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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der Richter von Zalamea.

der Selbsthilfe die allgemeinste Entrüstung hervorrief. Der Einzelne darf nicht
nur, er soll sogar sich den Erfordernissen der Ehre entziehen, soweit sie mit
seiner tieferen Moralcmschauuug in Kollision kommen. Zugleich aber sehen wir
es allerdings auch als ein Zeichen vom Verfalle des Staates an, wenn derselbe,
wie in dem ebenerwähnten Falle, nicht imstande oder nicht Willens ist, die
Ehre des ihm angehörigen Individuums zu schützen und zu rächen. Und so
kommen wir zu der freilich seltsam klingenden, aber darum nicht minder richtigen
Behauptung, daß man auf die Ehre wohl Staaten aufbauen kann, aber keine
soliden Theaterstücke. Denn nicht nur, wie schon bemerkt, der Staat überhaupt,
sondern im besondern die modernen europäischen Staaten beruhen zum großen
Teil auf dem namentlich von den germanischen Völkern zu seiner ganzen Schärfe
und Kraft ausgebildeten Begriffe der Ehre. Selbst der sogenannte "spanische
Ehrbegriff" kommt uns nur gewisser Äußerlichkeiten wegen so spanisch vor. Im
Grunde ist er noch ganz derselbe, dein jährlich souudsoviele Menschenleben zum
Opfer fallen, der den Jammer und die Verzweiflung in so manche Familien
bringt und der unter Umständen das Dasein eines Jeden zu einem höchst un¬
behaglichen, ja unerträglichen machen kann, der aber auch unendlich viel Großes
und Gutes, wie gesagt, eine bedeutenden Teil unsrer Gesittung und Bildung zur
Folge gehabt hat. Die Menschheit kann nun einmal ohne solche Zuchtmittel
nicht bestehen.

Andernteils ist und bleibt dieser Ehrbegriff eine Form des Egoismus und
lebt deshalb in beständigem Konflikte mit der christlichen Morallehre, die ihrer¬
seits allerdings wieder, als eine den Egoismus verneinende, in ihrer strikten
Befolgung sowohl die Existenz des Individuums als auch noch sicherer die der
Familie und des Staates in Frage stellen würde. In diesem Bewußtsein hat
der Stifter unsrer Religion selbst es für richtig gehalten, den obenerwähnten
Kompromiß zu schließen: "Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist," während
er dem Individuum unbedingt die Wiedervergeltung untersagt.

Und auf diesem letzter", höhern Standpunkte muß unbedingt der Dichter
stehen, der unsre volle Sympathie erringen will. Wenn es ihm auch unver-
wehrt bleibt, seinen Helden gegen das ewige Sittengesetz verstoßen zu lassen,
so darf er ihn doch nicht deswegen verherrlichen und ihn so darstellen, als
wenn er vollständig in seinem Rechte wäre; wie dies Calderon in seinem
"Richter von Zalamea" gethan hat. Der Bauer Crespo versündigt sich in der
That am ewigen Sittengesetz, ebenso wie er sich gegen das formelle Recht ver¬
geht. Nicht "im Nebeupunkte irrt er," wie er selbst behauptet und wie der
König ihm gutmütig bestätigt, sondern im Hauptpunkte. Trotz aller Sophismen
bleibt die Thatsache, daß er den Hauptmann dem Gerichte, vor das derselbe
gehört und das ihn vielleicht weniger streng bestraft haben würde, entzieht und
selbst -- wenn auch in seiner Eigenschaft als Dorfrichter -- ihn aburteilt und
hinrichten läßt, sowohl vor dem Gesetze seines Landes unentschuldbar, als auch


Der Richter von Zalamea.

der Selbsthilfe die allgemeinste Entrüstung hervorrief. Der Einzelne darf nicht
nur, er soll sogar sich den Erfordernissen der Ehre entziehen, soweit sie mit
seiner tieferen Moralcmschauuug in Kollision kommen. Zugleich aber sehen wir
es allerdings auch als ein Zeichen vom Verfalle des Staates an, wenn derselbe,
wie in dem ebenerwähnten Falle, nicht imstande oder nicht Willens ist, die
Ehre des ihm angehörigen Individuums zu schützen und zu rächen. Und so
kommen wir zu der freilich seltsam klingenden, aber darum nicht minder richtigen
Behauptung, daß man auf die Ehre wohl Staaten aufbauen kann, aber keine
soliden Theaterstücke. Denn nicht nur, wie schon bemerkt, der Staat überhaupt,
sondern im besondern die modernen europäischen Staaten beruhen zum großen
Teil auf dem namentlich von den germanischen Völkern zu seiner ganzen Schärfe
und Kraft ausgebildeten Begriffe der Ehre. Selbst der sogenannte „spanische
Ehrbegriff" kommt uns nur gewisser Äußerlichkeiten wegen so spanisch vor. Im
Grunde ist er noch ganz derselbe, dein jährlich souudsoviele Menschenleben zum
Opfer fallen, der den Jammer und die Verzweiflung in so manche Familien
bringt und der unter Umständen das Dasein eines Jeden zu einem höchst un¬
behaglichen, ja unerträglichen machen kann, der aber auch unendlich viel Großes
und Gutes, wie gesagt, eine bedeutenden Teil unsrer Gesittung und Bildung zur
Folge gehabt hat. Die Menschheit kann nun einmal ohne solche Zuchtmittel
nicht bestehen.

Andernteils ist und bleibt dieser Ehrbegriff eine Form des Egoismus und
lebt deshalb in beständigem Konflikte mit der christlichen Morallehre, die ihrer¬
seits allerdings wieder, als eine den Egoismus verneinende, in ihrer strikten
Befolgung sowohl die Existenz des Individuums als auch noch sicherer die der
Familie und des Staates in Frage stellen würde. In diesem Bewußtsein hat
der Stifter unsrer Religion selbst es für richtig gehalten, den obenerwähnten
Kompromiß zu schließen: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist," während
er dem Individuum unbedingt die Wiedervergeltung untersagt.

Und auf diesem letzter», höhern Standpunkte muß unbedingt der Dichter
stehen, der unsre volle Sympathie erringen will. Wenn es ihm auch unver-
wehrt bleibt, seinen Helden gegen das ewige Sittengesetz verstoßen zu lassen,
so darf er ihn doch nicht deswegen verherrlichen und ihn so darstellen, als
wenn er vollständig in seinem Rechte wäre; wie dies Calderon in seinem
„Richter von Zalamea" gethan hat. Der Bauer Crespo versündigt sich in der
That am ewigen Sittengesetz, ebenso wie er sich gegen das formelle Recht ver¬
geht. Nicht „im Nebeupunkte irrt er," wie er selbst behauptet und wie der
König ihm gutmütig bestätigt, sondern im Hauptpunkte. Trotz aller Sophismen
bleibt die Thatsache, daß er den Hauptmann dem Gerichte, vor das derselbe
gehört und das ihn vielleicht weniger streng bestraft haben würde, entzieht und
selbst — wenn auch in seiner Eigenschaft als Dorfrichter — ihn aburteilt und
hinrichten läßt, sowohl vor dem Gesetze seines Landes unentschuldbar, als auch


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[0369] Der Richter von Zalamea. der Selbsthilfe die allgemeinste Entrüstung hervorrief. Der Einzelne darf nicht nur, er soll sogar sich den Erfordernissen der Ehre entziehen, soweit sie mit seiner tieferen Moralcmschauuug in Kollision kommen. Zugleich aber sehen wir es allerdings auch als ein Zeichen vom Verfalle des Staates an, wenn derselbe, wie in dem ebenerwähnten Falle, nicht imstande oder nicht Willens ist, die Ehre des ihm angehörigen Individuums zu schützen und zu rächen. Und so kommen wir zu der freilich seltsam klingenden, aber darum nicht minder richtigen Behauptung, daß man auf die Ehre wohl Staaten aufbauen kann, aber keine soliden Theaterstücke. Denn nicht nur, wie schon bemerkt, der Staat überhaupt, sondern im besondern die modernen europäischen Staaten beruhen zum großen Teil auf dem namentlich von den germanischen Völkern zu seiner ganzen Schärfe und Kraft ausgebildeten Begriffe der Ehre. Selbst der sogenannte „spanische Ehrbegriff" kommt uns nur gewisser Äußerlichkeiten wegen so spanisch vor. Im Grunde ist er noch ganz derselbe, dein jährlich souudsoviele Menschenleben zum Opfer fallen, der den Jammer und die Verzweiflung in so manche Familien bringt und der unter Umständen das Dasein eines Jeden zu einem höchst un¬ behaglichen, ja unerträglichen machen kann, der aber auch unendlich viel Großes und Gutes, wie gesagt, eine bedeutenden Teil unsrer Gesittung und Bildung zur Folge gehabt hat. Die Menschheit kann nun einmal ohne solche Zuchtmittel nicht bestehen. Andernteils ist und bleibt dieser Ehrbegriff eine Form des Egoismus und lebt deshalb in beständigem Konflikte mit der christlichen Morallehre, die ihrer¬ seits allerdings wieder, als eine den Egoismus verneinende, in ihrer strikten Befolgung sowohl die Existenz des Individuums als auch noch sicherer die der Familie und des Staates in Frage stellen würde. In diesem Bewußtsein hat der Stifter unsrer Religion selbst es für richtig gehalten, den obenerwähnten Kompromiß zu schließen: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist," während er dem Individuum unbedingt die Wiedervergeltung untersagt. Und auf diesem letzter», höhern Standpunkte muß unbedingt der Dichter stehen, der unsre volle Sympathie erringen will. Wenn es ihm auch unver- wehrt bleibt, seinen Helden gegen das ewige Sittengesetz verstoßen zu lassen, so darf er ihn doch nicht deswegen verherrlichen und ihn so darstellen, als wenn er vollständig in seinem Rechte wäre; wie dies Calderon in seinem „Richter von Zalamea" gethan hat. Der Bauer Crespo versündigt sich in der That am ewigen Sittengesetz, ebenso wie er sich gegen das formelle Recht ver¬ geht. Nicht „im Nebeupunkte irrt er," wie er selbst behauptet und wie der König ihm gutmütig bestätigt, sondern im Hauptpunkte. Trotz aller Sophismen bleibt die Thatsache, daß er den Hauptmann dem Gerichte, vor das derselbe gehört und das ihn vielleicht weniger streng bestraft haben würde, entzieht und selbst — wenn auch in seiner Eigenschaft als Dorfrichter — ihn aburteilt und hinrichten läßt, sowohl vor dem Gesetze seines Landes unentschuldbar, als auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/369>, abgerufen am 22.07.2024.