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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Unpolitische Briefe aus ZVien.

Politischen Lebens aus der Sittenlehre herübergenommen, kann Lorenz freilich
nicht folgen, aber dies erkennt er doch im Gegensatz zu einer Schar hochmütiger
Büchermenschen freudig an, daß Schlosser wenigstens nach einem Wertmesser
gesucht hat, "Man hat zuweilen getadelt, ruft er ans, daß Schlosser sich über
manche Personen oder Sachen zu verschieden Zeiten verschieden aussprach --
sicherlich kann man darin mir einen Beweis erblicken, welche gewaltige Gährung
den Urteilen des Mannes voranging und wie er immer bemüht war, den wahren
Wert der Dinge zu erkennen. . . . Wie er von dem Schauplatze der Welt-
begebenheiten in seinem ganzen und tiefsten Innern erfüllt und erschüttert war,
fand er sich keinen Augenblick gleichgiltig und teilnahmlos; indem er sich in das
Ereignis, um es verstehen und darstellen zu können, hineinlebte, empfand er
sich überall als mitwirkender Geist." Mit leisem Spott spricht er von "jenen
Glücklichen, welche sich jahrelanger friedlicher Beschäftigung mit der Geschichte
erfreuten, denen aber niemals die Stunde geschlagen, in welcher sie unruhig
nach den Werten des ganzen geschichtlichen Lebens der Staaten und Menschen
aufblickten." Zu diesen aber gehört Lorenz ebensowenig wie Schlosser, und er
hat als Lehrer sich redlich bemüht, daß die Zahl solcher "Glücklichen" geringer
werde. Denn darin sieht er auch die einzige Zuknnftshoffnung der Geschichts¬
wissenschaft, daß der vielbeschäftigte gebildete Mensch unsrer Tage sich von der
"chronistisch-antiquarischen" Historik mehr und mehr zurückziehe und vor dem
Abgrunde eines den Geist ertötenden, unermeßlich nichtigen Wissens schaudere.

Es giebt aber wohl keinen akademischen Lehrer, der von seinen Zuhörern
sowohl als auch namentlich von der Studentenschaft im allgemeinen seit Jahren
so konsequent mißverstanden worden ist wie Lorenz. Weil er es in den Vor¬
lesungen liebte, sarkastische Bemerkungen über allerlei Personen und Verhält¬
nisse der Gegenwart zu machen, weil er sogar einmal einen kleinen Konflikt
mit der Regierung gehabt hatte, so nahm man bald alles, was er redete, als
modern-liberale, deutsch-nationale Opposition auf und überhörte konsequent die
Bemerkungen, übersah die Handlungen, die mit dieser Annahme garnicht in
Einklang zu bringen weren. Andrerseits wurde das harmloseste Wort, das er
bei irgendeinem öffentlichen Anlasse sprach, im Parteisinne gedeutet, und wir
erinnern uns noch wohl, wie seine Rektoratsrede, die von der Unzulässigkeit
handelte, die Kategorien der aristotelischen Politik auf moderne Verhältnisse zu
übertragen, Beifallstürme entfesselte, die ihn sichtlich überraschten. Davon, daß
dieser Mann mit seinen Meinungen und Überzeugungen nicht so leicht auf eine
jener einfachen Formeln zu bringen sei, mit denen unsre Tagespolitiker allein
zu rechnen gewöhnt sind, hatten die wenigsten eine Ahnung, und die es wußten,
fanden es in ihrem Interesse für passend, davon zu schweigen. Es war also
ausgemacht, daß Lorenz der akademische Vertreter jenes leicht faßlichen, von
der Jugend ohne viel Prüfung angenommenen Glaubensbekenntnisses sei, das
unsre Oppositionsblätter -- wie die "Neue Freie Presse," das "Neue Wiener


Unpolitische Briefe aus ZVien.

Politischen Lebens aus der Sittenlehre herübergenommen, kann Lorenz freilich
nicht folgen, aber dies erkennt er doch im Gegensatz zu einer Schar hochmütiger
Büchermenschen freudig an, daß Schlosser wenigstens nach einem Wertmesser
gesucht hat, „Man hat zuweilen getadelt, ruft er ans, daß Schlosser sich über
manche Personen oder Sachen zu verschieden Zeiten verschieden aussprach —
sicherlich kann man darin mir einen Beweis erblicken, welche gewaltige Gährung
den Urteilen des Mannes voranging und wie er immer bemüht war, den wahren
Wert der Dinge zu erkennen. . . . Wie er von dem Schauplatze der Welt-
begebenheiten in seinem ganzen und tiefsten Innern erfüllt und erschüttert war,
fand er sich keinen Augenblick gleichgiltig und teilnahmlos; indem er sich in das
Ereignis, um es verstehen und darstellen zu können, hineinlebte, empfand er
sich überall als mitwirkender Geist." Mit leisem Spott spricht er von „jenen
Glücklichen, welche sich jahrelanger friedlicher Beschäftigung mit der Geschichte
erfreuten, denen aber niemals die Stunde geschlagen, in welcher sie unruhig
nach den Werten des ganzen geschichtlichen Lebens der Staaten und Menschen
aufblickten." Zu diesen aber gehört Lorenz ebensowenig wie Schlosser, und er
hat als Lehrer sich redlich bemüht, daß die Zahl solcher „Glücklichen" geringer
werde. Denn darin sieht er auch die einzige Zuknnftshoffnung der Geschichts¬
wissenschaft, daß der vielbeschäftigte gebildete Mensch unsrer Tage sich von der
„chronistisch-antiquarischen" Historik mehr und mehr zurückziehe und vor dem
Abgrunde eines den Geist ertötenden, unermeßlich nichtigen Wissens schaudere.

Es giebt aber wohl keinen akademischen Lehrer, der von seinen Zuhörern
sowohl als auch namentlich von der Studentenschaft im allgemeinen seit Jahren
so konsequent mißverstanden worden ist wie Lorenz. Weil er es in den Vor¬
lesungen liebte, sarkastische Bemerkungen über allerlei Personen und Verhält¬
nisse der Gegenwart zu machen, weil er sogar einmal einen kleinen Konflikt
mit der Regierung gehabt hatte, so nahm man bald alles, was er redete, als
modern-liberale, deutsch-nationale Opposition auf und überhörte konsequent die
Bemerkungen, übersah die Handlungen, die mit dieser Annahme garnicht in
Einklang zu bringen weren. Andrerseits wurde das harmloseste Wort, das er
bei irgendeinem öffentlichen Anlasse sprach, im Parteisinne gedeutet, und wir
erinnern uns noch wohl, wie seine Rektoratsrede, die von der Unzulässigkeit
handelte, die Kategorien der aristotelischen Politik auf moderne Verhältnisse zu
übertragen, Beifallstürme entfesselte, die ihn sichtlich überraschten. Davon, daß
dieser Mann mit seinen Meinungen und Überzeugungen nicht so leicht auf eine
jener einfachen Formeln zu bringen sei, mit denen unsre Tagespolitiker allein
zu rechnen gewöhnt sind, hatten die wenigsten eine Ahnung, und die es wußten,
fanden es in ihrem Interesse für passend, davon zu schweigen. Es war also
ausgemacht, daß Lorenz der akademische Vertreter jenes leicht faßlichen, von
der Jugend ohne viel Prüfung angenommenen Glaubensbekenntnisses sei, das
unsre Oppositionsblätter — wie die „Neue Freie Presse," das „Neue Wiener


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[0305] Unpolitische Briefe aus ZVien. Politischen Lebens aus der Sittenlehre herübergenommen, kann Lorenz freilich nicht folgen, aber dies erkennt er doch im Gegensatz zu einer Schar hochmütiger Büchermenschen freudig an, daß Schlosser wenigstens nach einem Wertmesser gesucht hat, „Man hat zuweilen getadelt, ruft er ans, daß Schlosser sich über manche Personen oder Sachen zu verschieden Zeiten verschieden aussprach — sicherlich kann man darin mir einen Beweis erblicken, welche gewaltige Gährung den Urteilen des Mannes voranging und wie er immer bemüht war, den wahren Wert der Dinge zu erkennen. . . . Wie er von dem Schauplatze der Welt- begebenheiten in seinem ganzen und tiefsten Innern erfüllt und erschüttert war, fand er sich keinen Augenblick gleichgiltig und teilnahmlos; indem er sich in das Ereignis, um es verstehen und darstellen zu können, hineinlebte, empfand er sich überall als mitwirkender Geist." Mit leisem Spott spricht er von „jenen Glücklichen, welche sich jahrelanger friedlicher Beschäftigung mit der Geschichte erfreuten, denen aber niemals die Stunde geschlagen, in welcher sie unruhig nach den Werten des ganzen geschichtlichen Lebens der Staaten und Menschen aufblickten." Zu diesen aber gehört Lorenz ebensowenig wie Schlosser, und er hat als Lehrer sich redlich bemüht, daß die Zahl solcher „Glücklichen" geringer werde. Denn darin sieht er auch die einzige Zuknnftshoffnung der Geschichts¬ wissenschaft, daß der vielbeschäftigte gebildete Mensch unsrer Tage sich von der „chronistisch-antiquarischen" Historik mehr und mehr zurückziehe und vor dem Abgrunde eines den Geist ertötenden, unermeßlich nichtigen Wissens schaudere. Es giebt aber wohl keinen akademischen Lehrer, der von seinen Zuhörern sowohl als auch namentlich von der Studentenschaft im allgemeinen seit Jahren so konsequent mißverstanden worden ist wie Lorenz. Weil er es in den Vor¬ lesungen liebte, sarkastische Bemerkungen über allerlei Personen und Verhält¬ nisse der Gegenwart zu machen, weil er sogar einmal einen kleinen Konflikt mit der Regierung gehabt hatte, so nahm man bald alles, was er redete, als modern-liberale, deutsch-nationale Opposition auf und überhörte konsequent die Bemerkungen, übersah die Handlungen, die mit dieser Annahme garnicht in Einklang zu bringen weren. Andrerseits wurde das harmloseste Wort, das er bei irgendeinem öffentlichen Anlasse sprach, im Parteisinne gedeutet, und wir erinnern uns noch wohl, wie seine Rektoratsrede, die von der Unzulässigkeit handelte, die Kategorien der aristotelischen Politik auf moderne Verhältnisse zu übertragen, Beifallstürme entfesselte, die ihn sichtlich überraschten. Davon, daß dieser Mann mit seinen Meinungen und Überzeugungen nicht so leicht auf eine jener einfachen Formeln zu bringen sei, mit denen unsre Tagespolitiker allein zu rechnen gewöhnt sind, hatten die wenigsten eine Ahnung, und die es wußten, fanden es in ihrem Interesse für passend, davon zu schweigen. Es war also ausgemacht, daß Lorenz der akademische Vertreter jenes leicht faßlichen, von der Jugend ohne viel Prüfung angenommenen Glaubensbekenntnisses sei, das unsre Oppositionsblätter — wie die „Neue Freie Presse," das „Neue Wiener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/305>, abgerufen am 22.07.2024.