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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die letzte Präsidentenwahl in Nordamerika,

ungemein regsam, stets zu Umtrieben geneigt, sind sie geborne Verschwörer und
im Grunde ihres Herzens krasse Anarchisten, die am liebsten mit Dynamik ar¬
beiten. Rechnet man hierzu ihren religiösen Fanatismus, so ergiebt sich ein so
unerquickliches Bild, daß man wirklich sogar für ihr nationales Unglück die
Sympathie verliert, nachdem man sie sich erst in der Nähe betrachtet hat. Die
Stadt Newyork haben die Jrishmen vollständig in der Hand, und Tausende und
Abertausende von "Politikern" leben davon.

Seitdem Tammany-Haiti, die mächtigste und bestorganisirte Loge, vor zehn
Jnhren vom Newyorker Stadthaus Besitz ergriffen hat, bei welcher Gelegenheit die
von den Vorgängern zu übergebenden Bücher charakteristischerweise in Rauch
aufgingen oder am hellen Tage "gestohlen" wurden, ist dieses große Gemein¬
wesen nichts als eine fruchtbringende Domäne für irische Faullenzer. An der
Spitze dieser Domäne steht der Mayor, der Bürgermeister. Seine Wahl findet
aller zwei Jahre (diesmal zusammenfallend mit der Msotion) statt. Er hat sehr
wichtige Befugnisse, u. a. das Vorschlagsrecht*) für den On^-Qontrollsr (Archiv
und Dokumente), den Loinlnissioiiizr ok xublio vorks, einen höchst einflußreichen
Posten, was flüssiges Geld anlangt, und außerdem für die Spitzen der Polizei¬
behörde, sodaß die Herren "Politiker," falls nur die richtigen Leute an obigen
Stellen sitzen, in Newyork so ziemlich alles thun und lassen können, was ihnen
beliebt: brandschatzen, erpressen, Vollmachten und Lizenzen erteilen, öffentliche
Gelder stehlen u. s. w.

Der jährliche Etat der Stadt Newyork beläuft sich auf fünfzig Millionen
Dollar: zweihundert Millionen Dollar Schulden sind im Laufe der Zeit ge¬
macht worden. Was läßt sich außerdem nicht alles "machen": von Laden¬
besitzern, die ihren Kram auf die Straße stellen, von Bierwirten, die über die
Polizeistunde offen halten wollen (alle thun es), von Hausbesitzern, die ungern
hohe Steuern zahlen, und dergleichen? Es giebt untere Polizeibeamte, die
jährlich vierzig- bis fünfzigtausend Dollar Nebeneinnahmen haben; was mag
weiter oben "verdient" werden! So war denn Tammcmy-Hall, obwohl demo¬
kratisch, diesmal bereit, für den Republikaner Blaine zu stimmen, falls man
nur ihren Mann für die Mayorswahl unterstützte -- ein Handel, der beide
Teile ehrt; auch Newyork ist eine Messe wert.

Nun ist aber weder der Tamnmny-Kandidat Great zum Bürgermeister
uoch ihr Vertrauensmann Blaine zum Präsidenten gewählt worden, und ihre
Macht ist stark erschüttert, wenn nicht gebrochen -- für zwei Jahre.

Die Aufstellung des James Blaine Esq. als Kandidaten war von seiten der
republikanischen Partei weniger ein Mißgriff als ein Akt großartiger Naivität.
Man hielt die Zeit bereits für gekommen, um so etwas dem Lande bieten zu
können. Blaine galt schlechtweg sür bestechlich und genoß als "Mann, der mit



Die Aldermen wählen, aber immer den vom Mayor Präsentirten.
Die letzte Präsidentenwahl in Nordamerika,

ungemein regsam, stets zu Umtrieben geneigt, sind sie geborne Verschwörer und
im Grunde ihres Herzens krasse Anarchisten, die am liebsten mit Dynamik ar¬
beiten. Rechnet man hierzu ihren religiösen Fanatismus, so ergiebt sich ein so
unerquickliches Bild, daß man wirklich sogar für ihr nationales Unglück die
Sympathie verliert, nachdem man sie sich erst in der Nähe betrachtet hat. Die
Stadt Newyork haben die Jrishmen vollständig in der Hand, und Tausende und
Abertausende von „Politikern" leben davon.

Seitdem Tammany-Haiti, die mächtigste und bestorganisirte Loge, vor zehn
Jnhren vom Newyorker Stadthaus Besitz ergriffen hat, bei welcher Gelegenheit die
von den Vorgängern zu übergebenden Bücher charakteristischerweise in Rauch
aufgingen oder am hellen Tage „gestohlen" wurden, ist dieses große Gemein¬
wesen nichts als eine fruchtbringende Domäne für irische Faullenzer. An der
Spitze dieser Domäne steht der Mayor, der Bürgermeister. Seine Wahl findet
aller zwei Jahre (diesmal zusammenfallend mit der Msotion) statt. Er hat sehr
wichtige Befugnisse, u. a. das Vorschlagsrecht*) für den On^-Qontrollsr (Archiv
und Dokumente), den Loinlnissioiiizr ok xublio vorks, einen höchst einflußreichen
Posten, was flüssiges Geld anlangt, und außerdem für die Spitzen der Polizei¬
behörde, sodaß die Herren „Politiker," falls nur die richtigen Leute an obigen
Stellen sitzen, in Newyork so ziemlich alles thun und lassen können, was ihnen
beliebt: brandschatzen, erpressen, Vollmachten und Lizenzen erteilen, öffentliche
Gelder stehlen u. s. w.

Der jährliche Etat der Stadt Newyork beläuft sich auf fünfzig Millionen
Dollar: zweihundert Millionen Dollar Schulden sind im Laufe der Zeit ge¬
macht worden. Was läßt sich außerdem nicht alles „machen": von Laden¬
besitzern, die ihren Kram auf die Straße stellen, von Bierwirten, die über die
Polizeistunde offen halten wollen (alle thun es), von Hausbesitzern, die ungern
hohe Steuern zahlen, und dergleichen? Es giebt untere Polizeibeamte, die
jährlich vierzig- bis fünfzigtausend Dollar Nebeneinnahmen haben; was mag
weiter oben „verdient" werden! So war denn Tammcmy-Hall, obwohl demo¬
kratisch, diesmal bereit, für den Republikaner Blaine zu stimmen, falls man
nur ihren Mann für die Mayorswahl unterstützte — ein Handel, der beide
Teile ehrt; auch Newyork ist eine Messe wert.

Nun ist aber weder der Tamnmny-Kandidat Great zum Bürgermeister
uoch ihr Vertrauensmann Blaine zum Präsidenten gewählt worden, und ihre
Macht ist stark erschüttert, wenn nicht gebrochen — für zwei Jahre.

Die Aufstellung des James Blaine Esq. als Kandidaten war von seiten der
republikanischen Partei weniger ein Mißgriff als ein Akt großartiger Naivität.
Man hielt die Zeit bereits für gekommen, um so etwas dem Lande bieten zu
können. Blaine galt schlechtweg sür bestechlich und genoß als „Mann, der mit



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[0447] Die letzte Präsidentenwahl in Nordamerika, ungemein regsam, stets zu Umtrieben geneigt, sind sie geborne Verschwörer und im Grunde ihres Herzens krasse Anarchisten, die am liebsten mit Dynamik ar¬ beiten. Rechnet man hierzu ihren religiösen Fanatismus, so ergiebt sich ein so unerquickliches Bild, daß man wirklich sogar für ihr nationales Unglück die Sympathie verliert, nachdem man sie sich erst in der Nähe betrachtet hat. Die Stadt Newyork haben die Jrishmen vollständig in der Hand, und Tausende und Abertausende von „Politikern" leben davon. Seitdem Tammany-Haiti, die mächtigste und bestorganisirte Loge, vor zehn Jnhren vom Newyorker Stadthaus Besitz ergriffen hat, bei welcher Gelegenheit die von den Vorgängern zu übergebenden Bücher charakteristischerweise in Rauch aufgingen oder am hellen Tage „gestohlen" wurden, ist dieses große Gemein¬ wesen nichts als eine fruchtbringende Domäne für irische Faullenzer. An der Spitze dieser Domäne steht der Mayor, der Bürgermeister. Seine Wahl findet aller zwei Jahre (diesmal zusammenfallend mit der Msotion) statt. Er hat sehr wichtige Befugnisse, u. a. das Vorschlagsrecht*) für den On^-Qontrollsr (Archiv und Dokumente), den Loinlnissioiiizr ok xublio vorks, einen höchst einflußreichen Posten, was flüssiges Geld anlangt, und außerdem für die Spitzen der Polizei¬ behörde, sodaß die Herren „Politiker," falls nur die richtigen Leute an obigen Stellen sitzen, in Newyork so ziemlich alles thun und lassen können, was ihnen beliebt: brandschatzen, erpressen, Vollmachten und Lizenzen erteilen, öffentliche Gelder stehlen u. s. w. Der jährliche Etat der Stadt Newyork beläuft sich auf fünfzig Millionen Dollar: zweihundert Millionen Dollar Schulden sind im Laufe der Zeit ge¬ macht worden. Was läßt sich außerdem nicht alles „machen": von Laden¬ besitzern, die ihren Kram auf die Straße stellen, von Bierwirten, die über die Polizeistunde offen halten wollen (alle thun es), von Hausbesitzern, die ungern hohe Steuern zahlen, und dergleichen? Es giebt untere Polizeibeamte, die jährlich vierzig- bis fünfzigtausend Dollar Nebeneinnahmen haben; was mag weiter oben „verdient" werden! So war denn Tammcmy-Hall, obwohl demo¬ kratisch, diesmal bereit, für den Republikaner Blaine zu stimmen, falls man nur ihren Mann für die Mayorswahl unterstützte — ein Handel, der beide Teile ehrt; auch Newyork ist eine Messe wert. Nun ist aber weder der Tamnmny-Kandidat Great zum Bürgermeister uoch ihr Vertrauensmann Blaine zum Präsidenten gewählt worden, und ihre Macht ist stark erschüttert, wenn nicht gebrochen — für zwei Jahre. Die Aufstellung des James Blaine Esq. als Kandidaten war von seiten der republikanischen Partei weniger ein Mißgriff als ein Akt großartiger Naivität. Man hielt die Zeit bereits für gekommen, um so etwas dem Lande bieten zu können. Blaine galt schlechtweg sür bestechlich und genoß als „Mann, der mit Die Aldermen wählen, aber immer den vom Mayor Präsentirten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/447>, abgerufen am 22.07.2024.