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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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manu, sagt nun der Berliner Pvlizeibericht,") der inzwischen vielleicht Hunderte
von ähnlichen Übertretungen zur Anzeige zu bringen gehabt hat, erinnert sich
jetzt kaum noch der Einzelheiten des Falles, bei dem frechen Leugnen und ent-
schiednen Auftreten des Angeschuldigte" verliert seine Aussage wohl auch an
Bestimmtheit; der Richter redet ihm wohl auch ins Gewissen, ob er sich wirk¬
lich geuau des Falles erinnere, ob nicht doch ein Irrtum, eine Verwechslung
in der Person möglich sei. Wird der Schutzmann dadurch unsicher, will er
sich mit einem falschen Eide nicht belasten, giebt er vielleicht zu, daß er sich
jetzt nach so lauger Zeit nicht mehr mit voller Bestimmtheit der Sache er¬
innere -- dann wird der Angeklagte schließlich freigesprochen." Nun könnte
mau sagen, der Polizeibeamte könne sich auf das Geständnis des Angeklagten
zu den Pulizeiakten oder auf die vou ihm selbst an seine vorgesetzte Behörde
erstattete Anzeige oder die daselbst abgegebene Aussage berufen. Damit kommt
er aber nicht durch; denn da die Polizeibehörde Partei ist, so entbehrt das bei
ihr aufgenommene Protokoll jeder Glaubwürdigkeit, und nach 8 252 der Straf¬
prozeßordnung darf eine Anzeige nie und kann ein früheres Protokoll zwar
zur Schärfung des Gedächtnisses des Zeugen verlesen werden, es soll aber von
einer solchen Verlesung möglichst wenig Gebrauch gemacht werden,"") es ^kommt
also ganz ans das Ermessen des Richters an, ob er eine Schärfung des Ge¬
dächtnisses für angebracht hält oder nicht. Drängt sich ihm dabei bewußt<oder
unbewußt die Erinnerung daran ans, daß nach der Begründung zum Gerichts-
verfassnngsgesctze die Sicherheitspolizei häufig der gesetzlichen Haltung entbehre,
so wird er eine Schärfung des Gedächtnisses nicht für nötig halten. Eine
Reihe von Dingen kann zur Sprache kommen, welche über die polizeilichen
Vorverhandlungen hinausgehen. Der Exekutivbeamte, welcher mit der Person
eines Übelthäters beschäftigt ist, hat nicht immer Zeit, ans alle möglichen
Zwischenfragen, welche ihm nach Monaten noch vorgelegt werden können, sich
einzurichten, während er bei einer bald nach dem Vorfalle stattfindenden Ver¬
handlung alles noch vollständig im Gedächtnis hat. So kann er später uicht
mehr die einzelnen Momente angeben, aus denen der Grad der Angetrunken-
heit des Angeschuldigten erhellt (starke Angetrunkenheit ist ja leider immer noch
ein Mildernngs- oder geradezu Strafnnsschlicßnngsgrnnd), aus denen erhellt,
daß ein Lärm "ruhestörcnd" gewesen sei, eine Tierquälerei Ärgernis erregt
habe, daß eine Straße wirklich versperrt gewesen sei, daß der Angeschuldigte zu
rasch gefahren sei und dergleichen. Solche Zwischenfragen wird aber der An-
geklagte mit Vorliebe zur Sprache bringen. Er hat sehr bald heraus, daß der
ihm gegenüber auftretende Pvlizeibcnmte kaum die Stellung eines Zeugen, weit
eher die einer Partei zugewiesen erhält, er kann dabei die Sache anf das ärgste




") A. n. O., S. 28.
Schwarze a, n. O., S. 41^!-414 und S. 401.

manu, sagt nun der Berliner Pvlizeibericht,") der inzwischen vielleicht Hunderte
von ähnlichen Übertretungen zur Anzeige zu bringen gehabt hat, erinnert sich
jetzt kaum noch der Einzelheiten des Falles, bei dem frechen Leugnen und ent-
schiednen Auftreten des Angeschuldigte» verliert seine Aussage wohl auch an
Bestimmtheit; der Richter redet ihm wohl auch ins Gewissen, ob er sich wirk¬
lich geuau des Falles erinnere, ob nicht doch ein Irrtum, eine Verwechslung
in der Person möglich sei. Wird der Schutzmann dadurch unsicher, will er
sich mit einem falschen Eide nicht belasten, giebt er vielleicht zu, daß er sich
jetzt nach so lauger Zeit nicht mehr mit voller Bestimmtheit der Sache er¬
innere — dann wird der Angeklagte schließlich freigesprochen." Nun könnte
mau sagen, der Polizeibeamte könne sich auf das Geständnis des Angeklagten
zu den Pulizeiakten oder auf die vou ihm selbst an seine vorgesetzte Behörde
erstattete Anzeige oder die daselbst abgegebene Aussage berufen. Damit kommt
er aber nicht durch; denn da die Polizeibehörde Partei ist, so entbehrt das bei
ihr aufgenommene Protokoll jeder Glaubwürdigkeit, und nach 8 252 der Straf¬
prozeßordnung darf eine Anzeige nie und kann ein früheres Protokoll zwar
zur Schärfung des Gedächtnisses des Zeugen verlesen werden, es soll aber von
einer solchen Verlesung möglichst wenig Gebrauch gemacht werden,"") es ^kommt
also ganz ans das Ermessen des Richters an, ob er eine Schärfung des Ge¬
dächtnisses für angebracht hält oder nicht. Drängt sich ihm dabei bewußt<oder
unbewußt die Erinnerung daran ans, daß nach der Begründung zum Gerichts-
verfassnngsgesctze die Sicherheitspolizei häufig der gesetzlichen Haltung entbehre,
so wird er eine Schärfung des Gedächtnisses nicht für nötig halten. Eine
Reihe von Dingen kann zur Sprache kommen, welche über die polizeilichen
Vorverhandlungen hinausgehen. Der Exekutivbeamte, welcher mit der Person
eines Übelthäters beschäftigt ist, hat nicht immer Zeit, ans alle möglichen
Zwischenfragen, welche ihm nach Monaten noch vorgelegt werden können, sich
einzurichten, während er bei einer bald nach dem Vorfalle stattfindenden Ver¬
handlung alles noch vollständig im Gedächtnis hat. So kann er später uicht
mehr die einzelnen Momente angeben, aus denen der Grad der Angetrunken-
heit des Angeschuldigten erhellt (starke Angetrunkenheit ist ja leider immer noch
ein Mildernngs- oder geradezu Strafnnsschlicßnngsgrnnd), aus denen erhellt,
daß ein Lärm „ruhestörcnd" gewesen sei, eine Tierquälerei Ärgernis erregt
habe, daß eine Straße wirklich versperrt gewesen sei, daß der Angeschuldigte zu
rasch gefahren sei und dergleichen. Solche Zwischenfragen wird aber der An-
geklagte mit Vorliebe zur Sprache bringen. Er hat sehr bald heraus, daß der
ihm gegenüber auftretende Pvlizeibcnmte kaum die Stellung eines Zeugen, weit
eher die einer Partei zugewiesen erhält, er kann dabei die Sache anf das ärgste




") A. n. O., S. 28.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/404>, abgerufen am 23.07.2024.