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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst.

gefährlicher Freidenker und wird von ihnen fortwährend verfolgt, sodaß sein
Leben aus einer Kette von Anfeindungen und Verleumdungen besteht. Auch
die Ungunst des Schicksals wird ihm in reichem Maße zuteil. Er wird seines
Amtes entsetzt, von Haus und Hof vertrieben; Weib und Kind stirbt ihm, von
allen Mitteln entblößt sieht er sich gezwungen, ein abenteuerliches Leben zu
beginnen, und muß als Korrektor, Hauslehrer, Vikar, Schriftsteller, Wcghittcr
und endlich als Gesellschafter eines reichen Herrn mühsam sein Dasein fristen.
Ein mäßiger Lvtteriegewinn läßt ihn endlich nach langen Leiden ein hinreichendes
Auskommen und die ersehnte Muße finden, sein großes Hauptwerk über die
Offenbarung zu vollenden.

Obwohl Nicolai im Laufe der Erzählung den ganzen damaligen Noman-
apparat in Bewegung setzte, wiederholten Überfall dnrch Räuber, Schiffbruch,
Gefangennahme durch holländische Seelenfänger, zahlreiche Übervortcilungeu
des Arglosen und Unerfahrenen dnrch Schurken aus alleu Ständen, ist es ihm
doch um die Handlung nicht im mindesten zu thun. Die Hauptsache sind ihm
die Unterhaltungen, die Sebaldus mit den Anhängern fast aller protestantischen
Glaubensrichtungen führt, welche in ihrer provinziellen Verschiedenheit vor¬
geführt werden. Immer ist der Zweck, die Heuchelei und Intoleranz der Geist¬
lichen in eine möglichst grelle Beleuchtung zu stellen und ihre Bildung als
höchst einseitig und beschränkt erscheine" zu lassen. Vielfach werden die Si¬
tuationen nur deshalb gewählt, um dasselbe Thema von eiuer neuen Seite noch
einmal behandeln zu können.

Mit der Geschichte des Sebaldus hat dann Nicolai noch die seiner Tochter
Marianne verbunden, welche als angebliche Französin in übliche Dienste tritt
und bald in ein Liebesverhältnis zu einem poetisch angehauchten Jüngling sich
einläßt, dessen Gattin sie nach Vesiehnng mancher Abenteuer, darunter mehr
facher Entführungen, wird. In der Geschichte Mariannens tritt glücklicherweise
die Handlung mehr in den Vordergrund, jn selbst an Ansätzen zu einer
psychologischen Motivirung fehlt es hier nicht. Doch hat Nicolai seiner satirischen
Stimmung auch in diesen Teilen des Romans Raum gegeben; sie richtet sich
gegen die Überhebung des Adels, verspottet dessen Gallomanie lind Ahnenstolz
und zieht die Sentimentalität der Zeit, die sich gern in schauerlicher Liebes-
tändelei erging, ins Lächerliche. Aber das alles geschieht mit Maß; die Satire
entspringt hier meist den verkehrten Handlungen der Leute; selten arten die
Gespräche, die sie führen, in so endlose moralische Abhandlungen aus, wie sie
in der Geschichte des Vaters immer wiederkehren. Der Leser verweilt daher
gern bei diesen Partien, welche in der That ein gewisses Talent für die Erzäh¬
lung verraten.

Nicolai war darauf bedacht, seinem Roman einen erhöhten Wert zu ver¬
leihen dadurch, daß er denselben mit einer Anzahl Illustrationen schmücken ließ.
Er wußte zu diesem Zwecke den beliebteste" Illustrator der damaligen Zeit, den


Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst.

gefährlicher Freidenker und wird von ihnen fortwährend verfolgt, sodaß sein
Leben aus einer Kette von Anfeindungen und Verleumdungen besteht. Auch
die Ungunst des Schicksals wird ihm in reichem Maße zuteil. Er wird seines
Amtes entsetzt, von Haus und Hof vertrieben; Weib und Kind stirbt ihm, von
allen Mitteln entblößt sieht er sich gezwungen, ein abenteuerliches Leben zu
beginnen, und muß als Korrektor, Hauslehrer, Vikar, Schriftsteller, Wcghittcr
und endlich als Gesellschafter eines reichen Herrn mühsam sein Dasein fristen.
Ein mäßiger Lvtteriegewinn läßt ihn endlich nach langen Leiden ein hinreichendes
Auskommen und die ersehnte Muße finden, sein großes Hauptwerk über die
Offenbarung zu vollenden.

Obwohl Nicolai im Laufe der Erzählung den ganzen damaligen Noman-
apparat in Bewegung setzte, wiederholten Überfall dnrch Räuber, Schiffbruch,
Gefangennahme durch holländische Seelenfänger, zahlreiche Übervortcilungeu
des Arglosen und Unerfahrenen dnrch Schurken aus alleu Ständen, ist es ihm
doch um die Handlung nicht im mindesten zu thun. Die Hauptsache sind ihm
die Unterhaltungen, die Sebaldus mit den Anhängern fast aller protestantischen
Glaubensrichtungen führt, welche in ihrer provinziellen Verschiedenheit vor¬
geführt werden. Immer ist der Zweck, die Heuchelei und Intoleranz der Geist¬
lichen in eine möglichst grelle Beleuchtung zu stellen und ihre Bildung als
höchst einseitig und beschränkt erscheine» zu lassen. Vielfach werden die Si¬
tuationen nur deshalb gewählt, um dasselbe Thema von eiuer neuen Seite noch
einmal behandeln zu können.

Mit der Geschichte des Sebaldus hat dann Nicolai noch die seiner Tochter
Marianne verbunden, welche als angebliche Französin in übliche Dienste tritt
und bald in ein Liebesverhältnis zu einem poetisch angehauchten Jüngling sich
einläßt, dessen Gattin sie nach Vesiehnng mancher Abenteuer, darunter mehr
facher Entführungen, wird. In der Geschichte Mariannens tritt glücklicherweise
die Handlung mehr in den Vordergrund, jn selbst an Ansätzen zu einer
psychologischen Motivirung fehlt es hier nicht. Doch hat Nicolai seiner satirischen
Stimmung auch in diesen Teilen des Romans Raum gegeben; sie richtet sich
gegen die Überhebung des Adels, verspottet dessen Gallomanie lind Ahnenstolz
und zieht die Sentimentalität der Zeit, die sich gern in schauerlicher Liebes-
tändelei erging, ins Lächerliche. Aber das alles geschieht mit Maß; die Satire
entspringt hier meist den verkehrten Handlungen der Leute; selten arten die
Gespräche, die sie führen, in so endlose moralische Abhandlungen aus, wie sie
in der Geschichte des Vaters immer wiederkehren. Der Leser verweilt daher
gern bei diesen Partien, welche in der That ein gewisses Talent für die Erzäh¬
lung verraten.

Nicolai war darauf bedacht, seinem Roman einen erhöhten Wert zu ver¬
leihen dadurch, daß er denselben mit einer Anzahl Illustrationen schmücken ließ.
Er wußte zu diesem Zwecke den beliebteste» Illustrator der damaligen Zeit, den


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[0422] Analekten zur Geschichte der neueren deutschen Kunst. gefährlicher Freidenker und wird von ihnen fortwährend verfolgt, sodaß sein Leben aus einer Kette von Anfeindungen und Verleumdungen besteht. Auch die Ungunst des Schicksals wird ihm in reichem Maße zuteil. Er wird seines Amtes entsetzt, von Haus und Hof vertrieben; Weib und Kind stirbt ihm, von allen Mitteln entblößt sieht er sich gezwungen, ein abenteuerliches Leben zu beginnen, und muß als Korrektor, Hauslehrer, Vikar, Schriftsteller, Wcghittcr und endlich als Gesellschafter eines reichen Herrn mühsam sein Dasein fristen. Ein mäßiger Lvtteriegewinn läßt ihn endlich nach langen Leiden ein hinreichendes Auskommen und die ersehnte Muße finden, sein großes Hauptwerk über die Offenbarung zu vollenden. Obwohl Nicolai im Laufe der Erzählung den ganzen damaligen Noman- apparat in Bewegung setzte, wiederholten Überfall dnrch Räuber, Schiffbruch, Gefangennahme durch holländische Seelenfänger, zahlreiche Übervortcilungeu des Arglosen und Unerfahrenen dnrch Schurken aus alleu Ständen, ist es ihm doch um die Handlung nicht im mindesten zu thun. Die Hauptsache sind ihm die Unterhaltungen, die Sebaldus mit den Anhängern fast aller protestantischen Glaubensrichtungen führt, welche in ihrer provinziellen Verschiedenheit vor¬ geführt werden. Immer ist der Zweck, die Heuchelei und Intoleranz der Geist¬ lichen in eine möglichst grelle Beleuchtung zu stellen und ihre Bildung als höchst einseitig und beschränkt erscheine» zu lassen. Vielfach werden die Si¬ tuationen nur deshalb gewählt, um dasselbe Thema von eiuer neuen Seite noch einmal behandeln zu können. Mit der Geschichte des Sebaldus hat dann Nicolai noch die seiner Tochter Marianne verbunden, welche als angebliche Französin in übliche Dienste tritt und bald in ein Liebesverhältnis zu einem poetisch angehauchten Jüngling sich einläßt, dessen Gattin sie nach Vesiehnng mancher Abenteuer, darunter mehr facher Entführungen, wird. In der Geschichte Mariannens tritt glücklicherweise die Handlung mehr in den Vordergrund, jn selbst an Ansätzen zu einer psychologischen Motivirung fehlt es hier nicht. Doch hat Nicolai seiner satirischen Stimmung auch in diesen Teilen des Romans Raum gegeben; sie richtet sich gegen die Überhebung des Adels, verspottet dessen Gallomanie lind Ahnenstolz und zieht die Sentimentalität der Zeit, die sich gern in schauerlicher Liebes- tändelei erging, ins Lächerliche. Aber das alles geschieht mit Maß; die Satire entspringt hier meist den verkehrten Handlungen der Leute; selten arten die Gespräche, die sie führen, in so endlose moralische Abhandlungen aus, wie sie in der Geschichte des Vaters immer wiederkehren. Der Leser verweilt daher gern bei diesen Partien, welche in der That ein gewisses Talent für die Erzäh¬ lung verraten. Nicolai war darauf bedacht, seinem Roman einen erhöhten Wert zu ver¬ leihen dadurch, daß er denselben mit einer Anzahl Illustrationen schmücken ließ. Er wußte zu diesem Zwecke den beliebteste» Illustrator der damaligen Zeit, den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/422>, abgerufen am 22.07.2024.