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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Mode im alten Griechenland.

der Sophokles-Statue des Laterans. Aber diese Tracht schlechtweg griechisch
zu nennen, ist ebenso falsch, wie wenn man, was freilich heutzutage gang und
gäbe ist, die sogenannte "Gretchentracht" schlechtweg "altdeutsch" nennt. Die¬
jenige Tracht, welche wir in den genannten Bildwerken finde", ist weder die
Tracht des ganzen Griechenlands noch die des gesamten griechischen Zeitalters;
sie ist vielmehr zunächst wesentlich attisch, wenn sie auch von Athen aus sich
weiterhin über das übrige Hellas verbreitet hat und allgemein geworden ist;
und sie ist zweitens zunächst der speziell sogenannten "klassischen" Epoche Athens,
der zweiten Hülste des fünften Jahrhunderts v. Chr., und der Folgezeit eigen,
hat sich aber in den vorhergehenden Jahrhunderten erst langsam und allmählich
aus einer ursprünglich gar sehr davon verschiednen Tracht zu jener harmonischen
Schönheit und Einfachheit entwickelt, welche wir heute uoch mit Recht an ihr
bewundern. Gehen wir nun der Entstehung dieser Tracht, beziehentlich ihre"
Vorläufern nach, soweit uns dies unsre Quellen verstatten.

Wir lassen dabei den Frauen den Vortritt -- sie sind es ja ganz be¬
sonders, welche sich von der Mode am meisten tyrannisiren lassen, und ihnen
ist auch wohl ganz wesentlich die Schuld daran beizumessen, daß deren Herr¬
schaft eine so unentrinnbare geworden ist.

Die ältesten Nachrichten, welche wir über die griechische Frauentracht besitzen,
verdanken wir den Gedichten Homers. Aber wenn die moderne Zeit sich daran
gewöhnt hat, sich Helena, Penelope und all die andern Gestalten des homerische"
Epos ungefähr so vorzustellen, wie der Griffel eines Flaxmnnn, Genelli, Preller
sie uns vor Augen geführt hat, so haben die Forschungen der neueren Zeit
die Unzulänglichkeit, den Anachronismus dieses Kostüms zur Genüge erwiesen.
Der Fehler -- wenn man künstlerische Freiheit so nennen dürfte -- ist
ungefähr der gleiche, wie wenn die Personen des Nibelungenliedes uns in der
Tracht des zehnten oder elften Jahrhunderts n. Chr. vorgeführt würden.
Wolfgang Helbig hat in seinen höchst lehrreichen Untcrsnchnnge" über das
homerische Epos") teils durch sorgfältige Erwägung der einschlägigen Stellen
des Dichters, teils durch Vergleichung der ältesten griechischen Denkmäler und
der orientalischen, sowie der altetruskischer Kunst, mit Evidenz nachgewiesen,
daß wir uns die Frauen jenes Zeitalters, welches Homer schildert, in einer
Kleidung zu denken haben, welche bei weitem mehr der Tracht des Orients als
der der späteren Epochen sich nähert. Der Peplos, welchen die homerischen
Frauen trugen, war darnach el" gemähtes Kleid (nicht ein kleidartig um den
Körper gelegtes Tuch), ein Chiton mit Öffnungen für Hals und Arme von
dem Schnitt, welchen wir noch auf den ältesten Vasen finden. Am oberen
Teile des Körpers bis zum Gürtel lag derselbe ganz eng dem Körper an;
unterhalb des Gürtels siel er faltenlos und ebenfalls sehr eng bis zu den



W. Helbig, Tas homerische Epos als den Denkmiilerm erläutert. Leipzig, 1884.
Grenzvowi I. 1885. i>1
Die Mode im alten Griechenland.

der Sophokles-Statue des Laterans. Aber diese Tracht schlechtweg griechisch
zu nennen, ist ebenso falsch, wie wenn man, was freilich heutzutage gang und
gäbe ist, die sogenannte „Gretchentracht" schlechtweg „altdeutsch" nennt. Die¬
jenige Tracht, welche wir in den genannten Bildwerken finde», ist weder die
Tracht des ganzen Griechenlands noch die des gesamten griechischen Zeitalters;
sie ist vielmehr zunächst wesentlich attisch, wenn sie auch von Athen aus sich
weiterhin über das übrige Hellas verbreitet hat und allgemein geworden ist;
und sie ist zweitens zunächst der speziell sogenannten „klassischen" Epoche Athens,
der zweiten Hülste des fünften Jahrhunderts v. Chr., und der Folgezeit eigen,
hat sich aber in den vorhergehenden Jahrhunderten erst langsam und allmählich
aus einer ursprünglich gar sehr davon verschiednen Tracht zu jener harmonischen
Schönheit und Einfachheit entwickelt, welche wir heute uoch mit Recht an ihr
bewundern. Gehen wir nun der Entstehung dieser Tracht, beziehentlich ihre»
Vorläufern nach, soweit uns dies unsre Quellen verstatten.

Wir lassen dabei den Frauen den Vortritt — sie sind es ja ganz be¬
sonders, welche sich von der Mode am meisten tyrannisiren lassen, und ihnen
ist auch wohl ganz wesentlich die Schuld daran beizumessen, daß deren Herr¬
schaft eine so unentrinnbare geworden ist.

Die ältesten Nachrichten, welche wir über die griechische Frauentracht besitzen,
verdanken wir den Gedichten Homers. Aber wenn die moderne Zeit sich daran
gewöhnt hat, sich Helena, Penelope und all die andern Gestalten des homerische»
Epos ungefähr so vorzustellen, wie der Griffel eines Flaxmnnn, Genelli, Preller
sie uns vor Augen geführt hat, so haben die Forschungen der neueren Zeit
die Unzulänglichkeit, den Anachronismus dieses Kostüms zur Genüge erwiesen.
Der Fehler — wenn man künstlerische Freiheit so nennen dürfte — ist
ungefähr der gleiche, wie wenn die Personen des Nibelungenliedes uns in der
Tracht des zehnten oder elften Jahrhunderts n. Chr. vorgeführt würden.
Wolfgang Helbig hat in seinen höchst lehrreichen Untcrsnchnnge» über das
homerische Epos") teils durch sorgfältige Erwägung der einschlägigen Stellen
des Dichters, teils durch Vergleichung der ältesten griechischen Denkmäler und
der orientalischen, sowie der altetruskischer Kunst, mit Evidenz nachgewiesen,
daß wir uns die Frauen jenes Zeitalters, welches Homer schildert, in einer
Kleidung zu denken haben, welche bei weitem mehr der Tracht des Orients als
der der späteren Epochen sich nähert. Der Peplos, welchen die homerischen
Frauen trugen, war darnach el» gemähtes Kleid (nicht ein kleidartig um den
Körper gelegtes Tuch), ein Chiton mit Öffnungen für Hals und Arme von
dem Schnitt, welchen wir noch auf den ältesten Vasen finden. Am oberen
Teile des Körpers bis zum Gürtel lag derselbe ganz eng dem Körper an;
unterhalb des Gürtels siel er faltenlos und ebenfalls sehr eng bis zu den



W. Helbig, Tas homerische Epos als den Denkmiilerm erläutert. Leipzig, 1884.
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[0413] Die Mode im alten Griechenland. der Sophokles-Statue des Laterans. Aber diese Tracht schlechtweg griechisch zu nennen, ist ebenso falsch, wie wenn man, was freilich heutzutage gang und gäbe ist, die sogenannte „Gretchentracht" schlechtweg „altdeutsch" nennt. Die¬ jenige Tracht, welche wir in den genannten Bildwerken finde», ist weder die Tracht des ganzen Griechenlands noch die des gesamten griechischen Zeitalters; sie ist vielmehr zunächst wesentlich attisch, wenn sie auch von Athen aus sich weiterhin über das übrige Hellas verbreitet hat und allgemein geworden ist; und sie ist zweitens zunächst der speziell sogenannten „klassischen" Epoche Athens, der zweiten Hülste des fünften Jahrhunderts v. Chr., und der Folgezeit eigen, hat sich aber in den vorhergehenden Jahrhunderten erst langsam und allmählich aus einer ursprünglich gar sehr davon verschiednen Tracht zu jener harmonischen Schönheit und Einfachheit entwickelt, welche wir heute uoch mit Recht an ihr bewundern. Gehen wir nun der Entstehung dieser Tracht, beziehentlich ihre» Vorläufern nach, soweit uns dies unsre Quellen verstatten. Wir lassen dabei den Frauen den Vortritt — sie sind es ja ganz be¬ sonders, welche sich von der Mode am meisten tyrannisiren lassen, und ihnen ist auch wohl ganz wesentlich die Schuld daran beizumessen, daß deren Herr¬ schaft eine so unentrinnbare geworden ist. Die ältesten Nachrichten, welche wir über die griechische Frauentracht besitzen, verdanken wir den Gedichten Homers. Aber wenn die moderne Zeit sich daran gewöhnt hat, sich Helena, Penelope und all die andern Gestalten des homerische» Epos ungefähr so vorzustellen, wie der Griffel eines Flaxmnnn, Genelli, Preller sie uns vor Augen geführt hat, so haben die Forschungen der neueren Zeit die Unzulänglichkeit, den Anachronismus dieses Kostüms zur Genüge erwiesen. Der Fehler — wenn man künstlerische Freiheit so nennen dürfte — ist ungefähr der gleiche, wie wenn die Personen des Nibelungenliedes uns in der Tracht des zehnten oder elften Jahrhunderts n. Chr. vorgeführt würden. Wolfgang Helbig hat in seinen höchst lehrreichen Untcrsnchnnge» über das homerische Epos") teils durch sorgfältige Erwägung der einschlägigen Stellen des Dichters, teils durch Vergleichung der ältesten griechischen Denkmäler und der orientalischen, sowie der altetruskischer Kunst, mit Evidenz nachgewiesen, daß wir uns die Frauen jenes Zeitalters, welches Homer schildert, in einer Kleidung zu denken haben, welche bei weitem mehr der Tracht des Orients als der der späteren Epochen sich nähert. Der Peplos, welchen die homerischen Frauen trugen, war darnach el» gemähtes Kleid (nicht ein kleidartig um den Körper gelegtes Tuch), ein Chiton mit Öffnungen für Hals und Arme von dem Schnitt, welchen wir noch auf den ältesten Vasen finden. Am oberen Teile des Körpers bis zum Gürtel lag derselbe ganz eng dem Körper an; unterhalb des Gürtels siel er faltenlos und ebenfalls sehr eng bis zu den W. Helbig, Tas homerische Epos als den Denkmiilerm erläutert. Leipzig, 1884. Grenzvowi I. 1885. i>1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/413>, abgerufen am 22.07.2024.