einen Teil ihres Vermögens ausleihen, um Zinsen zu erhalten, und von ihnen sage ich, daß sie sich in gedrückter Lage befinden. Man denke sich einen Familienvater, der vor zwölf oder fünfzehn Jahren aus einem Kapitalvermögen von 100 000 Mark 5 Prozent, also 5000 Mark Rente zog. Wir nehmen an, daß er davon leben konnte, oder wenn er auf höherer Gesellschaftsstufe stand, daß diese Zubuße zu seinem Erwerbseinkommen genügte, um die Familie standesgemäß zu erhalten. Dieser Mann konnte sein Kapital nicht vermehren, weil er weder spekulirte, noch auch etwas zurückzulegen vermochte. Heute nun hat sich die Rente aus seinem Kapital von 5000 auf weniger als 4000 vermindert. Er kann also nicht mehr auskommen, sondern muß entweder, was bekanntlich sehr schwierig ist, die Bedürfnisse seiner Familie beschränken, oder von seinem Kapital zusetzen. Wenn von Kapitalisten gesprochen wird, so schwebt der Menge immer das Bild eines Mannes vor, der morgens einige Stunden in seinem eleganten Kabinet mit Kuponabschneiden beschäftigt ist, der dann in den Klub fährt, von da zu einem üppigen Diner geht und abends gähnend in seiner Loge sitzt. Das sind aber nur seltene Ausnahmen, und selbst diese werden, wenn sie nicht Gro߬ oder spekulirende Kapitalisten sind, den Rückgang des Zinses mit wenig Behagen empfinden. Die große Menge der Kapitalisten aber sind Leute, die außerdem sehr angestrengt arbeiten, ja arbeiten müssen, um auszukommen, oder solche, die, nachdem sie aus irgendeinen: Grunde nicht mehr arbeiten und erwerben können, mit ihrem Lebensbedarf auf die Erträgnisse ihres ersparten oder er¬ erbten Kapitals angewiesen sind. Alle diese Leute befinden sich in gedrückter Lage, und es ist unter Umständen selbst der Besitzer einer halben Million nicht ausgeschlossen, wenn 20000 Mark für den standesgemäßen Unterhalt seiner Familie nicht ausreichen. Es ist eine arge Täuschung, wenn man, wie es ge¬ wöhnlich geschieht, die Not auf die unteren Klassen beschränkt glaubt. Nein, sie steigt hoch hinauf in die höheren gesellschaftlichen Stufen. Jene Familie, die an gebildete Geselligkeit, an ausgedehnte Lektüre, ein musikalische und andre künstlerische Beschäftigungen gewöhnt ist, befindet sich nicht minder im sozialen Elend, wenn sie diese geistigen Bedürfnisse einschränken muß, als eine Arbeiter¬ familie, die an Kleidung oder Nahrung ersparen muß. Das musikalische In¬ strument, das jene gebildete Familie etwa zu verkaufen genötigt wäre, würde von größerem Elend zeugen als die Kommode, welche der Arbeiter ins Pfand¬ haus trägt. Aber auch die kleinen und oft sehr kleine Leute sind Kapitalisten, und auch sie haben unter dem Rückgange des Zinsfußes zu leiden. Werfen wir wieder einen Blick aus die Sparkassen, denn dies sind Anstalten, wo eben nur kleinere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/464>, abgerufen am 22.07.2024.