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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der Richter von Aalamea.

Nun ist es allerdings trotzdem sehr begreiflich, wenn ein solches Verbrechen
in denen, die es trifft, ein brennendes Rachebedürfnis erregt. Wir finden es
menschlich, wenn ein so in Verzweiflung gebrachter Vater dem Verbrecher nach
dem Leben trachtet. Aber, wie gesagt, als einen "Rächer seiner Ehre" kann
man einen solchen Vater nicht verherrlichen. Was er zu rächen sucht, das sind
weit weniger berechtigte, weit egoistischere und materiellere Interessen. Ob der
Thäter ein adlicher Hauptmann oder ein Strolch ist, das kommt für uns
ebenfalls garnicht in Betracht. Das Zuchthaus, dem er entgegengeht, hebt den
Standesunterschied auf.

Dieser unsrer Auffassung nach wird auch ein andres Hauptmotiv des Stückes
hinfällig: der Versuch des Vaters, "die Sache in Güte beizulegen." Was würde
es nützen, wenn der Missethäter Don Alvaro das Opfer seines tierischen Ge¬
lüstes zur Frau nähme? Das würde eine traurige Ehe abgeben. Diese Er¬
wägung muß auch die an sich wirkungsvollste Szene des Stückes, wenigstens
in ihrer Nachwirkung, bedeutend abschwächen.

Aber es giebt noch einen andern, weit wichtigeren Umstand, der uns den
Helden des Stückes bei näherer Betrachtung in einer viel weniger günstigen
Beleuchtung erscheinen läßt, als er sich uns auf den ersten Anblick darstellt.
Nicht nur das Motiv seiner Rache ist für uns weniger stichhaltig, als der
Dichter uns glauben machen will, auch die Rache selbst kann uns nicht be¬
friedigen -- selbst wenn wir dem Motiv eine höhere Berechtigung zuerkennen
wollten.

Nehmen wir einmal an, die Ehre des Bauern Crespo wäre durch die
Unthat des Hauptmanns Don Alvaro wirklich verletzt, und zwar nicht die
spezifisch spanische Ehre, sondern die wirkliche Ehre, wie sie in jedes Menschen
Brust lebt, also auch heute noch überall zu finden ist. Man braucht uicht auf
dem Standpunkte Falstaffs zu stehen, der bekanntlich von der Ehre seine eigen¬
tümliche Anschauung hat, um doch diesem edeln menschlichen Triebe nicht eine
unbedingte, unbegrenzte Wirkungssphäre einzuräumen. Nach unsrer, wesentlich
durch das Christentum gebildeten moralischen Anschauung steht der Ehre zunächst
eine Duldsamkeit gegenüber, die, wenn die eine Wange geschlagen wird, die andre
Wange hinzuhalten gebietet. Und wenn wir auch diese christliche Morallehre,
die allerdings in der Praxis zu sehr weitgehenden Konsequenzen führen würde,
nicht zur unbedingten Richtschnur unsers Handelns machen können, so suchen
wir uns doch mit ihr abzufinden, indem wir den Erfordernissen der Ehre -- auf
welcher schließlich nicht nur ein Teil der Existenz des Individuums, sondern
auch der Familie und des Staates beruht -- Genugthuung gewähren lasse"
eben von dem Staate, der das größte und zugleich das objektivste Interesse an
der Erhaltung des Ehrgefühls hat. Um ein Beispiel dafür anzuführen, daß
diese moralische Anschanung jetzt eine allgemein verbreitete und maßgebende ist,
brauche ich nur auf den Fall der Frau Clovis Hugues hinzuweisen, deren That


Der Richter von Aalamea.

Nun ist es allerdings trotzdem sehr begreiflich, wenn ein solches Verbrechen
in denen, die es trifft, ein brennendes Rachebedürfnis erregt. Wir finden es
menschlich, wenn ein so in Verzweiflung gebrachter Vater dem Verbrecher nach
dem Leben trachtet. Aber, wie gesagt, als einen „Rächer seiner Ehre" kann
man einen solchen Vater nicht verherrlichen. Was er zu rächen sucht, das sind
weit weniger berechtigte, weit egoistischere und materiellere Interessen. Ob der
Thäter ein adlicher Hauptmann oder ein Strolch ist, das kommt für uns
ebenfalls garnicht in Betracht. Das Zuchthaus, dem er entgegengeht, hebt den
Standesunterschied auf.

Dieser unsrer Auffassung nach wird auch ein andres Hauptmotiv des Stückes
hinfällig: der Versuch des Vaters, „die Sache in Güte beizulegen." Was würde
es nützen, wenn der Missethäter Don Alvaro das Opfer seines tierischen Ge¬
lüstes zur Frau nähme? Das würde eine traurige Ehe abgeben. Diese Er¬
wägung muß auch die an sich wirkungsvollste Szene des Stückes, wenigstens
in ihrer Nachwirkung, bedeutend abschwächen.

Aber es giebt noch einen andern, weit wichtigeren Umstand, der uns den
Helden des Stückes bei näherer Betrachtung in einer viel weniger günstigen
Beleuchtung erscheinen läßt, als er sich uns auf den ersten Anblick darstellt.
Nicht nur das Motiv seiner Rache ist für uns weniger stichhaltig, als der
Dichter uns glauben machen will, auch die Rache selbst kann uns nicht be¬
friedigen — selbst wenn wir dem Motiv eine höhere Berechtigung zuerkennen
wollten.

Nehmen wir einmal an, die Ehre des Bauern Crespo wäre durch die
Unthat des Hauptmanns Don Alvaro wirklich verletzt, und zwar nicht die
spezifisch spanische Ehre, sondern die wirkliche Ehre, wie sie in jedes Menschen
Brust lebt, also auch heute noch überall zu finden ist. Man braucht uicht auf
dem Standpunkte Falstaffs zu stehen, der bekanntlich von der Ehre seine eigen¬
tümliche Anschauung hat, um doch diesem edeln menschlichen Triebe nicht eine
unbedingte, unbegrenzte Wirkungssphäre einzuräumen. Nach unsrer, wesentlich
durch das Christentum gebildeten moralischen Anschauung steht der Ehre zunächst
eine Duldsamkeit gegenüber, die, wenn die eine Wange geschlagen wird, die andre
Wange hinzuhalten gebietet. Und wenn wir auch diese christliche Morallehre,
die allerdings in der Praxis zu sehr weitgehenden Konsequenzen führen würde,
nicht zur unbedingten Richtschnur unsers Handelns machen können, so suchen
wir uns doch mit ihr abzufinden, indem wir den Erfordernissen der Ehre — auf
welcher schließlich nicht nur ein Teil der Existenz des Individuums, sondern
auch der Familie und des Staates beruht — Genugthuung gewähren lasse»
eben von dem Staate, der das größte und zugleich das objektivste Interesse an
der Erhaltung des Ehrgefühls hat. Um ein Beispiel dafür anzuführen, daß
diese moralische Anschanung jetzt eine allgemein verbreitete und maßgebende ist,
brauche ich nur auf den Fall der Frau Clovis Hugues hinzuweisen, deren That


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[0368] Der Richter von Aalamea. Nun ist es allerdings trotzdem sehr begreiflich, wenn ein solches Verbrechen in denen, die es trifft, ein brennendes Rachebedürfnis erregt. Wir finden es menschlich, wenn ein so in Verzweiflung gebrachter Vater dem Verbrecher nach dem Leben trachtet. Aber, wie gesagt, als einen „Rächer seiner Ehre" kann man einen solchen Vater nicht verherrlichen. Was er zu rächen sucht, das sind weit weniger berechtigte, weit egoistischere und materiellere Interessen. Ob der Thäter ein adlicher Hauptmann oder ein Strolch ist, das kommt für uns ebenfalls garnicht in Betracht. Das Zuchthaus, dem er entgegengeht, hebt den Standesunterschied auf. Dieser unsrer Auffassung nach wird auch ein andres Hauptmotiv des Stückes hinfällig: der Versuch des Vaters, „die Sache in Güte beizulegen." Was würde es nützen, wenn der Missethäter Don Alvaro das Opfer seines tierischen Ge¬ lüstes zur Frau nähme? Das würde eine traurige Ehe abgeben. Diese Er¬ wägung muß auch die an sich wirkungsvollste Szene des Stückes, wenigstens in ihrer Nachwirkung, bedeutend abschwächen. Aber es giebt noch einen andern, weit wichtigeren Umstand, der uns den Helden des Stückes bei näherer Betrachtung in einer viel weniger günstigen Beleuchtung erscheinen läßt, als er sich uns auf den ersten Anblick darstellt. Nicht nur das Motiv seiner Rache ist für uns weniger stichhaltig, als der Dichter uns glauben machen will, auch die Rache selbst kann uns nicht be¬ friedigen — selbst wenn wir dem Motiv eine höhere Berechtigung zuerkennen wollten. Nehmen wir einmal an, die Ehre des Bauern Crespo wäre durch die Unthat des Hauptmanns Don Alvaro wirklich verletzt, und zwar nicht die spezifisch spanische Ehre, sondern die wirkliche Ehre, wie sie in jedes Menschen Brust lebt, also auch heute noch überall zu finden ist. Man braucht uicht auf dem Standpunkte Falstaffs zu stehen, der bekanntlich von der Ehre seine eigen¬ tümliche Anschauung hat, um doch diesem edeln menschlichen Triebe nicht eine unbedingte, unbegrenzte Wirkungssphäre einzuräumen. Nach unsrer, wesentlich durch das Christentum gebildeten moralischen Anschauung steht der Ehre zunächst eine Duldsamkeit gegenüber, die, wenn die eine Wange geschlagen wird, die andre Wange hinzuhalten gebietet. Und wenn wir auch diese christliche Morallehre, die allerdings in der Praxis zu sehr weitgehenden Konsequenzen führen würde, nicht zur unbedingten Richtschnur unsers Handelns machen können, so suchen wir uns doch mit ihr abzufinden, indem wir den Erfordernissen der Ehre — auf welcher schließlich nicht nur ein Teil der Existenz des Individuums, sondern auch der Familie und des Staates beruht — Genugthuung gewähren lasse» eben von dem Staate, der das größte und zugleich das objektivste Interesse an der Erhaltung des Ehrgefühls hat. Um ein Beispiel dafür anzuführen, daß diese moralische Anschanung jetzt eine allgemein verbreitete und maßgebende ist, brauche ich nur auf den Fall der Frau Clovis Hugues hinzuweisen, deren That

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/368>, abgerufen am 22.07.2024.