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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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F. M. Dostojewsky.

Nissen sich verhält. "O, das ist noch ein Jüngling, ein Gottesfürchtiger und
Frommer, der im Gegensatze zu der finstern, verderblichen Weltanschauung seines
Brnoers Iwan sich den "Volksprinzipien" sozusagen anzuschmiegen sucht. In ihm
hat, gleichsam unbewußt, jene schüchterne Verzweiflung Ausdruck gefunden, in
welcher jetzt so viele in unsrer Gesellschaft, die durch deren Cynismus und
Sittenverderbnis geängstigt sind und alles Übel fälschlich der europäische" Bil¬
dung zuschreiben, sich dein "vaterländischen Untergrunde" heftig zuwenden, so¬
zusagen der mütterlichen Umarmung des vaterländischen Bodens." (IV, 206.)
Diese Söhne sind alle fern von ihrem väterlichen Hause aufgewachsen; daß
zwischen ihnen und ihrem saubern Vater kein rechtes Verhältnis besteht, ist
begreiflich. Der zweite Sohn Dimitry lebt übrigens mit seinem Vater im
Streite wegen vermeintlicher Zurückhaltung seines mütterlichen Erbteils. Die
Gegensätze schürfen sich, als beide sich für ein und dasselbe, nicht im besten Rufe
stehende Mädchen interessiren, bis zur stadtkundiger Feindschaft. Der Sohn
haßt seinen Vater als Nebenbuhler umsomehr, und als er dnrch das ihm vor¬
enthaltene Geld in den Besitz des mit toller Eifersucht geliebten Weibes, wie
er meint, kommen müßte. Es kommt zu Schlägereien zwischen beiden, und als
schließlich der Alte in seiner Wohnung erschlagen und beraubt gefunden wird,
fällt der stark begründete Verdacht auf den eignen Sohn, der nach langen Ver¬
handlungen verurteilt wird, allerdings in "gerichtlicher Irrung," denn erschlagen
wurde der Vater Karamasow durch seinen eignen Bastard, einen epileptischen
Hallunken, der sich erhängt. Der Sohn Iwan, der mit seinem gewaltthätigen
Bruder übrigens in einem andern, von diesem fallengelasseneu Liebesverhält¬
nisse rivalisirt, hat im Herzen schließlich oft genng den Tod des Alten herbei¬
gewünscht, mehr aus Haß als aus sonstigen Motiven; und in all der Ver¬
wirrung bei der Suche nach dem wahren Mörder straft ihn sein eignes unreines
Gewissen, und er verfüllt in Wahnsinn.

Natürlich laufen eine Menge spannender Nebenhandlungen daneben her,
und ein fast unübersehbarer Reichtum interessanter Charaktere breitet sich aus.
Auf alles das sei hier nur verwiesen.

Dostojewsky erzählt höchst eigenartig und geistreich fesselnd. Gedanken
und Bilder strömen ihm nur so zu, daß er sich ihrer nicht erwehren kann.
Am liebsten hält er sich in der dialogischen Form, die den dramatischen Reiz
der Charakterentwicklung erhöht. So weiß er neben der Fülle von Ideen,
die er ausstreut, auch für das reine Unterhaltungsbedürsnis seiner Leser zu
sorgen, und es dürfte kaum Einen geben, der, einmal in der Lektüre des Ro¬
mans begriffen, ihn ans den Händen legte, ohne ihn bis zur letzten Seite
zu lesen.


M. Necker.


Grenzboten I. 1885. 4L
F. M. Dostojewsky.

Nissen sich verhält. „O, das ist noch ein Jüngling, ein Gottesfürchtiger und
Frommer, der im Gegensatze zu der finstern, verderblichen Weltanschauung seines
Brnoers Iwan sich den »Volksprinzipien« sozusagen anzuschmiegen sucht. In ihm
hat, gleichsam unbewußt, jene schüchterne Verzweiflung Ausdruck gefunden, in
welcher jetzt so viele in unsrer Gesellschaft, die durch deren Cynismus und
Sittenverderbnis geängstigt sind und alles Übel fälschlich der europäische» Bil¬
dung zuschreiben, sich dein »vaterländischen Untergrunde« heftig zuwenden, so¬
zusagen der mütterlichen Umarmung des vaterländischen Bodens." (IV, 206.)
Diese Söhne sind alle fern von ihrem väterlichen Hause aufgewachsen; daß
zwischen ihnen und ihrem saubern Vater kein rechtes Verhältnis besteht, ist
begreiflich. Der zweite Sohn Dimitry lebt übrigens mit seinem Vater im
Streite wegen vermeintlicher Zurückhaltung seines mütterlichen Erbteils. Die
Gegensätze schürfen sich, als beide sich für ein und dasselbe, nicht im besten Rufe
stehende Mädchen interessiren, bis zur stadtkundiger Feindschaft. Der Sohn
haßt seinen Vater als Nebenbuhler umsomehr, und als er dnrch das ihm vor¬
enthaltene Geld in den Besitz des mit toller Eifersucht geliebten Weibes, wie
er meint, kommen müßte. Es kommt zu Schlägereien zwischen beiden, und als
schließlich der Alte in seiner Wohnung erschlagen und beraubt gefunden wird,
fällt der stark begründete Verdacht auf den eignen Sohn, der nach langen Ver¬
handlungen verurteilt wird, allerdings in „gerichtlicher Irrung," denn erschlagen
wurde der Vater Karamasow durch seinen eignen Bastard, einen epileptischen
Hallunken, der sich erhängt. Der Sohn Iwan, der mit seinem gewaltthätigen
Bruder übrigens in einem andern, von diesem fallengelasseneu Liebesverhält¬
nisse rivalisirt, hat im Herzen schließlich oft genng den Tod des Alten herbei¬
gewünscht, mehr aus Haß als aus sonstigen Motiven; und in all der Ver¬
wirrung bei der Suche nach dem wahren Mörder straft ihn sein eignes unreines
Gewissen, und er verfüllt in Wahnsinn.

Natürlich laufen eine Menge spannender Nebenhandlungen daneben her,
und ein fast unübersehbarer Reichtum interessanter Charaktere breitet sich aus.
Auf alles das sei hier nur verwiesen.

Dostojewsky erzählt höchst eigenartig und geistreich fesselnd. Gedanken
und Bilder strömen ihm nur so zu, daß er sich ihrer nicht erwehren kann.
Am liebsten hält er sich in der dialogischen Form, die den dramatischen Reiz
der Charakterentwicklung erhöht. So weiß er neben der Fülle von Ideen,
die er ausstreut, auch für das reine Unterhaltungsbedürsnis seiner Leser zu
sorgen, und es dürfte kaum Einen geben, der, einmal in der Lektüre des Ro¬
mans begriffen, ihn ans den Händen legte, ohne ihn bis zur letzten Seite
zu lesen.


M. Necker.


Grenzboten I. 1885. 4L
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[0365] F. M. Dostojewsky. Nissen sich verhält. „O, das ist noch ein Jüngling, ein Gottesfürchtiger und Frommer, der im Gegensatze zu der finstern, verderblichen Weltanschauung seines Brnoers Iwan sich den »Volksprinzipien« sozusagen anzuschmiegen sucht. In ihm hat, gleichsam unbewußt, jene schüchterne Verzweiflung Ausdruck gefunden, in welcher jetzt so viele in unsrer Gesellschaft, die durch deren Cynismus und Sittenverderbnis geängstigt sind und alles Übel fälschlich der europäische» Bil¬ dung zuschreiben, sich dein »vaterländischen Untergrunde« heftig zuwenden, so¬ zusagen der mütterlichen Umarmung des vaterländischen Bodens." (IV, 206.) Diese Söhne sind alle fern von ihrem väterlichen Hause aufgewachsen; daß zwischen ihnen und ihrem saubern Vater kein rechtes Verhältnis besteht, ist begreiflich. Der zweite Sohn Dimitry lebt übrigens mit seinem Vater im Streite wegen vermeintlicher Zurückhaltung seines mütterlichen Erbteils. Die Gegensätze schürfen sich, als beide sich für ein und dasselbe, nicht im besten Rufe stehende Mädchen interessiren, bis zur stadtkundiger Feindschaft. Der Sohn haßt seinen Vater als Nebenbuhler umsomehr, und als er dnrch das ihm vor¬ enthaltene Geld in den Besitz des mit toller Eifersucht geliebten Weibes, wie er meint, kommen müßte. Es kommt zu Schlägereien zwischen beiden, und als schließlich der Alte in seiner Wohnung erschlagen und beraubt gefunden wird, fällt der stark begründete Verdacht auf den eignen Sohn, der nach langen Ver¬ handlungen verurteilt wird, allerdings in „gerichtlicher Irrung," denn erschlagen wurde der Vater Karamasow durch seinen eignen Bastard, einen epileptischen Hallunken, der sich erhängt. Der Sohn Iwan, der mit seinem gewaltthätigen Bruder übrigens in einem andern, von diesem fallengelasseneu Liebesverhält¬ nisse rivalisirt, hat im Herzen schließlich oft genng den Tod des Alten herbei¬ gewünscht, mehr aus Haß als aus sonstigen Motiven; und in all der Ver¬ wirrung bei der Suche nach dem wahren Mörder straft ihn sein eignes unreines Gewissen, und er verfüllt in Wahnsinn. Natürlich laufen eine Menge spannender Nebenhandlungen daneben her, und ein fast unübersehbarer Reichtum interessanter Charaktere breitet sich aus. Auf alles das sei hier nur verwiesen. Dostojewsky erzählt höchst eigenartig und geistreich fesselnd. Gedanken und Bilder strömen ihm nur so zu, daß er sich ihrer nicht erwehren kann. Am liebsten hält er sich in der dialogischen Form, die den dramatischen Reiz der Charakterentwicklung erhöht. So weiß er neben der Fülle von Ideen, die er ausstreut, auch für das reine Unterhaltungsbedürsnis seiner Leser zu sorgen, und es dürfte kaum Einen geben, der, einmal in der Lektüre des Ro¬ mans begriffen, ihn ans den Händen legte, ohne ihn bis zur letzten Seite zu lesen. M. Necker. Grenzboten I. 1885. 4L

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/365>, abgerufen am 22.07.2024.