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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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anzugreifen und ihre Pläne sofort zur Ausführung zu bringen. Es war natür¬
lich, daß solche Bestrebungen von dem Bürgertum (bourAsoiküö), welches sich
bei dem System des Geschehcnlassens, des Is-isssr "Hör, des vlmqu'un xonr
soi, oliÄciu'un ÄiW soi, der 1ihrs8 trÄNsaoticmL vorerst noch Wohl befand, ohne
viel Umstände niedergeschlagen wurden.

Gleichwohl faßte der sozialistische Grundgedanke Wurzel, daß der Mensch
in unsern Kulturzuständen nur als Glied der Gesellschaft denkbar sei, daß er
nicht bloß Pflichten gegen dieselbe, sondern auch Rechte habe, oder wenigstens
daß die Gesellschaft Pflichten gegen ihre wirtschaftlich ohnmächtigen Mitglieder
zu erfüllen habe, wie sie sich ja auch zum Schutze vou Unmündigen und Geistes¬
schwachen seit langen Zeiten verbunden hält. Man begann das herrschende wirt¬
schaftliche System auf seine Grundlagen zu untersuchen und damit den Weg zu
betreten, der, wie wir oben sahen, bei jeder induktiven Wissenschaft von Zeit zu
Zeit erforderlich ist, nämlich den Weg erneuerter Prüfung der ursprünglichen
Beobachtungen und der daraus abgeleiteten Gesetze. Dieser Weg allein kann
zu einem praktischen Ziele führen. Denn es folgt die That dem Gedanken, nicht
der Gedanke der That. So oft die Menschheit zu einer weltbewegenden That
geschritten ist, war derselbe vorher geistig durchgearbeitet und vollendet. Die
Geschichte bewegt sich nicht in Sprüngen, die, so oft sie versucht werdeu, auch
wieder zurückgethan werden müssen, sondern in Evolutionen, die zwar manchmal
einen eruptiven Charakter annehmen, wenn sie einen gewaltigen Widerstand
sprengen müssen, sich aber immer auf eine vorausgegangene und wenigstens
nahezu zum Abschluß gekommene Geistesarbeit stützen.

Unsre Zeit ist mitten in dieser Arbeit begriffen. Selbst die schöne Lite¬
ratur nud die bildenden Künste haben ihre Mitwirkung geliehen, indem sie sich
mit unverkennbarer Vorliebe dem Realismus oder, wie es die Italiener noch
besser ausdrücken, dem Verismus zugewendet haben; sie reißen die Schleier
weg, welche die Blößen unsrer Gesellschaft verdecken, und zeigen deren physische
und psychische Eiterbeulen mit furchtloser Wahrhaftigkeit. Diese Richtung, so
beklagenswert sie in ästhetischer Hinsicht sein mag, trügt doch mächtig dazu bei,
die Schäden in den weitesten Kreisen erkennen zu lassen und die Geister auf
die Notwendigkeit durchgreifender Abhilfe aufmerksam zu machen. Daß aber
jene Geistesarbeit noch weit entfernt selbst von einem nur vorläufigen Abschlüsse
ist, dafür zeugt am besten die absolute Unfähigkeit der sozialdemokratischen Partei,
irgendein auch nur scheinbar positives Programm aufzustellen. Andrerseits aber
beweist die Existenz dieser Partei und ihr fortwährendes Wachstum die dringende
Notwendigkeit der Durchführung jener Geistesarbeit, welche die Reform der
Gesellschaft vorzubereiten hat.

Die Sozialdemokratie hat längst über die eigentlichen Arbeiterkreise hinaus¬
gegriffen und reicht bis hoch in die mittlern bürgerlichen Schichten, die zwar
keineswegs gesonnen sind, Eigentum und Familie preiszugeben, wohl aber dem


anzugreifen und ihre Pläne sofort zur Ausführung zu bringen. Es war natür¬
lich, daß solche Bestrebungen von dem Bürgertum (bourAsoiküö), welches sich
bei dem System des Geschehcnlassens, des Is-isssr »Hör, des vlmqu'un xonr
soi, oliÄciu'un ÄiW soi, der 1ihrs8 trÄNsaoticmL vorerst noch Wohl befand, ohne
viel Umstände niedergeschlagen wurden.

Gleichwohl faßte der sozialistische Grundgedanke Wurzel, daß der Mensch
in unsern Kulturzuständen nur als Glied der Gesellschaft denkbar sei, daß er
nicht bloß Pflichten gegen dieselbe, sondern auch Rechte habe, oder wenigstens
daß die Gesellschaft Pflichten gegen ihre wirtschaftlich ohnmächtigen Mitglieder
zu erfüllen habe, wie sie sich ja auch zum Schutze vou Unmündigen und Geistes¬
schwachen seit langen Zeiten verbunden hält. Man begann das herrschende wirt¬
schaftliche System auf seine Grundlagen zu untersuchen und damit den Weg zu
betreten, der, wie wir oben sahen, bei jeder induktiven Wissenschaft von Zeit zu
Zeit erforderlich ist, nämlich den Weg erneuerter Prüfung der ursprünglichen
Beobachtungen und der daraus abgeleiteten Gesetze. Dieser Weg allein kann
zu einem praktischen Ziele führen. Denn es folgt die That dem Gedanken, nicht
der Gedanke der That. So oft die Menschheit zu einer weltbewegenden That
geschritten ist, war derselbe vorher geistig durchgearbeitet und vollendet. Die
Geschichte bewegt sich nicht in Sprüngen, die, so oft sie versucht werdeu, auch
wieder zurückgethan werden müssen, sondern in Evolutionen, die zwar manchmal
einen eruptiven Charakter annehmen, wenn sie einen gewaltigen Widerstand
sprengen müssen, sich aber immer auf eine vorausgegangene und wenigstens
nahezu zum Abschluß gekommene Geistesarbeit stützen.

Unsre Zeit ist mitten in dieser Arbeit begriffen. Selbst die schöne Lite¬
ratur nud die bildenden Künste haben ihre Mitwirkung geliehen, indem sie sich
mit unverkennbarer Vorliebe dem Realismus oder, wie es die Italiener noch
besser ausdrücken, dem Verismus zugewendet haben; sie reißen die Schleier
weg, welche die Blößen unsrer Gesellschaft verdecken, und zeigen deren physische
und psychische Eiterbeulen mit furchtloser Wahrhaftigkeit. Diese Richtung, so
beklagenswert sie in ästhetischer Hinsicht sein mag, trügt doch mächtig dazu bei,
die Schäden in den weitesten Kreisen erkennen zu lassen und die Geister auf
die Notwendigkeit durchgreifender Abhilfe aufmerksam zu machen. Daß aber
jene Geistesarbeit noch weit entfernt selbst von einem nur vorläufigen Abschlüsse
ist, dafür zeugt am besten die absolute Unfähigkeit der sozialdemokratischen Partei,
irgendein auch nur scheinbar positives Programm aufzustellen. Andrerseits aber
beweist die Existenz dieser Partei und ihr fortwährendes Wachstum die dringende
Notwendigkeit der Durchführung jener Geistesarbeit, welche die Reform der
Gesellschaft vorzubereiten hat.

Die Sozialdemokratie hat längst über die eigentlichen Arbeiterkreise hinaus¬
gegriffen und reicht bis hoch in die mittlern bürgerlichen Schichten, die zwar
keineswegs gesonnen sind, Eigentum und Familie preiszugeben, wohl aber dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/392>, abgerufen am 23.07.2024.