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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Die Hand her, Konrad (er hatte den Namen von einem andern erfragt),
sehen Sie mich an! Sie wissen, mir geben uns alle viel Mühe um unser heu¬
tiges Fest, und Sie wollen es stören?

Nein! sagte der andre mit dünner Stimme.

Das dächte ich selbst! erwiederte der "blasse Heinrich," es würde auch
schade sein und Ihnen später leid thun, nicht?

Konrad sagte nichts darauf, sondern griff mit seinen langen feinen Musikus-
fingern in das Gefüge der Orgel; anfänglich war er ein wenig unsicher, bald
aber gewann er die Fassung wieder und wies mit Geläufigkeit alle Geheimnisse
des Instrumentes vor, bis Barbara selbst sich daran setzte und nach einigem
Hinundhertasten sagte: Jetzt weiß ich genug.

Als dann die schöne Dame sich erhob, dem Gymnasiasten dankte, dem eifrig
hcrangctretenen Direktor erklärte, sie sei durch des Schülers Explikation zur
Übernahme des Begleitspicls endgiltig entschlossen, und der Direktor die Be¬
gnadigung aussprach, war alle Flegelei aus dem sekundärer gewichen, und er
mußte sich eiligst davonmachen, weil sich in seinen Augen etwas regte, was er
um alles in der Welt nicht hätte zeigen mögen.

Inzwischen hatte sich der Saal ganz gefüllt, der Chor trat ein, und die
Thür schloß sich. Alles war auf dem Platze, der Dirigent vor dein Pulte,
Barbara, die sich noch eilig ihres Hutes und des Herbstmantels entledigt hatte,
saß in ihrem schönen gclbseidnen Kleide an der Orgel. In weitem Halbbögen
standen die festlich geschmückten Sänger und Sängerinnen, alle voll heiligen
Ernstes und von dem Bewußtsein des Liebeswerkes verschönt, das sie einte.

Der nun zum Vortrag gebrachte Psalm gelang aufs vortrefflichste und
schuf unter den Versammelten die für die Fcsthcmdlung empfänglichste Stimmung.
Der Direktor bestieg denn auch wohlgemut das Katheder, schlug ein Heft auf
und las seine statistische Arbeit vor, die allerseits lebhaftes Interesse erregte.
Man erfuhr daraus Zahlenverhältnisse ans den fünfzig Schuljahren und That¬
sachen, die das allmähliche Heranwachsen veranschaulichten; much sämtliche Lehrer,
die seit 1833 bei der Anstalt thätig gewesen waren, wurden genannt, und allen
wurde ein dankbares Erinnern geweiht.

Endlich teilte der Direktor noch mit, ein Herr Kommilito habe ihm ein
Verzeichnis der nach den gesetzlichen Rangklassen geordneten anwesenden Herren
Kommilitonen übergeben, das er zum Abschlüsse der statistischen Mitteilungen
noch verlesen wolle; diese dankenswerte Arbeit sei von -- er entzifferte den
Namen des Verfassers mit sichtlicher Mühe -- Hauptmann a. D. Mutter--

Müller! verbesserte eine Stimme, was einige Heiterkeit erregte. -

Der Direktor klingelte aber und verkündete, daß er zum Verlesen schreite.

Er begann. Aber, aber! Die Schrift, so sauber und gezirkelt sie auch
aussah, erwies sich als ganz unleserlich; sie glich einer Ballschöuheit, aus der
kein vernünftiges Wort herauszubekommen ist. Fast jeder Name kam verstümmelt
heraus, jedesmal erfolgte eine Berichtigung, und jedesmal lustiges Gelächter.


Die Hand her, Konrad (er hatte den Namen von einem andern erfragt),
sehen Sie mich an! Sie wissen, mir geben uns alle viel Mühe um unser heu¬
tiges Fest, und Sie wollen es stören?

Nein! sagte der andre mit dünner Stimme.

Das dächte ich selbst! erwiederte der „blasse Heinrich," es würde auch
schade sein und Ihnen später leid thun, nicht?

Konrad sagte nichts darauf, sondern griff mit seinen langen feinen Musikus-
fingern in das Gefüge der Orgel; anfänglich war er ein wenig unsicher, bald
aber gewann er die Fassung wieder und wies mit Geläufigkeit alle Geheimnisse
des Instrumentes vor, bis Barbara selbst sich daran setzte und nach einigem
Hinundhertasten sagte: Jetzt weiß ich genug.

Als dann die schöne Dame sich erhob, dem Gymnasiasten dankte, dem eifrig
hcrangctretenen Direktor erklärte, sie sei durch des Schülers Explikation zur
Übernahme des Begleitspicls endgiltig entschlossen, und der Direktor die Be¬
gnadigung aussprach, war alle Flegelei aus dem sekundärer gewichen, und er
mußte sich eiligst davonmachen, weil sich in seinen Augen etwas regte, was er
um alles in der Welt nicht hätte zeigen mögen.

Inzwischen hatte sich der Saal ganz gefüllt, der Chor trat ein, und die
Thür schloß sich. Alles war auf dem Platze, der Dirigent vor dein Pulte,
Barbara, die sich noch eilig ihres Hutes und des Herbstmantels entledigt hatte,
saß in ihrem schönen gclbseidnen Kleide an der Orgel. In weitem Halbbögen
standen die festlich geschmückten Sänger und Sängerinnen, alle voll heiligen
Ernstes und von dem Bewußtsein des Liebeswerkes verschönt, das sie einte.

Der nun zum Vortrag gebrachte Psalm gelang aufs vortrefflichste und
schuf unter den Versammelten die für die Fcsthcmdlung empfänglichste Stimmung.
Der Direktor bestieg denn auch wohlgemut das Katheder, schlug ein Heft auf
und las seine statistische Arbeit vor, die allerseits lebhaftes Interesse erregte.
Man erfuhr daraus Zahlenverhältnisse ans den fünfzig Schuljahren und That¬
sachen, die das allmähliche Heranwachsen veranschaulichten; much sämtliche Lehrer,
die seit 1833 bei der Anstalt thätig gewesen waren, wurden genannt, und allen
wurde ein dankbares Erinnern geweiht.

Endlich teilte der Direktor noch mit, ein Herr Kommilito habe ihm ein
Verzeichnis der nach den gesetzlichen Rangklassen geordneten anwesenden Herren
Kommilitonen übergeben, das er zum Abschlüsse der statistischen Mitteilungen
noch verlesen wolle; diese dankenswerte Arbeit sei von — er entzifferte den
Namen des Verfassers mit sichtlicher Mühe — Hauptmann a. D. Mutter—

Müller! verbesserte eine Stimme, was einige Heiterkeit erregte. -

Der Direktor klingelte aber und verkündete, daß er zum Verlesen schreite.

Er begann. Aber, aber! Die Schrift, so sauber und gezirkelt sie auch
aussah, erwies sich als ganz unleserlich; sie glich einer Ballschöuheit, aus der
kein vernünftiges Wort herauszubekommen ist. Fast jeder Name kam verstümmelt
heraus, jedesmal erfolgte eine Berichtigung, und jedesmal lustiges Gelächter.


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[0376] Die Hand her, Konrad (er hatte den Namen von einem andern erfragt), sehen Sie mich an! Sie wissen, mir geben uns alle viel Mühe um unser heu¬ tiges Fest, und Sie wollen es stören? Nein! sagte der andre mit dünner Stimme. Das dächte ich selbst! erwiederte der „blasse Heinrich," es würde auch schade sein und Ihnen später leid thun, nicht? Konrad sagte nichts darauf, sondern griff mit seinen langen feinen Musikus- fingern in das Gefüge der Orgel; anfänglich war er ein wenig unsicher, bald aber gewann er die Fassung wieder und wies mit Geläufigkeit alle Geheimnisse des Instrumentes vor, bis Barbara selbst sich daran setzte und nach einigem Hinundhertasten sagte: Jetzt weiß ich genug. Als dann die schöne Dame sich erhob, dem Gymnasiasten dankte, dem eifrig hcrangctretenen Direktor erklärte, sie sei durch des Schülers Explikation zur Übernahme des Begleitspicls endgiltig entschlossen, und der Direktor die Be¬ gnadigung aussprach, war alle Flegelei aus dem sekundärer gewichen, und er mußte sich eiligst davonmachen, weil sich in seinen Augen etwas regte, was er um alles in der Welt nicht hätte zeigen mögen. Inzwischen hatte sich der Saal ganz gefüllt, der Chor trat ein, und die Thür schloß sich. Alles war auf dem Platze, der Dirigent vor dein Pulte, Barbara, die sich noch eilig ihres Hutes und des Herbstmantels entledigt hatte, saß in ihrem schönen gclbseidnen Kleide an der Orgel. In weitem Halbbögen standen die festlich geschmückten Sänger und Sängerinnen, alle voll heiligen Ernstes und von dem Bewußtsein des Liebeswerkes verschönt, das sie einte. Der nun zum Vortrag gebrachte Psalm gelang aufs vortrefflichste und schuf unter den Versammelten die für die Fcsthcmdlung empfänglichste Stimmung. Der Direktor bestieg denn auch wohlgemut das Katheder, schlug ein Heft auf und las seine statistische Arbeit vor, die allerseits lebhaftes Interesse erregte. Man erfuhr daraus Zahlenverhältnisse ans den fünfzig Schuljahren und That¬ sachen, die das allmähliche Heranwachsen veranschaulichten; much sämtliche Lehrer, die seit 1833 bei der Anstalt thätig gewesen waren, wurden genannt, und allen wurde ein dankbares Erinnern geweiht. Endlich teilte der Direktor noch mit, ein Herr Kommilito habe ihm ein Verzeichnis der nach den gesetzlichen Rangklassen geordneten anwesenden Herren Kommilitonen übergeben, das er zum Abschlüsse der statistischen Mitteilungen noch verlesen wolle; diese dankenswerte Arbeit sei von — er entzifferte den Namen des Verfassers mit sichtlicher Mühe — Hauptmann a. D. Mutter— Müller! verbesserte eine Stimme, was einige Heiterkeit erregte. - Der Direktor klingelte aber und verkündete, daß er zum Verlesen schreite. Er begann. Aber, aber! Die Schrift, so sauber und gezirkelt sie auch aussah, erwies sich als ganz unleserlich; sie glich einer Ballschöuheit, aus der kein vernünftiges Wort herauszubekommen ist. Fast jeder Name kam verstümmelt heraus, jedesmal erfolgte eine Berichtigung, und jedesmal lustiges Gelächter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/376>, abgerufen am 22.07.2024.