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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision mcmchesterlichor Lohren.

eigner Unfall, so dürfen wir doch seinen Untergang nicht herbeiführen, um
diesem geringen, eignen Unfall vorzubeugen, ja nicht einmal um unsern eignen
Untergang zu verhüten. Wir müssen hier, wie in allen andern Fällen, uus
selbst nicht so sehr in dem Lichte betrachten, in welchem wir vou Natur aus
selbst erscheinen, als vielmehr in demjenigen, in welchem wir audern vorkommen.
Mag es auch wahr sein, daß jeder Mensch sich im Herzen allen andern
Menschen vorzieht, er darf es den Menschen doch nicht ins Angesicht gestehen.
Er fühlt, daß sie in diesem Vorzüge nie mit ihm übereinstimmen können. Will er
so verfahren, wie denn jeder Mensch so zu verfahren dringend wünscht, daß
der unparteiische Zuschauer die Beweggründe billigen möge, so muß er bei
dieser, wie bei jeder andern Gelegenheit die Anmaßungen der Eigenliebe dämpfen
und sie zu etwas herabstimmen, was andre Menschen ihm nachempfinden können.
Im Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Beförderung mag er so stark rennen,
wie er kann, und jeden Nerv und jede Muskel anstrengen, um allen seineu
Mitbewerbern den Rang abzulaufen. Sollte er aber irgendeinen von ihnen
uiederrennen, so hat die Nachsicht des Zuschauers durchaus ein Ende. Er
beeinträchtigt die Gleichheit des Spiels, ein Verfahren, das kein Mensch gut¬
heißen kaun."

Mag nun Adam Smith die Versöhnung der gegensätzlichen Elemente in
den menschlichen Handlungen mit oder ohne Absicht unterlassen haben, so viel
ist gewiß, daß die Menschheit die Lücke empfunden hat, welche er gelassen. Es
regten sich zuerst die gedrückten, leidenden Klassen, die Armen, die Arbeiter,
denen das neue Wirtschaftssystem nicht die gehoffte Verbesserung ihrer Lage
brachte. Was konnte es ihnen frommen, daß die Flüsse sich mit Dampfschiffen,
die Länder sich mit Eisenbahnen bedeckten, daß Fabriken entstanden, welche die
nützlichsten und kostbarsten Dinge in unglaublichen Massen erzeugten, daß Wohl¬
stand in vielen, außerordentlicher Reichtum in einzelnen Händen angehäuft
wurden, daß Kunst und Wissenschaft blühten, daß täglich neue Entdeckungen und
Erfindungen gemacht wurden, welche Glück und Behagen der Menschen zu
fordern verhießen -- was konnte ihnen dies alles frommen, wenn sie von dem
Mitgenusse ausgeschlossen blieben, ja wenn sich ihre Lage verschlimmerte, und
wenn es unbestreitbar war, daß diejenigen, deren Hände allen Reichtum erzeugen
oder doch wesentlich dazu beitragen, in elenden Hütten wohnen, bei aufreibender
Arbeit sich und die Ihrigen nur mangelhaft ernähren können, daß ihre Kinder
"an trockenen Brüsten trügerische Nahrung saugen," daß sie ihre Jugend in
ungesunden Fabrikräumeu bei schädlicher Arbeit verzehren müssen, und daß die
Hoffnung des Alters sich auf die zweifelhafte Aussicht beschränkt, von dem Auge
mildthätiger Menschen bemerkt zu werden? Männer wie Owen, Cabet, Fourier,
Se. Simon, Enfantin, Bciyard, Proudhon und andre erhoben ihre Stimme
und ersannen halb gelehrte, halb phantastische Pläne zur Umgestaltung der Gesell¬
schaft. Sie scheuten sich nicht, die Grundlagen derselben, Eigentum und Familie,


Zur Revision mcmchesterlichor Lohren.

eigner Unfall, so dürfen wir doch seinen Untergang nicht herbeiführen, um
diesem geringen, eignen Unfall vorzubeugen, ja nicht einmal um unsern eignen
Untergang zu verhüten. Wir müssen hier, wie in allen andern Fällen, uus
selbst nicht so sehr in dem Lichte betrachten, in welchem wir vou Natur aus
selbst erscheinen, als vielmehr in demjenigen, in welchem wir audern vorkommen.
Mag es auch wahr sein, daß jeder Mensch sich im Herzen allen andern
Menschen vorzieht, er darf es den Menschen doch nicht ins Angesicht gestehen.
Er fühlt, daß sie in diesem Vorzüge nie mit ihm übereinstimmen können. Will er
so verfahren, wie denn jeder Mensch so zu verfahren dringend wünscht, daß
der unparteiische Zuschauer die Beweggründe billigen möge, so muß er bei
dieser, wie bei jeder andern Gelegenheit die Anmaßungen der Eigenliebe dämpfen
und sie zu etwas herabstimmen, was andre Menschen ihm nachempfinden können.
Im Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Beförderung mag er so stark rennen,
wie er kann, und jeden Nerv und jede Muskel anstrengen, um allen seineu
Mitbewerbern den Rang abzulaufen. Sollte er aber irgendeinen von ihnen
uiederrennen, so hat die Nachsicht des Zuschauers durchaus ein Ende. Er
beeinträchtigt die Gleichheit des Spiels, ein Verfahren, das kein Mensch gut¬
heißen kaun."

Mag nun Adam Smith die Versöhnung der gegensätzlichen Elemente in
den menschlichen Handlungen mit oder ohne Absicht unterlassen haben, so viel
ist gewiß, daß die Menschheit die Lücke empfunden hat, welche er gelassen. Es
regten sich zuerst die gedrückten, leidenden Klassen, die Armen, die Arbeiter,
denen das neue Wirtschaftssystem nicht die gehoffte Verbesserung ihrer Lage
brachte. Was konnte es ihnen frommen, daß die Flüsse sich mit Dampfschiffen,
die Länder sich mit Eisenbahnen bedeckten, daß Fabriken entstanden, welche die
nützlichsten und kostbarsten Dinge in unglaublichen Massen erzeugten, daß Wohl¬
stand in vielen, außerordentlicher Reichtum in einzelnen Händen angehäuft
wurden, daß Kunst und Wissenschaft blühten, daß täglich neue Entdeckungen und
Erfindungen gemacht wurden, welche Glück und Behagen der Menschen zu
fordern verhießen — was konnte ihnen dies alles frommen, wenn sie von dem
Mitgenusse ausgeschlossen blieben, ja wenn sich ihre Lage verschlimmerte, und
wenn es unbestreitbar war, daß diejenigen, deren Hände allen Reichtum erzeugen
oder doch wesentlich dazu beitragen, in elenden Hütten wohnen, bei aufreibender
Arbeit sich und die Ihrigen nur mangelhaft ernähren können, daß ihre Kinder
„an trockenen Brüsten trügerische Nahrung saugen," daß sie ihre Jugend in
ungesunden Fabrikräumeu bei schädlicher Arbeit verzehren müssen, und daß die
Hoffnung des Alters sich auf die zweifelhafte Aussicht beschränkt, von dem Auge
mildthätiger Menschen bemerkt zu werden? Männer wie Owen, Cabet, Fourier,
Se. Simon, Enfantin, Bciyard, Proudhon und andre erhoben ihre Stimme
und ersannen halb gelehrte, halb phantastische Pläne zur Umgestaltung der Gesell¬
schaft. Sie scheuten sich nicht, die Grundlagen derselben, Eigentum und Familie,


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[0391] Zur Revision mcmchesterlichor Lohren. eigner Unfall, so dürfen wir doch seinen Untergang nicht herbeiführen, um diesem geringen, eignen Unfall vorzubeugen, ja nicht einmal um unsern eignen Untergang zu verhüten. Wir müssen hier, wie in allen andern Fällen, uus selbst nicht so sehr in dem Lichte betrachten, in welchem wir vou Natur aus selbst erscheinen, als vielmehr in demjenigen, in welchem wir audern vorkommen. Mag es auch wahr sein, daß jeder Mensch sich im Herzen allen andern Menschen vorzieht, er darf es den Menschen doch nicht ins Angesicht gestehen. Er fühlt, daß sie in diesem Vorzüge nie mit ihm übereinstimmen können. Will er so verfahren, wie denn jeder Mensch so zu verfahren dringend wünscht, daß der unparteiische Zuschauer die Beweggründe billigen möge, so muß er bei dieser, wie bei jeder andern Gelegenheit die Anmaßungen der Eigenliebe dämpfen und sie zu etwas herabstimmen, was andre Menschen ihm nachempfinden können. Im Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Beförderung mag er so stark rennen, wie er kann, und jeden Nerv und jede Muskel anstrengen, um allen seineu Mitbewerbern den Rang abzulaufen. Sollte er aber irgendeinen von ihnen uiederrennen, so hat die Nachsicht des Zuschauers durchaus ein Ende. Er beeinträchtigt die Gleichheit des Spiels, ein Verfahren, das kein Mensch gut¬ heißen kaun." Mag nun Adam Smith die Versöhnung der gegensätzlichen Elemente in den menschlichen Handlungen mit oder ohne Absicht unterlassen haben, so viel ist gewiß, daß die Menschheit die Lücke empfunden hat, welche er gelassen. Es regten sich zuerst die gedrückten, leidenden Klassen, die Armen, die Arbeiter, denen das neue Wirtschaftssystem nicht die gehoffte Verbesserung ihrer Lage brachte. Was konnte es ihnen frommen, daß die Flüsse sich mit Dampfschiffen, die Länder sich mit Eisenbahnen bedeckten, daß Fabriken entstanden, welche die nützlichsten und kostbarsten Dinge in unglaublichen Massen erzeugten, daß Wohl¬ stand in vielen, außerordentlicher Reichtum in einzelnen Händen angehäuft wurden, daß Kunst und Wissenschaft blühten, daß täglich neue Entdeckungen und Erfindungen gemacht wurden, welche Glück und Behagen der Menschen zu fordern verhießen — was konnte ihnen dies alles frommen, wenn sie von dem Mitgenusse ausgeschlossen blieben, ja wenn sich ihre Lage verschlimmerte, und wenn es unbestreitbar war, daß diejenigen, deren Hände allen Reichtum erzeugen oder doch wesentlich dazu beitragen, in elenden Hütten wohnen, bei aufreibender Arbeit sich und die Ihrigen nur mangelhaft ernähren können, daß ihre Kinder „an trockenen Brüsten trügerische Nahrung saugen," daß sie ihre Jugend in ungesunden Fabrikräumeu bei schädlicher Arbeit verzehren müssen, und daß die Hoffnung des Alters sich auf die zweifelhafte Aussicht beschränkt, von dem Auge mildthätiger Menschen bemerkt zu werden? Männer wie Owen, Cabet, Fourier, Se. Simon, Enfantin, Bciyard, Proudhon und andre erhoben ihre Stimme und ersannen halb gelehrte, halb phantastische Pläne zur Umgestaltung der Gesell¬ schaft. Sie scheuten sich nicht, die Grundlagen derselben, Eigentum und Familie,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/391>, abgerufen am 22.07.2024.