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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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F, M, Dostojewsky,

Wahrheit dessen, was er vorbringt, kann in uns nicht aufkommen. Nicht über¬
allhin werden wir ihm mit gleicher Bereitwilligkeit folgen, seine Art, das eine
Faktum von den verschiedenen Gesichtspunkten aus, von denen des Dichters,
des Untersuchungsrichters, des Staatsanwaltes, des Verteidigers, der großen
Menge und der gebildeten Gesellschaft zu beleuchten, wird uns einen Augenblick
vielleicht mißfallen. Aber schließlich werden wir nicht umhin können, die Kunst
seiner Komposition zu bewundern, die mit so geistvoll komplizirten Mitteln die
Handlung vorwärts bringt.

Diese selbst in ihrer ganzen Breite wiederzugeben, kann hier nicht unsre
Aufgabe sein; doch wollen wir in Kürze eine Andeutung derselben versuchen-
Ganz im allgemeinen erinnert die Konzeption der "Brüder Karamasow" an
Zola; wie dieser in einer Reihe von Romanen das Frankreich vor der dritten
Republik schildern wollte und dabei die Geschichte der Familie Rougeou als
Träger der Entwicklung zu gründe legte, so nimmt die Geschichte der Familie
Karamasow eine ähnliche Stellung bei Dostojewskh ein, die in ihren einzelnen
Gliedern typische Vertreter der russischen Gesellschaft in deu letzte" zwei Jahr¬
zehnten darstellen sollte. Der vorliegende Roman macht den Anfang dieses
großartigen dichterischen Planes: er schildert die nächste Vergangenheit und die
Gegenwart; die erhoffte Zukunft darzustellen war dem Dichter nicht mehr ge¬
gönnt -- kurz nach Erscheinen des Werkes starb er.

Aus vier Personen besteht die Familie Karamasow, aus dem Vater Feodor
Pawlowitsch und ans den Söhnen Iwan, Dimitry und Alexei. Der Vater ist
ein zügelloser, ausschweifender Mensch, der sich in der schmutzigsten Weise zu
einem Kapital verholfen und seine stets der Mitgift wegen erheirateten Frauen
in rohester Weise behandelt hat. Die Kinder vernachlässigt er, läßt sie von
seinen Dienern nnferziehen und sie sich schließlich von mitleidigen Verwandten
gern abnehmen, um ungestört das Leben eines Lüstlings führen zu köunen. Die
einzige Maxime des Alten ist: Äprvs nroi Is ckslug'ö. Dieser Feodor Karamasow
repräsentirt die rohe Vergangenheit, Sein ältester Sohn, Iwan, ist einer von
den glänzend gebildeten jungen Leuten unsrer Zeit, mit starkem Verstände und
wirklichem Wissensdurste. Durch kritische Aufsätze hat er sich schon einen hoff¬
nungsvollen Namen in früher Studentenzeit gemacht. Doch glaubt er an nichts
mehr in der Welt und hat schon vieles in seinem Leben verworfen und aus¬
getilgt; er ist ein geschickter Dialektiker, aber ohne eignen innern Halt. Das ist
die sich selbst in geistiger Unzucht zugrunde richtende Gegenwart, indes der
zweite Bruder Dimitry durch seine Charakterschwäche, durch seine maßlose Ge¬
nußsucht, seine Gewaltthätigkeit und Rohheit die materielle Unzucht derselben
repräsentirt. Das Schicksal dieser drei Gestalten bildet die Handlung des Ro¬
mans, in dem die sympathischste Gestalt der ganzen Dichtung, der Liebling aller
Welt, Alexei, ein Jüngling, der sich in alle Herzen ohne sein Zuthun stiehlt
und die Ideale des Dichters verkörpern soll, mehr passiv bei all den Ereig-


F, M, Dostojewsky,

Wahrheit dessen, was er vorbringt, kann in uns nicht aufkommen. Nicht über¬
allhin werden wir ihm mit gleicher Bereitwilligkeit folgen, seine Art, das eine
Faktum von den verschiedenen Gesichtspunkten aus, von denen des Dichters,
des Untersuchungsrichters, des Staatsanwaltes, des Verteidigers, der großen
Menge und der gebildeten Gesellschaft zu beleuchten, wird uns einen Augenblick
vielleicht mißfallen. Aber schließlich werden wir nicht umhin können, die Kunst
seiner Komposition zu bewundern, die mit so geistvoll komplizirten Mitteln die
Handlung vorwärts bringt.

Diese selbst in ihrer ganzen Breite wiederzugeben, kann hier nicht unsre
Aufgabe sein; doch wollen wir in Kürze eine Andeutung derselben versuchen-
Ganz im allgemeinen erinnert die Konzeption der „Brüder Karamasow" an
Zola; wie dieser in einer Reihe von Romanen das Frankreich vor der dritten
Republik schildern wollte und dabei die Geschichte der Familie Rougeou als
Träger der Entwicklung zu gründe legte, so nimmt die Geschichte der Familie
Karamasow eine ähnliche Stellung bei Dostojewskh ein, die in ihren einzelnen
Gliedern typische Vertreter der russischen Gesellschaft in deu letzte» zwei Jahr¬
zehnten darstellen sollte. Der vorliegende Roman macht den Anfang dieses
großartigen dichterischen Planes: er schildert die nächste Vergangenheit und die
Gegenwart; die erhoffte Zukunft darzustellen war dem Dichter nicht mehr ge¬
gönnt — kurz nach Erscheinen des Werkes starb er.

Aus vier Personen besteht die Familie Karamasow, aus dem Vater Feodor
Pawlowitsch und ans den Söhnen Iwan, Dimitry und Alexei. Der Vater ist
ein zügelloser, ausschweifender Mensch, der sich in der schmutzigsten Weise zu
einem Kapital verholfen und seine stets der Mitgift wegen erheirateten Frauen
in rohester Weise behandelt hat. Die Kinder vernachlässigt er, läßt sie von
seinen Dienern nnferziehen und sie sich schließlich von mitleidigen Verwandten
gern abnehmen, um ungestört das Leben eines Lüstlings führen zu köunen. Die
einzige Maxime des Alten ist: Äprvs nroi Is ckslug'ö. Dieser Feodor Karamasow
repräsentirt die rohe Vergangenheit, Sein ältester Sohn, Iwan, ist einer von
den glänzend gebildeten jungen Leuten unsrer Zeit, mit starkem Verstände und
wirklichem Wissensdurste. Durch kritische Aufsätze hat er sich schon einen hoff¬
nungsvollen Namen in früher Studentenzeit gemacht. Doch glaubt er an nichts
mehr in der Welt und hat schon vieles in seinem Leben verworfen und aus¬
getilgt; er ist ein geschickter Dialektiker, aber ohne eignen innern Halt. Das ist
die sich selbst in geistiger Unzucht zugrunde richtende Gegenwart, indes der
zweite Bruder Dimitry durch seine Charakterschwäche, durch seine maßlose Ge¬
nußsucht, seine Gewaltthätigkeit und Rohheit die materielle Unzucht derselben
repräsentirt. Das Schicksal dieser drei Gestalten bildet die Handlung des Ro¬
mans, in dem die sympathischste Gestalt der ganzen Dichtung, der Liebling aller
Welt, Alexei, ein Jüngling, der sich in alle Herzen ohne sein Zuthun stiehlt
und die Ideale des Dichters verkörpern soll, mehr passiv bei all den Ereig-


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[0364] F, M, Dostojewsky, Wahrheit dessen, was er vorbringt, kann in uns nicht aufkommen. Nicht über¬ allhin werden wir ihm mit gleicher Bereitwilligkeit folgen, seine Art, das eine Faktum von den verschiedenen Gesichtspunkten aus, von denen des Dichters, des Untersuchungsrichters, des Staatsanwaltes, des Verteidigers, der großen Menge und der gebildeten Gesellschaft zu beleuchten, wird uns einen Augenblick vielleicht mißfallen. Aber schließlich werden wir nicht umhin können, die Kunst seiner Komposition zu bewundern, die mit so geistvoll komplizirten Mitteln die Handlung vorwärts bringt. Diese selbst in ihrer ganzen Breite wiederzugeben, kann hier nicht unsre Aufgabe sein; doch wollen wir in Kürze eine Andeutung derselben versuchen- Ganz im allgemeinen erinnert die Konzeption der „Brüder Karamasow" an Zola; wie dieser in einer Reihe von Romanen das Frankreich vor der dritten Republik schildern wollte und dabei die Geschichte der Familie Rougeou als Träger der Entwicklung zu gründe legte, so nimmt die Geschichte der Familie Karamasow eine ähnliche Stellung bei Dostojewskh ein, die in ihren einzelnen Gliedern typische Vertreter der russischen Gesellschaft in deu letzte» zwei Jahr¬ zehnten darstellen sollte. Der vorliegende Roman macht den Anfang dieses großartigen dichterischen Planes: er schildert die nächste Vergangenheit und die Gegenwart; die erhoffte Zukunft darzustellen war dem Dichter nicht mehr ge¬ gönnt — kurz nach Erscheinen des Werkes starb er. Aus vier Personen besteht die Familie Karamasow, aus dem Vater Feodor Pawlowitsch und ans den Söhnen Iwan, Dimitry und Alexei. Der Vater ist ein zügelloser, ausschweifender Mensch, der sich in der schmutzigsten Weise zu einem Kapital verholfen und seine stets der Mitgift wegen erheirateten Frauen in rohester Weise behandelt hat. Die Kinder vernachlässigt er, läßt sie von seinen Dienern nnferziehen und sie sich schließlich von mitleidigen Verwandten gern abnehmen, um ungestört das Leben eines Lüstlings führen zu köunen. Die einzige Maxime des Alten ist: Äprvs nroi Is ckslug'ö. Dieser Feodor Karamasow repräsentirt die rohe Vergangenheit, Sein ältester Sohn, Iwan, ist einer von den glänzend gebildeten jungen Leuten unsrer Zeit, mit starkem Verstände und wirklichem Wissensdurste. Durch kritische Aufsätze hat er sich schon einen hoff¬ nungsvollen Namen in früher Studentenzeit gemacht. Doch glaubt er an nichts mehr in der Welt und hat schon vieles in seinem Leben verworfen und aus¬ getilgt; er ist ein geschickter Dialektiker, aber ohne eignen innern Halt. Das ist die sich selbst in geistiger Unzucht zugrunde richtende Gegenwart, indes der zweite Bruder Dimitry durch seine Charakterschwäche, durch seine maßlose Ge¬ nußsucht, seine Gewaltthätigkeit und Rohheit die materielle Unzucht derselben repräsentirt. Das Schicksal dieser drei Gestalten bildet die Handlung des Ro¬ mans, in dem die sympathischste Gestalt der ganzen Dichtung, der Liebling aller Welt, Alexei, ein Jüngling, der sich in alle Herzen ohne sein Zuthun stiehlt und die Ideale des Dichters verkörpern soll, mehr passiv bei all den Ereig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/364>, abgerufen am 22.07.2024.