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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Unpolitische Briefe aus Wien.

von 1862 bald vergessen. Die gelehrten Arbeiten, die er nun über das spätere
Mittelalter folgen ließ -- die "Quellenkunde" und die "Deutsche Geschichte im
dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert," die leider unvollendet geblieben ist --,
haben allgemeine Anerkennung in Fachkreisen gefunden und das Ansehen Lorenzens
auf die Dauer gesichert. Will mau aber recht in die Sinnesart des Mannes
eindringen, so muß man seine "Drei Bücher Geschichte und Politik" aufschlagen
und es sich nicht verdrießen lassen, in den Akademieschriften die Rede aufzusuchen,
die er im Jahre 1877 zur Erinnerung an Friedrich Christoph Schlosser ge¬
halten hat.*) Hier wie dort sind durchaus "aktuelle" Fragen berührt, und wenn
der Fachmann, der alles geringschätzt, was nicht "neuen Quellen" entnommen
ist, für diese köstlichen Blätter nur ein Achselzucken oder eine zweifelhafte An¬
erkennung hat, so kann sich Lorenz darüber trösten, denn jeder, der dem öffent¬
lichen Leben unsrer Zeit nur einigen Anteil entgegenbringt, wird sie zu schätzen
und dankbar zu genießen wissen. Es sind keine Essays im Sinne derjenige"
Macaulays, denn Lorenz vertritt in seinen historischen Schriften niemals eine
bestimmte politische Tendenz. Aber dadurch unterscheidet er sich von der großen
Mehrzahl seiner Berufsgenossen, daß er sich nicht daran genügen läßt, geschicht¬
liche Fakten festzustellen, sondern daß er zu einem Urteil über den Wert der
politischen Bestrebungen jedes Zeitalters zu gelangen sucht. Daß dies zu er¬
reichen kein leichtes Ding sei, weil es sich vor allem darum handelt, den rich¬
tigen Wertmesser festzustellen, giebt er zu, und er beansprucht auch durchaus
nicht, in jedem Falle zu einem Resultat gelangt zu sein. Aber er hat doch un¬
endlich anregend auf eine Reihe von Schülern gewirkt, die sich nach seinem
Beispiel von der antiquarischen Richtung der Geschichtschreibung abgewendet
haben und denen es um das "Entscheidende in der Geschichte" zu thun ist.
In diesem Sinne hat Richard Mähr über Lessing geschrieben, und er ist dabei
vielleicht in jugendlichem Ungestüm weiter gegangen, als es seinem Lehrer
selbst heute geraten erscheint, in diesem Sinne hat derselbe Gelehrte über
die geschichtsphilosophische Auffassung der Neuzeit ein wenig bemerktes, aber
bei manchen Schwächen doch bedeutendes Buch veröffentlicht, in diesem
Sinne endlich hat Fournier neulich erst ein scharfes, aber in der Hauptsache
nur gerechtes Verdikt über Wertheimers "Geschichte von Österreich-Ungarn
im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts" ausgesprochen. In der
Schrift über Schlosser insbesondre hat Lorenz das Programm der neuen Rich¬
tung verkündigt, die allerdings schon vorher von Sybel und Ficker in ihren
Kontroversen über das deutsche Kaisertum praktisch anerkannt worden war und
die auch Lorenz in den "Drei Büchern" -- namentlich in dem ersten "Staat
und Kirche" überschriebenen Teil -- auf konkrete Fälle in mehr oder weniger
gelungener Weise anzuwenden versucht hat. Schlossern, der den Wertmesser des



1378 auch im Scparatabdrmt erschienen.
Unpolitische Briefe aus Wien.

von 1862 bald vergessen. Die gelehrten Arbeiten, die er nun über das spätere
Mittelalter folgen ließ — die „Quellenkunde" und die „Deutsche Geschichte im
dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert," die leider unvollendet geblieben ist —,
haben allgemeine Anerkennung in Fachkreisen gefunden und das Ansehen Lorenzens
auf die Dauer gesichert. Will mau aber recht in die Sinnesart des Mannes
eindringen, so muß man seine „Drei Bücher Geschichte und Politik" aufschlagen
und es sich nicht verdrießen lassen, in den Akademieschriften die Rede aufzusuchen,
die er im Jahre 1877 zur Erinnerung an Friedrich Christoph Schlosser ge¬
halten hat.*) Hier wie dort sind durchaus „aktuelle" Fragen berührt, und wenn
der Fachmann, der alles geringschätzt, was nicht „neuen Quellen" entnommen
ist, für diese köstlichen Blätter nur ein Achselzucken oder eine zweifelhafte An¬
erkennung hat, so kann sich Lorenz darüber trösten, denn jeder, der dem öffent¬
lichen Leben unsrer Zeit nur einigen Anteil entgegenbringt, wird sie zu schätzen
und dankbar zu genießen wissen. Es sind keine Essays im Sinne derjenige»
Macaulays, denn Lorenz vertritt in seinen historischen Schriften niemals eine
bestimmte politische Tendenz. Aber dadurch unterscheidet er sich von der großen
Mehrzahl seiner Berufsgenossen, daß er sich nicht daran genügen läßt, geschicht¬
liche Fakten festzustellen, sondern daß er zu einem Urteil über den Wert der
politischen Bestrebungen jedes Zeitalters zu gelangen sucht. Daß dies zu er¬
reichen kein leichtes Ding sei, weil es sich vor allem darum handelt, den rich¬
tigen Wertmesser festzustellen, giebt er zu, und er beansprucht auch durchaus
nicht, in jedem Falle zu einem Resultat gelangt zu sein. Aber er hat doch un¬
endlich anregend auf eine Reihe von Schülern gewirkt, die sich nach seinem
Beispiel von der antiquarischen Richtung der Geschichtschreibung abgewendet
haben und denen es um das „Entscheidende in der Geschichte" zu thun ist.
In diesem Sinne hat Richard Mähr über Lessing geschrieben, und er ist dabei
vielleicht in jugendlichem Ungestüm weiter gegangen, als es seinem Lehrer
selbst heute geraten erscheint, in diesem Sinne hat derselbe Gelehrte über
die geschichtsphilosophische Auffassung der Neuzeit ein wenig bemerktes, aber
bei manchen Schwächen doch bedeutendes Buch veröffentlicht, in diesem
Sinne endlich hat Fournier neulich erst ein scharfes, aber in der Hauptsache
nur gerechtes Verdikt über Wertheimers „Geschichte von Österreich-Ungarn
im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts" ausgesprochen. In der
Schrift über Schlosser insbesondre hat Lorenz das Programm der neuen Rich¬
tung verkündigt, die allerdings schon vorher von Sybel und Ficker in ihren
Kontroversen über das deutsche Kaisertum praktisch anerkannt worden war und
die auch Lorenz in den „Drei Büchern" — namentlich in dem ersten „Staat
und Kirche" überschriebenen Teil — auf konkrete Fälle in mehr oder weniger
gelungener Weise anzuwenden versucht hat. Schlossern, der den Wertmesser des



1378 auch im Scparatabdrmt erschienen.
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[0304] Unpolitische Briefe aus Wien. von 1862 bald vergessen. Die gelehrten Arbeiten, die er nun über das spätere Mittelalter folgen ließ — die „Quellenkunde" und die „Deutsche Geschichte im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert," die leider unvollendet geblieben ist —, haben allgemeine Anerkennung in Fachkreisen gefunden und das Ansehen Lorenzens auf die Dauer gesichert. Will mau aber recht in die Sinnesart des Mannes eindringen, so muß man seine „Drei Bücher Geschichte und Politik" aufschlagen und es sich nicht verdrießen lassen, in den Akademieschriften die Rede aufzusuchen, die er im Jahre 1877 zur Erinnerung an Friedrich Christoph Schlosser ge¬ halten hat.*) Hier wie dort sind durchaus „aktuelle" Fragen berührt, und wenn der Fachmann, der alles geringschätzt, was nicht „neuen Quellen" entnommen ist, für diese köstlichen Blätter nur ein Achselzucken oder eine zweifelhafte An¬ erkennung hat, so kann sich Lorenz darüber trösten, denn jeder, der dem öffent¬ lichen Leben unsrer Zeit nur einigen Anteil entgegenbringt, wird sie zu schätzen und dankbar zu genießen wissen. Es sind keine Essays im Sinne derjenige» Macaulays, denn Lorenz vertritt in seinen historischen Schriften niemals eine bestimmte politische Tendenz. Aber dadurch unterscheidet er sich von der großen Mehrzahl seiner Berufsgenossen, daß er sich nicht daran genügen läßt, geschicht¬ liche Fakten festzustellen, sondern daß er zu einem Urteil über den Wert der politischen Bestrebungen jedes Zeitalters zu gelangen sucht. Daß dies zu er¬ reichen kein leichtes Ding sei, weil es sich vor allem darum handelt, den rich¬ tigen Wertmesser festzustellen, giebt er zu, und er beansprucht auch durchaus nicht, in jedem Falle zu einem Resultat gelangt zu sein. Aber er hat doch un¬ endlich anregend auf eine Reihe von Schülern gewirkt, die sich nach seinem Beispiel von der antiquarischen Richtung der Geschichtschreibung abgewendet haben und denen es um das „Entscheidende in der Geschichte" zu thun ist. In diesem Sinne hat Richard Mähr über Lessing geschrieben, und er ist dabei vielleicht in jugendlichem Ungestüm weiter gegangen, als es seinem Lehrer selbst heute geraten erscheint, in diesem Sinne hat derselbe Gelehrte über die geschichtsphilosophische Auffassung der Neuzeit ein wenig bemerktes, aber bei manchen Schwächen doch bedeutendes Buch veröffentlicht, in diesem Sinne endlich hat Fournier neulich erst ein scharfes, aber in der Hauptsache nur gerechtes Verdikt über Wertheimers „Geschichte von Österreich-Ungarn im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts" ausgesprochen. In der Schrift über Schlosser insbesondre hat Lorenz das Programm der neuen Rich¬ tung verkündigt, die allerdings schon vorher von Sybel und Ficker in ihren Kontroversen über das deutsche Kaisertum praktisch anerkannt worden war und die auch Lorenz in den „Drei Büchern" — namentlich in dem ersten „Staat und Kirche" überschriebenen Teil — auf konkrete Fälle in mehr oder weniger gelungener Weise anzuwenden versucht hat. Schlossern, der den Wertmesser des 1378 auch im Scparatabdrmt erschienen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/304>, abgerufen am 23.07.2024.